Ohne Bodenhaftung

Nach der Unabhängigkeit Osttimors von Indonesien unternahm die internationale Gemeinschaft eine bis dahin beispiellose Anstrengung, staatliche Strukturen aufzubauen. Oberste Priorität genossen die Verwaltung, der Sicherheitssektor und das Justizsystem. Traditionelle Werte und Autoritäten, die die Gesellschaft des Inselstaats wesentlich prägen, wurden weitgehend außer Acht gelassen. Entstanden ist ein Staat, dessen Regierung weit von der Bevölkerung entfernt ist. Ihr Einfluss reicht kaum über die Hauptstadt Dili hinaus.

Vor gut elf Jahren stimmte die Bevölkerung von Osttimor, der damaligen 27. Provinz Indonesiens, mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit. Mit diesem mutigen Akt brachten die Osttimorer nach 24 Jahren militärischer Besatzung ihre Hartnäckigkeit und ihren politischen Willen zum Ausdruck. Fast ein Viertel der Bevölkerung war dem Besatzungsregime zum Opfer gefallen. Zurück blieben Traumata, tiefe Gräben in der Gesellschaft und ein steiniger Weg zu Gerechtigkeit und Versöhnung. Die Besatzer reagierten hart auf das Unabhängigkeitsvotum: Rund 1.400 Menschen wurden von der indonesischen Armee und einheimischen Milizen ermordet, die für den Verbleib bei Indonesien eintraten. 70 Prozent der wirtschaftlichen Infrastruktur des Landes wurden zerstört und Hunderttausende wurden zur Flucht gezwungen.

Autorin

M. Anne Brown

ist Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften der University of Queensland in Brisbane, Australien.

Ende September 1999 zwang internationaler Druck Indonesien, auf das Gebiet zu verzichten. Angesichts der umfassenden Zerstörungen unternahmen die Vereinten Nationen (UN) eine außergewöhnliche Anstrengung - und ein Experiment -, um einen Staat aufzubauen. Wie nie zuvor in ihrer Geschichte übernahmen sie umfassende Regierungsverantwortung. Die Initiativen zur Aussöhnung und zur Rückführung der Flüchtlinge berücksichtigten wichtige Elemente der timorischen Kultur im Blick auf Versöhnung und Gerechtigkeit. Kaum mehr als zwei Jahre nach dem Rückzug der Indonesier, im Mai 2002, wurde Osttimor formal unabhängig. Das Land hat eine bewegte Dekade hinter sich. In dem sehr armen Land sind die Lebensbedingungen für viele in den zehn Jahren seit der Unabhängigkeit nicht besser geworden; für manche haben sie sich sogar verschlechtert. Die politische Elite ist tief zerstritten. Eine Spaltung in der Armee sowie zwischen der Armee und der Polizei, genährt von politischen Gegensätzen, führte 2006 zum Ausbruch offener Gewalt. Sie gipfelte Anfang 2008 in dem Versuch, den Premierminister und den Präsidenten zu ermorden. Viele Osttimorer wurden erneut traumatisiert - dieses Mal von der Furcht vor politischen Kräften, die ihrem eigenen neuen Staat entstammten. Allgemein sind die Hoffnungen, die das Jahr 2000 geprägt haben, weit verbreiteten Gefühlen der Frustration, Entfremdung und Vorsicht gewichen.

Dennoch ist die Lage derzeit im Wesentlichen ruhig. Die Gewalt hat sich 2006 nicht über das ganze Land ausgebreitet. Die befürchtete Rache für die Gewalttaten vergangener Jahrzehnte ist ausgeblieben, obwohl die Unruhen von 2006 damit in Zusammenhang standen. Mit Ausnahme der politischen Elite scheinen die Menschen in Osttimor im Großen und Ganzen eine bemerkenswerte Fähigkeit zu Vorsicht, Mäßigung und Duldsamkeit zu haben. Einnahmen aus dem Erdölexport und neue Wege der Verteilung haben den Lebensstandard in jüngster Zeit angehoben. Die grundlegende Versorgung mit Lebensmitteln wird dagegen nach wie vor mit Hilfe verwandtschaftlicher Netze gewährleistet.

Osttimor besitzt eine vielschichtige und vielsprachige Gesellschaft. Sie beruht auf einer Subsistenzwirtschaft, die in ein dichtes Netzwerk lokaler Kulturen gebettet ist, die nie zuvor einen Staat gebildet haben. Zwischen diesen Kulturen und den Gesellschafts- und Wirtschaftsmodellen westlicher Staaten liegen Welten. Überlieferte Weltbilder und Sozialbeziehungen prägen das Leben der meisten Osttimorer. Die lokale Kultur ist das nicht anerkannte Fundament, auf dem der Staat errichtet wurde. Besonders in ländlichen Gegenden, in denen 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung oft unter harten Bedingungen von Subsistenzlandwirtschaft leben, halten lokale traditionelle Autoritäten die soziale Alltagsordnung aufrecht. Sie gewährleisten Wohlfahrt und Sicherheit und treffen viele der Entscheidungen über Ressourcen- und Landnutzung, Streitschlichtung, Rechtsprechung und Strafverfolgung.

Auf Distriktebene gibt es zwar hier und da Polizei, aber laut Umfragen verlässt sich die große Mehrheit der Bevölkerung, selbst in den Städten, auf Clanchefs, Dorfvorsteher oder einfach Älteste als die wesentlichen Garanten von Sicherheit und Recht. Die traditionellen Ordnungen sind hierarchisch und patriarchalisch, aber sie sind auch pragmatisch, flexibel und zugänglich. Beratung und Konsensfindung sind hoch geschätzt und die Menschen verlassen sich darauf. Traditionell spielt sich das Leben im Rahmen miteinander verknüpfter Verwandtschaftsnetzwerke ab - „uma" oder Häuser, die eng an bestimmte Orte und gemeinsame Vorfahren gebunden sind. „Uma" umfassen das menschliche Reich, aber auch die Natur und die spirituelle Ebene, denen ein weit zurückliegender, gemeinsamer Ursprung zugesprochen wird. Diese Einheit findet ihren Ausdruck in den „uma lulik" den heiligen oder geheimen Häusern, in denen die Präsenz der Vorfahren am stärksten ist und auf denen die Sittlichkeit, die sozialen Beziehungen und die heiligsten Pflichten des Einzelnen gründen. Vorfahren bleiben ein lebendiger Bestandteil der Gemeinschaft des Hauses. Ein führender Repräsentant der Tradition und des Widerstandes hat gesagt, für die Menschen in Osttimor beginnt Gemeinschaft mit denen, die gestorben sind. Dies ist besonders wichtig in einer Gesellschaft, die sich mit dem Verlust vieler Menschenleben auseinandersetzen muss.

Traditionelle Werte prägen das Familienleben und berühren viele Bereiche, die den Menschen wichtig sind - ein Gefühl von Sinnhaftigkeit, Identität, Moral. Clans sind durch wechselseitige Pflichten miteinander verbunden, so dass die Timorer in Netze von Beziehungen, Verpflichtungen, Rechten und Kräften eingebettet sind - Kräfte, von denen sie glauben, dass sie bis tief in die Welt der Natur und des „Unsichtbaren" reichen. Von den Vorfahren verflucht zu werden, ist eine Bedrohung, die ernst genommen und mehr gefürchtet wird als das Gefängnis. Die Macht der Vorfahren bleibt ein potenzieller, wenn auch verborgener Schutzschirm. Darauf berief sich auch Premierminister Xanana Gusmao, um zu erklären, warum das Attentat gegen ihn scheiterte.

Selbst im städtischen Leben der Hauptstadt bleibt „uma" ein Teil der Identität und der Gemeinschaft. Ein städtischer Mitarbeiter der Kirche hat dieses sehr katholische Land so beschrieben: „Lange bevor das Christentum kam, hatten wir einen Platz, ein Haus und einen Namen. Als das Christentum kam, lebte es von diesem Haus." Die Demokratie wird begrüßt als ein Bestandteil der Unabhängigkeit - auch wenn viele sie nicht begreifen. In ländlichen Gegenden fürchten die Menschen, dass Führer, die nicht durch die Autorität der Vorfahren legitimiert sind, dem Gemeinwesen Unheil bringen. Neugewählte Dorfvorsteher sind deshalb oft bereits durch ihre Abstammung legitimiert oder haben den Segen derjenigen, die Autorität genießen.

Das Brauchtum hat den Gemeinschaften geholfen, harte Zeiten und häufige Hungersnöte durchzustehen. Die Kommunikation und die Loyalitätsnetzwerke auf der Basis von Verwandtschaftsbeziehungen haben im Widerstand eine wesentliche Rolle gespielt. Das indonesische Militär hat wichtige Bereiche des kulturellen Lebens unterdrückt, Gemeinschaften aus den Bergen in leichter zu überwachende „Schwerpunkte" verpflanzt und die Versammlungen verboten, die für Rituale und für Vereinbarungen über lokale Angelegenheiten nötig sind. Viele „umas lulik" wurden zerstört. Sie wieder aufzubauen war das erste, was viele Timorer nach dem Rückzug der Indonesier wollten. Sorgfältig platzierten sie in der innersten Kammer die vielen kleinen Gegenstände, die den Vorfahren des Hauses gehören und die sie während der 24-jährigen Besetzung und Vertreibung mitgenommen, versteckt, beschützt und ergänzt hatten.

Zum Teil als Reaktion auf das Ausmaß der Zerstörung und die Unerfahrenheit der Einheimischen mit den Aufgaben öffentlicher Verwaltung, sahen die internationale Gemeinschaft und die aus der Diaspora Zurückgekehrten in den Worten eines gemeinsamen Länderberichts von 2000 ihre Aufgabe darin, „bei nahezu Null anfangend eine neue Nation aufzubauen". Sie beabsichtigten nichts Geringeres als „die Rolle, Struktur, Dynamik und Zukunft des neuen Staates zu bestimmen". Dieser musste schnell errichtet werden, um einer unabhängigen Regierung Raum zu schaffen. Praktisch und politisch ging es bei diesem Aufbau darum, eine Verwaltung zu schaffen, die sich mit Finanzen und öffentlichen Dienstleistungen befassen sollte, sowie ein Justizsystem, einen Sicherheitssektor und ein Wahlsystem. Die Betonung auf den Aufbau von Institutionen führte dazu, dass die internationale Aufmerksamkeit sich stark auf die Hauptstadt Dili konzentrierte. Das Erfolgskriterium für den Staatsaufbau war, wie so oft, die Abhaltung von freien und fairen Wahlen.

Dieses Vorgehen zog schwerwiegende Probleme nach sich. Schnell schusterte man den stets latent explosiven Sicherheitsbereich aus Militär und Polizei zusammen - mit katastrophalen Folgen, wie der Gewaltausbruch von 2006 zeigte. Noch mehr langfristige Schwierigkeiten birgt aber möglicherweise die starke Zentralisierung des Staats in Osttimor und die Vernachlässigung bereits existierender Formen politischer und gesellschaftlicher Autorität und Ordnung - also der Werte und Traditionen der Bevölkerungsmehrheit - als eines authentischen Bestandteils des politischen Lebens. Man hatte Osttimor als sogenannte „tabula rasa" betrachtet. Die internationale Gemeinschaft verwechselte das Fehlen erkennbarer staatlicher Institutionen - zweifellos ein wichtiges Merkmal - mit dem Fehlen eines politischen Gemeinwesens.

Die internationalen Institutionen zeigten zwar Respekt für den Drang der Menschen in Osttimor nach Unabhängigkeit, aber als Mitglieder eines politischen Gemeinwesens wurden sie behandelt wie „leere Gefäße", die darauf warten, gefüllt zu werden. Viele Angehörige der Elite, die oft ein erzwungenes Exil hinter sich hatten und einen „modernen" Staat haben wollten, verinnerlichten diese Ziele und betrachteten ihre eigenen Landsleute als „rückständig". Die Traditionen wurden kaum beachtet, allenfalls als ein Hindernis für die Verbreitung liberaler Wertvorstellungen. Man nahm die materiellen und sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung ernst, als Quelle von Werten oder Ideen jedoch war sie unsichtbar. So bezogen weder die UN noch die einheimische Elite die Bevölkerungsmehrheit in die Debatte ein, welcher Art der Staat eigentlich sein sollte, dem sie angehören würden. Regierungsinstitutionen wurden eingerichtet mit wenig Bezug zu den tatsächlichen Wertvorstellungen der meisten Menschen.

Die Aufmerksamkeit der Geber konzentrierte sich auf die Architektur des Staatsgebäudes. Dessen Institutionen sind jedoch kaum in der Lage, ihren Einfluss über Dili hinaus geltend zu machen. Es gibt keinen direkten Kanal, über den eine Dorfverwaltung mit der Zentralregierung in Kontakt treten könnte. Zu manchen Fragen finden Konsultationen statt, aber alternative Sichtweisen auf das Gemeinschaftsleben kommen kaum zur Sprache. Die Folge sind tiefe Gräben zwischen der Regierung und den gesellschaftlichen Gruppen sowie zwischen der Hauptstadt und den ländlichen Gegenden. Die Methoden des Staatsaufbaus in Osttimor waren weitgehend technokratisch. In einer mechanistischen Auffassung vom Gemeinschaftsleben sah man den Staat als etwas, das geliefert werden kann wie ein Produkt - von Experten zusammengesetzt, ohne Verankerung im tatsächlichen Leben.

Was ist aus den Erfahrungen in Osttimor zu lernen? Vielleicht, dass wir uns der Herausforderung, beim Aufbau eines Staates helfen zu wollen, mit mehr Bescheidenheit nähern sollten. Wir sollten mehr Zeit, mehr Bereitschaft zum Zuhören und mehr Sensibilität und Respekt für das Andersartige mitbringen. Wir sollten uns bewusst sein, dass Regierungsstrukturen Bezug haben müssen zu dem, was den Menschen wichtig ist, auch wenn wir es dadurch in Frage stellen. Und wir müssen von Beginn an anerkennen, dass die langsamen, unordentlichen und nicht immer vorhersehbaren Prozesse von Kommunikation und Teilhabe für den Staatsaufbau entscheidend sind.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2010: Staatsaufbau - Alles nur Fassade?
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