Libyen: Kein Staat in Sicht

In Libyen geht nichts voran zwei Jahre nach der Revolution – weder beim Aufbau der Wirtschaft noch beim politischen Neustart. Milizen haben das Sagen, die Polizei ist machtlos, das Parlament hat noch immer keine Verfassungskommission eingesetzt. Die Bürger verlieren allmählich die Geduld.

Jetzt also auch die Hauptstadt. Lange schien vor allem Bengasi, die Wiege der libyschen Revolution des 17. Februar, von Gewaltausbrüchen betroffen, aber seit Ende April ein Bombenanschlag auf die französische Botschaft verübt wurde und bewaffnete Milizen mehrere Ministerien besetzten, hat sich auch in Tripolis die Atmosphäre verändert. „Die Waffen sind unser einziges Problem“, sagt ein junger Familienvater. Die Sicherheit ist das beherrschende Thema. Vor allem Ausländer haben ihren Bewegungsradius eingeschränkt. Die Libyer gehen insbesondere nachts kaum mehr auf die Straße.

Autorin

Astrid Frefel

ist freie Journalistin in Kairo. Sie schreibt seit 1999 über die arabische Welt, hauptsächlich für Medien in der Schweiz und Österreich.

An öffentlichen Gebäuden hängen Schilder, die den Zutritt mit Waffen verbieten. Im Alltag sind die sichtbaren Waffen deutlich weniger geworden, Sicherheitskräfte tragen sie weniger offen, sogar am Flughafen. Aber sie sind da. Viele Libyer geben offen zu, dass sie immer noch welche zu Hause haben. Auf dem Schwarzmarkt sei für 15 Dinar (etwa zehn Euro) der Sprengkopf eines Granatwerfers zu haben, weiß ein libyscher Geschäftsmann.

Es gebe Fortschritte und dann aber auch wieder schwere Rückschläge, meint der Familienvater. Als Beweis für den Fortschritt nennt er die Fußballspiele mit Mannschaften aus dem Ausland, die seit kurzem wieder stattfinden dürfen, und die eigene Liga, die im September nach zwei Jahren ihren Spielbetrieb wieder aufgenommen hat. Wie groß Begeisterung und Erleichterung sind, zeigte sich kürzlich beim WM-Qualifikationsspiel gegen Togo. Libyen gewann, die Folge war stundenlanges Freudenfeuer aus Waffen in ganz Tripolis, und die Sicherheitskräfte lobten sich überschwänglich selbst für eine reibungslose Veranstaltung mit Zehntausenden Zuschauern.

Die größte Gefahr droht weiterhin von den bewaffneten Gruppen. Sie sind im Straßenbild zwar weniger präsent, aber es gibt sie immer noch. Ein simpler Verkehrsunfall kann in eine Schießerei ausarten. Das Risiko sei hoch; es bestehe immer die Gefahr, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein, lautet die Einschätzung eines ausländischen Finanzexperten, der seit mehreren Jahren in Tripolis lebt. Passiert etwas, ist nicht klar, wer zuständig ist. „Du musst zu den Milizen aus Misrata oder aus Zintan, jede Gegend wird von einer anderen Gruppe kontrolliert“, weiß der Geschäftsmann aus eigener Erfahrung. Aus Angst vor Entführungen will er seinen Namen nicht geschrieben sehen.

Die Milizen führen weitgehend ein Eigenleben

Die reguläre Polizei ist zwar auf der Straße, tut aber nichts oder ist machtlos. Im Stadtteil Gargaresh mussten Milizen eingreifen, als die Kriminalpolizei mit den Drogen- und Alkoholhändlern nicht fertig wurde, die die lokale Bevölkerung und Geschäftsinhaber terrorisierten. Der Sicherheitssektor ist ein Flickenteppich, der sich über das ganze Land erstreckt. Schon die Wortwahl der Regierung sei verräterisch, meint Hisham Krekshi, bis vor kurzem stellvertretender Vorsitzender des Stadtrates von Tripolis. Einmal spreche der Premierminister von Milizen, dann wieder von Revolutionären.

Offiziell sind die unzähligen bewaffneten Milizen, die sich während und nach dem Krieg im Jahr 2011 gebildet haben, in das Innen- oder das Verteidigungsministerium integriert; tatsächlich führen sie aber weitgehend ein Eigenleben. Sie stehen nicht im Dienst der Bürger oder des Landes, sondern verfolgen ihre eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen. Es gilt das Gesetz der Macht und nicht die Macht des Gesetzes.

Wie weit das geht, hat sich im zurückliegenden Sommer gezeigt, als in Tripolis schwer bewaffnete Gruppen das Parlament, den Nationalkongress und mehrere Ministerien besetzt hielten. Sie wichen nicht eher von der Stelle, bis die vom Volk gewählten Abgeordneten ihre Forderungen erfüllt und ein Gesetz verabschiedet hatten, das Funktionäre aus der 42-jährigen Gaddafi-Ära pauschal und ausnahmslos von politischen Ämtern und Regierungsfunktionen ausschließt.

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In der Bevölkerung steigt der Frust über die Milizen. Auf dem zentralen Märtyrerplatz hängen riesige Transparente zur Unterstützung der legitimen staatlichen Organe. Es gab auch Demonstrationen, die in Bengasi in blutige Zusammenstöße zwischen Gegnern der Milizen und einer einflussreichen Brigade ausarteten. Über 30 Menschen starben.

Der Einfluss der Milizen ist ein wichtiger Grund dafür, dass die politische Transformation in Libyen nur im Schneckentempo vorankommt. Es ist aber nicht der einzige Grund. Im Sommer des letzten Jahres haben die Libyer nach mehr als 40 Jahren Diktatur erstmals frei gewählt. Die 200 Abgeordneten profilieren sich seither aber vor allem in Machtkämpfen. Die Arbeit an der Verfassung hat noch nicht einmal begonnen.

„Ohne Verfassung geht nichts vorwärts“

Wenige Autominuten vom Zentrum von Tripolis entfernt erstreckt sich ein mehrere Quadratkilometer großes Trümmerfeld: Bab al-Aziziya, einst Militärkomplex und Schaltzentrale Gaddafis. Hier veranstalteten Tausende Libyer nach dem Fall der Hauptstadt Freudenfeiern, ließen aber auch ihrer Zerstörungswut freien Lauf. Altstoffhändler haben in der Zwischenzeit weggetragen, was noch zu gebrauchen war. Die Behörden haben zugesehen und die Mondlandschaft stehen lassen, bis einige verärgerte Einwohner selbst mit großen Baumaschinen Hand anlegen wollten, um diesen Schandfleck im Stadtbild zu beseitigen. Jetzt will die Stadt den versprochenen Park endlich einrichten.

Hisham Krekshi hat das Handtuch geworfen. Das Mitglied einer bekannten Unternehmerfamilie ist im Sommer von seinem Posten als stellvertretender Vorsitzender des Stadtrates von Tripolis zurückgetreten. „Ich lasse mich nicht zum Sündenbock stempeln“, sagte er kurz danach empört. Regierungschef Ali Zidan hatte sich öffentlich beklagt, Tripolis sei schmutzig, und den Stadtrat dafür verantwortlich gemacht. Der ist aber für die Reinigung gar nicht zuständig, sondern das Ministerium für Lokalverwaltung. Zwei Jahre nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes haben die Gemeinden immer noch kein richtiges Budget, sondern nur eine Art Notgroschen. „So kann eine Stadt nicht funktionieren“, schimpft Krekshi, der sich jetzt wieder mehr Zeit für seine Geschäfte nimmt.

Der Streit zwischen den Kommunen und der Zentralregierung ist eine Folge des schleppenden Aufbaus neuer demokratischer Strukturen. Solange es keine gewählten Stadträte gibt – was nur in Bengasi der Fall ist –, erhalten die Lokalverwaltungen kein ordentliches Budget. Bis solche Wahlen abgehalten werden, kann es allerdings noch dauern. Vor allem gibt es noch keine Gemeindegrenzen, dafür viele regionale Unstimmigkeiten, wo diese Grenzen verlaufen sollen. „Unter Gaddafi gab es nur das Grüne Buch, sonst nichts“, erklärt ein libyscher Journalist. Das „Grüne Buch“ war ein krudes Machwerk aus der Feder des Diktators, in dem er seine Idee eines Staates formulierte, der auf allen politischen Ebenen von sogenannten Volkskomitees regiert wird. Eigentliche staatliche Strukturen gab es nicht. Deshalb wäre es so wichtig, dass eine Verfassung ausgearbeitet wird.

Im Sommer des vergangenen Jahres wurde der Nationalkongress gewählt, der hat es bisher aber noch nicht geschafft, die 60-köpfige Verfassungskommission zu installieren. „Ohne Verfassung geht nichts vorwärts“, sagt Hisham Krekshi, der Mitglied der Muslimbrüder ist. Der Kongress hat sich bisher vor allem durch Machtkämpfe und handwerklich zum Teil schlecht gemachte Gesetze ausgezeichnet. Auf der einen Seite stehen jene Kräfte, die für sich in Anspruch nehmen, die Revolution zu vertreten. Zu ihnen zählen vor allem Islamisten aller Schattierungen. Ihnen gegenüber steht ein heterogenes Lager aus bereits etablierten konservativen und moderaten Abgeordneten. Wobei die Grenzen nicht immer scharf gezogen sind. „Sie kämpfen um Dinge, die noch gar nicht existieren. Es gibt noch keinen Staat und keine Institutionen“, kritisiert der Direktor eines neuen Fernsehsenders die zeitraubenden Machtkämpfe.

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Vor allem Frauen und die Vertreter der ethnischen Minderheiten wie der Amazigh (Berber) und der Tabu – ein afrikanischer Stamm im Süden des Landes – fühlen sich an den Rand gedrängt. Auch im neuen Libyen werden täglich Menschenrechte verletzt. Wer das anprangert, geht ein hohes Risiko ein. Nachdem er Morddrohungen erhalten hatte, legte der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Parlament, Hassan al-Amin, im März dieses Jahres sein Amt nieder und ging wieder zurück nach England, wo er viele Jahre im Exil gelebt hatte. Nur Wochen später wurde in Benghasi der bekannte Anwalt und Menschenrechtsaktivist Abdulasalam al-Messmari erschossen. Auch er hatte die bewaffneten Milizen angeprangert.

Human Rights Watch hat seit der Revolution über 50 politische motivierte Morde gezählt, die meisten im östlichen Landesteil. Neben Messmari waren die Opfer zwei Richter und mehr als 40 Mitglieder des Sicherheitsapparates, von denen die meisten schon unter Gaddafi ähnliche Positionen innehatten. Die Regierung sei unfähig, dafür jemanden zur Rechenschaft zu ziehen und ein funktionierendes Rechtssystem aufzubauen, stellt Human Rights Watch in seinem Bericht fest.

Viele ausländische Firmen sind noch immer nicht zurückgekehrt

Deshalb kommt auch die juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur nicht voran, die Libyen trotz Bedenken des Internationalen Strafgerichtshofes selbst vornehmen will. Auch hier spielen bewaffnete Ex-Rebellen eine Rolle: Die Milizen von Zintan, die Gaddafis Sohn Saif al-Islam in ihrer Stadt festhalten, weigern sich, ihn für den Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Tripolis zu überstellen, weil dort ehemalige Rebellen aus andern Städten das Sagen haben.

Die Milizen hätten einen Staat im Staate errichtet, lautete im August 2013 das ernüchternde Fazit von Regierungschef Ali Zidan, nachdem mehrere Gruppen die Erdölindustrie wochenlang lahmgelegt hatten. Damit ist auch die einzige Erfolgsgeschichte nach der Revolution gefährdet, nämlich der rasche Wiederaufbau der Erdölindustrie. Klagen über Geldsorgen hört man von den Libyern eher selten. Die Regierung hat mit großzügigen Geldgeschenken immer wieder versucht, den Eindruck zu vermitteln, dass sie die Einwohner am Ölreichtum teilhaben lässt. Jetzt aber drohen die Staatsfinanzen in Schieflage zu geraten. Nach wochenlangen Streiks und Besetzungen von Ölfeldern und Verladestationen durch bewaffnete Gruppen ist die Produktion von täglich 1,6 Millionen Fass im September 2013 auf gerade noch 100.000 Fass gesunken. Es musste Öl importiert werden, um die Stromproduktion aufrechtzuerhalten. Die Kosten gehen in die Milliarden US-Dollar.

Auch vordergründig günstige Entwicklungen haben ihren Ursprung in einem nicht funktionierenden Staat. Sogar am heiligen Freitag, an dem normalerweise nicht gearbeitet wird, werden im Zentrum von Tripolis Verschalungen gezimmert und Betonböden gegossen. Unzählige kleine Hotels, Stadthäuser, Kaffees und Geschäfte werden gebaut. „Das Gesetz ist flexibel“, sagt ein libyscher Kleinunternehmer und erklärt den Bauboom: Die Bodenpreise in Tripolis sind innerhalb eines Jahres um das Drei- bis Vierfache gestiegen. Immer mehr frisch importierte Autos verstopfen die schlecht unterhaltenen Straßen der Hauptstadt. Viele sind alt und klapprig, Nummernschilder haben sie keine. Im Moment herrsche das Gesetz des Dschungels, erklärt der Geschäftsmann.

Dafür stehen an anderer Stelle die mächtigen Kräne immer noch still – das Sinnbild der riesigen Infrastrukturprojekte, die vor der Revolution in großer Zahl begonnen wurden. Wegen der unsicheren Lage und offener Entschädigungsforderungen sind viele ausländische Firmen auch zwei Jahre nach dem Sturz Gaddafis noch nicht zurückgekehrt. Hunderte von Projekten in der Höhe von mehreren Milliarden Dollar sind nach wie vor blockiert.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2013: Landrechte: Auf unsicherem Boden
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