Ein Land und seine Widersprüche

Wer wagt es, Indien in seiner Vielfalt differenziert und genau darzustellen? Dem Ökonomen und Nobelpreisträger Amartya Sen und dem Sozialaktivisten Jean Drèze ist dieser Versuch gelungen.

Sie beschreiben die gesellschaftliche Entwicklung des Landes seit seiner Unabhängigkeit bis 2012. Im Vorwort geben sie die Gewichtung vor, nämlich dass sie „das Leben, die Bedürfnisse, Rechte und Forderungen unterprivilegierter Menschen stärker in den Fokus der öffentlichen Debatte, politischer Entscheidungen und demokratischer Politik“ rücken wollen. Dies geschieht mit Hilfe einer nüchternen Analyse von Statistiken, mit vorsichtigem Differenzieren und Abwägen. Zugleich scheuen die Autoren nicht vor klaren Urteilen zurück.

Indien ist oft Zielscheibe einer Berichterstattung, die die Armut des Landes mit Hilfe von plakativen Fotos und exzessiver Sprache aus dem sozialen Zusammenhang reißt und zur Sensation stilisiert. Das Material, das Drèze und Sen vorstellen, ist sachlich und ausgewogen. Es beeindruckt tiefer als jede Sensationsmache. Wie stark falsche Entscheidungen vor allem in der Bildung und im Gesundheitswesen die Entwicklung Indiens gebremst haben, wird anhand von Vergleichen mit China und den übrigen Schwellenländern deutlich. Sogar verglichen mit den armen Nachbarn Nepal und Bangladesch schneidet Indien schlecht ab. Denn der indische Staat hatte das Erziehungs- und Gesundheitswesen nicht von Anfang an auf eine solide Grundlage gestellt und scheut – bis heute – angemessen hohe Investitionen dort.

Die Autoren lassen sich nicht blenden vom hohen Wachstum der indischen Wirtschaft, das die Regierung als Erfolg verkündet. Ihre Untersuchungen zeigen, dass die Armen nicht davon profitieren, und so lassen sie ein nachdrückliches Plädoyer für mehr soziale Gerechtigkeit folgen. Bestimmte Themen des sozialen Lebens laufen wie rote Fäden durch die Kapitel, darunter die Arbeit der Justiz, das oft spannungsreiche Zusammenleben der Kasten und der Glaubensgemeinschaften, die (In-)Effizienz demokratischer Normen, die relativen Nach- und Vorteile der privaten im Vergleich zur staatlichen Wirtschaft, der (Miss-)Erfolg groß angelegter staatlicher Maßnahmen zur Armutsbekämpfung.

Dagegen sind andere Bereiche ausgeblendet, etwa die Kulturpolitik, eine Bewertung der Arbeit der großen politischen Parteien und die Familienplanung sowie der Umweltschutz. Gerade die beiden letzten hätten ein eigenes Kapitel verdient, sind beide doch dicht verwoben mit der Gesamtsituation des Landes.     

Dennoch: Man wünscht sich diese Studie in der Hand aller staatlichen und privaten Entwicklungsorganisationen. Aber auch Unternehmen, die mit Indien Handel treiben und alle ernsthaften Indienfahrer und Indienfreunde brauchen dieses Buch dringend.

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