Weniger Reißbrett, mehr Fantasie

In den Ländern des Südens orientieren sich Stadtplaner
oft an Modellen aus den reichen Ländern. Sie sollten besser auf die Bewohner ihrer eigenen Städte hören.

Die europäische Stadtplanung knüpft seit ihren Anfängen an die Praxis aus dem Mittelalter, zuweilen auch aus der Antike, an. Zudem ließen sich Stadtplaner in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Utopien aus dem 19. Jahrhundert inspirieren. Auf welchen Vorrat an Konzepten, Ideen und Visionen aber greifen Planer in Asien, Lateinamerika und Afrika zurück? Stehen sie noch ganz im Bann ihrer kolonialen und postkolonialen Lehrmeister oder haben sie eigene, ihrer  Kultur angepasste Maßstäbe und Ideen entwickelt?

In Asien sind viele alte, auch städtische Hochkulturen entstanden. Auf dem indischen Subkontinent gibt es sie, die großartigen vorkolonialen Städte etwa in Rajasthan. Aber sie haben die indischen Stadtplaner nicht inspiriert. Für sie sind kolonial geprägte Städte wie Mumbai und die Ideen der internationalen Moderne wichtigere Anknüpfungspunkte.

Es ist symptomatisch, dass die erste neugegründete Stadt nach der Unabhängigkeit, Chandigarh nahe der pakistanischen Grenze, Anfang der 1950er Jahre im Auftrag der indischen Regierung von Le Corbusier entworfen wurde, einem der bekanntesten Vertreter der westlichen Moderne im Städtebau. Erst nach Fertigstellung der ersten Wohnblocks erwies sich, dass die Stadt vollkommen an den Bedürfnissen ihrer Bewohner vorbei geplant war. Die Planer und Architekten hatten sich weder um Familienzusammenhänge in der indischen Kastengesellschaft noch um Alltagsroutinen im Wohnviertel gekümmert, etwa um die Frage, wie in Indien Mahlzeiten zubereitet werden.

Autor

Einhard Schmidt-Kallert

war bis zu seinem Ruhestand Professor und Leiter des Fachgebiets Raum­planung in Entwicklungsländern an der  TU Dortmund. In den letzten Jahren hat er zeitweilig als Gastdozent in Tansania, den Philippinen und dem Nordirak gearbeitet. 
Aber es herrschte auch Aufbruchstimmung unter asiatischen Planern in der postkolonialen Phase – wie in Malaysia, wo ich Anfang der 1970er Jahre Entwicklungshelfer in der Planungsbehörde war. Die ungleiche Entwicklung zwischen Stadt und Land und die ungleichen Chancen für die Angehörigen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Landes trieben politisch engagierte Intellektuelle damals um.  Ein engagiertes Team junger Stadtplaner leitete daraus eine Forderung an die eigene Zunft ab: Eine in die Zukunft weisende Raumplanung müsse die als rückständig betrachtete überwiegend malaiische Dorfbevölkerung urbanisieren.

Und so wurden auf dem Reißbrett in bis dahin von Urwald bedeckten Landesteilen Neusiedlerstädte entworfen. Im Kern waren dies Agrostädte, deren Einwohnern der Staat frischgerodete Kautschuk- und Ölpalm-Flächen zur Bewirtschaftung zur Verfügung stellte. Aber anders als die malaiischen Dörfer sollten diese neuen Städte von vornherein mit Infrastruktur wie Oberschulen, Berufskollegs und Krankenhäusern ausgestattet sein; für die spätere Ansiedlung von Industrie wurden Flächen ausgewiesen.

Traditionelle Baukulturen werden meist erst endteckt, wenn es schon fast zu spät ist

Was ist knapp 40 Jahre später aus diesem ambitionierten Programm geworden? Die Städte seien wie geplant mit allen Einrichtungen gebaut worden und funktionierten gut, sagte mir unlängst ein Kollege von damals. Nur seien sie ein wenig langweilig, und es habe sich weniger Industrie angesiedelt als erhofft. Die Kinder der ursprünglichen Siedler wandern deshalb nach ihrem Schulabschluss so schnell wie möglich in die Zentren an der Westküste wie Kuala Lumpur oder Penang ab. Fazit: Es ist ein schöner, aber unerreichbarer Traum geblieben, mit der Gründung neuer urbaner Zentren den Gegensatz zwischen Stadt und Land zu überwinden.

China hat in den vergangenen 30 Jahren einen in der Menschheitsgeschichte vorher nie da gewesenen Urbanisierungsschub durchlebt und ist zugleich ein Land mit einer alten städtebaulichen Tradition. Aber die Art und Weise, wie in Guangzhou, Chongqing und vielen anderen Megastädten über Jahrhunderte gewachsene Wohnquartiere, in Peking die legendären Hutongs, gesichtslosen Hochhausblöcken Platz machen mussten, spricht nicht für historisches Bewusstsein unter Stadtplanern.

Nach eigenen, chinesischen Wegen im Städtebau muss man denn auch lange suchen. Da passt die Idee des früheren Schanghaier Oberbürgermeisters ins Bild, europäische Planungsbüros einen Ring von neun Satellitenstädten rund um Schanghai entwerfen zu lassen. Dazu zählen Thames-Town, im Tudor-Stil von britischen Planern entworfen, und Anting beziehungsweise German Town, das ein bekanntes deutsches Planungsbüro als erste chinesische Öko-stadt konzipiert hat. Anting hat bis heute nicht die geplante Größe erreicht: Zu teuer, zu ungewöhnlich erscheinen potenziellen Hauskäufern die aufwendigen Recyclinganlagen und die mehrfach verglasten Fenster. Das Konzept sei zu früh gekommen, zu früh für ein Land, in dem das Umweltbewusstsein erst ganz allmählich erwache, meinen Fachleute.

Erst spät, fast zu spät, regte sich unter Planern, Architekten und zivilgesellschaftlichen Organisationen Protest gegen den Abriss der letzten Hutongs in Peking. Mit der Wiederentdeckung der traditionellen Baukultur traten auch die besonderen Qualitäten dieser Wohngebiete für das soziale Leben im Viertel und für das Leben in Mehrgenerationen-Haushalten stärker ins Blickfeld der Planer.

Und jüngere chinesische Stadtplaner wollen keineswegs mehr nur die westliche Moderne kopieren. Das Interesse an der eigenen Städtebaugeschichte ist neu erwacht, genauso wie die Neugier auf Erfahrungen mit nachhaltigem Städtebau und „Smart Cities“. Zugleich hat die Debatte um Chinas künftigen Kurs in der Urbanisierung – mehr Megastädte oder eher Förderung von mittelgroßen Städten? – höchste Parteikader erreicht. Zu den besonderen Herausforderungen Chinas gehört es, menschenwürdigen Wohnraum für die 250 Millionen Wanderarbeiter in den großen Städten bereitzustellen.###Seite2###

Lateinamerika kennt so gut wie keine Siedlungskontinuität seit der vorkolonialen Zeit. Alle Metropolen sowie Klein- und Mittelstädte sind aus kolonialen Gründungen entstanden, die nach einem spanisch-portugiesischen Renaissance-Grundriss angelegt waren. Daran orientiert sich der Städtebau auf dem Kontinent bis heute. Überall, von Mexiko bis Chile, entstehen Neubausiedlungen für die Mittelschicht, die überwiegend einem wenig phantasievollen schachbrettartigen Straßenmuster folgen.

Brasília, eine der ersten nachkolonialen Stadtgründungen auf der Südhalbkugel, ist anders, verbindet repräsentative Sichtachsen mit Respekt für die Topographie. Aber die Planung von Brasília war Teil der globalen Moderne, sie hat einer eigenständigen lateinamerikanischen Stadtbaukultur keine Impulse gegeben.

Viel wichtiger für Stadtentwicklung auf dem Kontinent sind die unzähligen informellen Siedlungen, der Gestaltungswille der Erbauer und Bewohner der Barrios von Caracas und der Favelas von Rio. Der englische Architekt John Turner beschrieb vor 40 Jahren – zugegebenermaßen in etwas sozialromantischer Verklärung – die enge Verbindung zwischen unmittelbaren Wohnbedürfnissen einer Familie, Architektur und Städtebau als besondere Qualitäten des Selbstbaus in diesen informellen Siedlungen. Das gilt auch heute noch. Es ist sicher kein Zufall, dass es in Rio für Angehörige der Mittelschicht schick geworden ist, in (modernisierte und legalisierte) Favelas zu ziehen.

Afrika ist der am wenigsten urbanisierte Kontinent der Erde, hat aber heute einige Städte mit zweistelligen jährlichen Wachstumsraten. Ein aufschlussreiches Beispiel für Stadtentwicklung ist Bahir Dar, eine schnell wachsende Stadt am Tana-See im äthiopischen Hochland, heute die drittgrößte Metropole des Landes. Eine großzügig angelegte Allee mit hohen, Schatten spendenden Bäumen führt von Süden nach Norden in gerader Achse auf den Tana-See zu. Banken, ein paar Textilkaufhäuser, Autohäuser, Restaurants, hier und da ein Internet-Café säumen die Prachtstraße des Ortes. Die Gebäude sind nichts Besonderes, wie überall in schnell wachsenden Städten in Afrika dominieren mehrstöckige Geschäftshäuser in Stahlskelettbauweise, die architektonischen Formen bleiben nicht im Gedächtnis.

Die Lage der Stadt am größten See des äthiopischen Hochlandes hat von Generation zu Generation immer wieder politische Visionäre, Utopisten und Planer beflügelt. Als Italien 1936 Äthiopien eroberte, war Bahir Dar eine wichtige Etappe. Die Militärverwaltung ließ sogleich einen ersten Stadtentwicklungsplan ausarbeiten. Anfang der 1950er Jahre plante Kaiser Haile Selassie, die Hauptstadt des Landes von Addis Abeba nach Bahir Dar zu verlegen. Diese Idee wurde bald begraben, und 1960 sollte der  deutsche Stadtplaner Max Guther  einen bescheideneren Stadtentwicklungsplan für ein modernes Bahir Dar entwerfen. Auch dieser Plan ist lange vergessen. Vor vier Jahren erhielt ein kanadisches Planungsbüro den Auftrag, ein neues Entwicklungskonzept für Bahir Dar vorzubereiten. Diesmal wollten die Planer ihre Ideen nicht nur am Reißbrett, sondern im Dialog mit der Bevölkerung ausarbeiten.

Die hochfliegenden Pläne haben in der Wirklichkeit nur wenige Spuren hinterlassen. Denn afrikanische Städte entwickeln sich anders. Man braucht nur von der asphaltierten Allee in eine der unbefestigten Nebenstraßen oder einen der Trampelpfade einzubiegen. Kaum 30 Meter hinter den gepflegten Fassaden beginnt das andere Bahir Dar, die Stadt der Zuwanderer aus den Dörfern.

Die Bewohner informeller Siedlungen pflegen einen hybriden Lebensstil

Auf den ersten Blick erscheinen diese Stadtviertel wie ein planloses Gewirr aus eingeschossigen Lehmhäusern, mehrstöckigen Mietshäusern aus Zementblöcken und kleinen Werkstätten. Zwischen den Schlaglöchern und den Pfützen, die der letzte Regen hinterlassen hat, spielen Kleinkinder, laufen Schulkinder zum Unterricht, treiben Männer und Frauen ihre mit Feuerholz und anderen Lasten schwer bepackten Maulesel an und bahnen sich ihren Weg zwischen Ziegen, Hühnern und anderem Vieh. In den schmalen Lücken zwischen den Häusern haben die Bewohner Gemüsebeete angelegt und Obstbäume gepflanzt. In Wirklichkeit geschieht auch hier nichts ohne Plan. Aber der hat wenig mit den Konzepten  der Stadtplaner zu tun, er entwickelt sich in den Köpfen der Menschen, die aus dem Dorf kommen, Arbeit gesucht haben, mit Glück ihre Nische gefunden haben und sich nun in ihrem Viertel einrichten.

So treffen wir auch hier, wie fast überall in den Ländern des globalen Südens auf den Dualismus zwischen formeller Stadtplanung und informeller Stadtentwicklung an den Rändern und in den Nischen der geplanten Stadt. Einige Beobachter  haben die informellen Siedlungen einfach als Dörfer in der Stadt beschrieben, in die die Dorfbewohner ihren Lebensstil und ihre Art, Häuser zu bauen und Siedlungen anzulegen, mitgebracht haben.

Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die informellen Siedlungen in Bahir Dar sehen anders aus als die Dörfer im äthiopischen Hochland. Sie sind dichter, kompakter. In Wahrheit haben die Bewohner informeller Siedlungen einen hybriden Lebensstil entwickelt, der Elemente des Städtischen mit dem Ländlichen verbindet. Und dazu gehört auch eine ganz neue Form von Städtebau. Das ist häufig provisorisch, nicht immer langlebig und zukunftsfähig. Aber er entspricht den Bedürfnissen der Bewohner.
Daraus ergibt sich die wichtigste Anforderung an gute, zukunftsfähige Stadtplanung in den Ländern des globalen Südens: Sie muss die Bedürfnisse aller Stadtbewohner, der Mittelschicht wie der städtischen Armen in den informellen Siedlungen, in ein gesamtstädtisches Konzept integrieren.

 

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erschienen in Ausgabe 2 / 2015: Wohnen: Alle ab ins Hochhaus?
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