Bangladesch: Ein schäbiger Preis für ein Leben

Im April stürzte in Dhaka das achtstöckige Fabrikgebäude Rana Plaza ein und riss 1100 Menschen in den Tod. Doch die Textilfirmen in Bangladesch werden nach wie vor nur lasch kontrolliert. Und viele Familien der Opfer warten bis heute auf eine Entschädigung.

Wer sich die Ruinen von Rana Plaza anschauen will, bleibt nicht lange allein. An diesem glühend heißen Vormittag bedrängen mich viele unglückliche Menschen mit Bündeln von Dokumenten und Fotos. Sie haben Töchter, Söhne oder Ehepartner verloren, als das achtstöckige Fabrikgebäude in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, am 24. April in sich zusammensackte. Es begrub mehr als 1100 Menschen unter sich – überwiegend Arbeiterinnen, die für westliche Textilfirmen tätig waren. Immer mehr Menschen sammeln sich um mich, aus ihren zaghaften Bitten werden Forderungen.

Rashida Begum hält sich abseits. Sie trägt einen leuchtend orangefarbenen Sari und drückt ein laminiertes Foto gegen ihre Brust – ihre Tochter. Nasima war 16 Jahre alt und hatte für 110 US-Dollar im Monat Hosen für die Firma New Wave Bottoms genäht. Am Tag vor der Katastrophe wurde sie mit ihren Kolleginnen vorzeitig nach Haus geschickt, weil in den Wänden des Gebäudes tiefe Risse aufgebrochen waren. Nasima sei so verängstigt gewesen, dass sie nichts mehr essen konnte, erzählt die Mutter. Doch sie wollte ihren Job nicht verlieren – schließlich hat sie mit ihrem Einkommen die ganze Familie ernährt. Und so musste sie auf Befehl ihrer Vorgesetzten an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren.

Autor

Jason Motlagh

ist Autor, Fotograf und Filmemacher.

Jetzt braucht Rashida dringend Geld, und so kommt sie an den Unglücksort zurück in der Hoffnung, dort jemand zu finden, der ihr helfen kann. Manchmal fährt sie mit dem Bus von ihrem Wohnviertel Savar ins Zentrum von Dhaka und beteiligt sich an den Protestkundgebungen vor dem Hauptgebäude der Vereinigung der Textilexporteure BGMEA (Bangladesh Garment Manufacturers Exporters Association), die jährlich 20 Milliarden Dollar umsetzen. Die Demonstranten fordern Entschädigungszahlungen. Doch für Rashida stehen die Chancen schlecht, denn Nasimas Leichnam wurde nicht identifiziert. Sie kann nicht beweisen, dass ihre Tochter unter den Toten war. So geht sie mit leeren Händen nach Hause.

Ich begegne Rashida in den nächsten Wochen ein paar Mal. Stets trägt sie dieselben zerlumpten Kleider, blickt ausdruckslos ins Leere und präsentiert das Bild ihrer Tochter. Für mich verkörperte sie das Versagen der Behörden und der ausländischen Unternehmen. Sie haben es nicht fertiggebracht, auf das schlimmste Unglück in der Geschichte der Textilindustrie angemessen zu reagieren. Zwar wurde vollmundig versprochen, man wolle die Sicherheit in den Fabriken verbessern und gegen die gesetzwidrige Vergabe von Aufträgen an Subunternehmer vorgehen. Doch fünf Monate nach dem Unglück ist noch nicht viel geschehen, weil das Geld knapp ist und die verschiedenen Initiativen so gut wie gar nicht koordiniert werden.

Die Versprechen der Firmen sind reine Absichtserklärungen

Die Opfer sind bis jetzt gar nicht oder nur geringfügig entschädigt worden. Mehrere dutzend Amputierte bekamen zwar unter großem öffentlichem Beifall Geld aus dem Unterstützungsfonds der Regierung. Doch alle anderen Geldquellen sind fast völlig versiegt.  Laut dem Dachverband der Gewerkschaften in Bangladesch (Bangladesh Institute of Labor Studies) hat noch keine der 4000 Familien der offiziell registrierten Toten den zugesagten Schadenersatz in voller Höhe erhalten. Es gab nur 1250 US-Dollar. Das sei „selbst für die bescheidenen Maßstäbe, die für Bangladesch gelten“, ein schäbiger Preis für ein Menschenleben, sagt die Anwältin Sara Hossain, die sich für die Opfer einsetzt.

Erschütternd ist auch die Gleichgültigkeit der Großhändler im Ausland. Im September wurden 29 Unternehmen zu einer Konferenz in Genf zusammengerufen, um über ein Entschädigungspaket für die Opfer der Katastrophe von Rana Plaza und des Feuers in der Fabrik der Firma Tazreen Fashions im November 2012 zu verhandeln. Aber nur neun von ihnen erschienen. Nicht dabei waren unter anderem Walmart und Sears, die beide von Tazreen Fashions beliefert wurden. Die irische Billigfirma Primark bewilligte als einziges Unternehmen finanzielle Hilfen für sechs Monate.

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Unmittelbar nach der Katastrophe von Rana Plaza waren die Aussichten noch besser. Dutzende europäischer und amerikanischer Firmen unterzeichneten spezielle Sicherheitsabkommen. Damit sollten umfassende Renovierungen, Weiterbildung in Brandschutz und die Veröffentlichung der Ergebnisse von Betriebskontrollen finanziert werden. Zudem sollte das Verbot, Subunternehmer einzuschalten, endlich durchgesetzt werden. Zwar sind die Absichtserklärungen der Unternehmen nicht verbindlich; dennoch sahen engagierte Arbeitnehmervertreter darin einen „Wendepunkt“ für Millionen von Textilarbeiterinnen und Textilarbeitern in Bangladesch.

Zum ersten Mal reiste ich im Februar nach Bangladesch um herauszufinden, was sich nach dem Brand bei Tazreen mit 117 Toten verändert hatte. Damals war man sich einig, dass so etwas nie wieder geschehen dürfe. Doch es blieb alles beim Alten. Delwar Hossain, der Eigentümer von Tazreen, darf zwar das Land nicht mehr verlassen, aber er ist auf freiem Fuß. Laut der gemeinnützigen Organisation Solidarity Center hat es inzwischen zwei bis drei Mal pro Woche irgendwo gebrannt und auch Tote gegeben. In der Fabrik eines Subunternehmers über einer Bäckerei am Stadtrand sah ich die Spuren eines solchen Brandes. Verbrannte Nähmaschinen und Unterhemden für den Winter lagen auf dem Fußboden herum. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die schwarzen Handabdrücke auf den Wänden wegzuwischen. Sie führten zu einer verschlossenen Eingangstür, wo acht Menschen im Gedränge starben.

Bei meinem nächsten Besuch im Sommer hatte ich große Erwartungen: Behörden und ausländische Abnehmer würden der Öffentlichkeit zeigen wollen, dass sie ihre Versprechen einlösen und die Arbeitssicherheit verbessern. Doch das war ein Irrtum. Ich bemühte mich einen Monat lang um die Genehmigung, bei einer amtlichen Fabrikinspektion zuzuschauen. Schließlich musste ich mich mit den Informationen eines einheimischen Journalisten zufrieden geben, der an einer Betriebskontrolle teilnehmen durfte.

Die staatlichen Inspektoren lassen sich leicht bestechen

Die Al-Muslim-Textilfabrik, die er besuchte, liegt nur ein paar Fahrminuten von Rana Plaza entfernt. Die moderne Anlage beherbergt die Fertigungsräume eines eingetragenen Herstellers, der für renommierte internationale Firmen arbeitet. Ein Schild an seinem schmiedeeisernen Eingangstor verkündet: Keine Kinderarbeit. Im Gebäude stellten die Inspektoren jedoch fest, dass es nicht genügend Notausgänge gab. Das rechtfertigt die sofortige Schließung eines Betriebs. Die Inspektoren dürfen jedoch nichts entscheiden, sondern nur Empfehlungen aussprechen. So bekam die Fabrik schließlich eine Bewertung mit zwölf von 26 möglichen Punkten – ausreichend für die Sicherheitsstufe „A“. Damit darf sie weiter produzieren.

Der stellvertretende Vorsitzende der BGMEA räumt ein, dass die Kontrollen in einem so armen und chaotischen Land wie Bangladesch unzureichend sind – die BGMEA selbst beschäftigt nur zehn Inspektoren. Die Brandschutzbehörde verfügt über 80, braucht aber eigentlich zehn Mal so viel. Inspektionsteams, die mit Dozenten für das Bauwesen besetzt sind, klagen über mangelnde Ausrüstung. Das Arbeitsministerium will in den kommenden Monaten 200 weitere Inspektoren anwerben und ausbilden. Dabei gibt es keine zentrale Stelle, die die Aktivitäten der verschiedenen Institutionen überblicken und koordinieren könnte. Die Fabrikbetreiber beschweren sich, weil manche Anlagen bereits mehrfach überprüft wurden und andere gar nicht.

Manche Produzenten würden lieber selbst für bessere Sicherheitskontrollen sorgen, als sie den unzuverlässigen Regierungsbehörden zu überlassen. Einer der zehn erfolgreichsten Exporteure sagt: „Die Inspektoren wollen nur die offiziellen Papiere sehen; die Einzelheiten sind ihnen egal.“ Seinen Namen möchte er nicht genannt wissen, um seinen guten Ruf bei den ausländischen Kunden nicht zu gefährden. Ein anderer führender Textilhersteller erzählt, dass er beim Kauf einer älteren Fabrik auf Ablehnung stieß, als er die Baupläne sehen wollte. „Wahrscheinlich hatte der frühere Besitzer etwas zu verbergen – schlechten Zement, schwachen Armierungsstahl“, sagte er. „Mindestens drei Viertel der Gebäude in diesem Land entsprechen nicht den Vorschriften. Sie wurden von Leuten gebaut, die nichts davon verstehen.“ Die staatlichen Inspektoren zu bestechen, damit sie nicht so genau hinschauen, sei kein Problem, sagt er. Rana Plaza habe 14 Kontrollen überstanden, bevor das Gebäude einstürzte. Er ließ die Fabrik, die er erworben hatte, gründlich untersuchen und schloss sie dann, um sie zu sanieren. „Wir machen das nicht, um unsere Käufer zu beeindrucken“, sagt er nüchtern. „Wir tun es für uns.“ Unfälle würden noch viel teurer.  

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Laut manchen Unternehmern nehmen auch unabhängige, von den großen Markenherstellern beauftragte Auditoren Schmiergeld an. Und selbst wenn sie korrekt vorgehen, kümmern sie sich nur um die großen Fabriken. Ein Hersteller, in dessen Büro Urkunden über hervorragende Sicherheitsstandards hängen, ausgestellt von der schwedischen Bekleidungskette H&M, gibt zu, dass er manche Produktionsschritte auslagert, weil er unter großem Zeitdruck liefern muss. „Es gibt in Bangladesch so viele Unsicherheitsfaktoren, Streiks, verzögerte Lieferungen, Feiertage, korrupte Hafenbeamte, dass die Textilproduktion ohne Subunternehmen nie funktionieren kann“, erklärt er. „Den großen Markenherstellern ist das bekannt, aber sie tun so, als wüssten sie es nicht.“

Textilarbeiter fordern mehr Geld

Die rund vier Millionen Näherinnen und Näher in Bangladeschs Textilindustrie sollen mehr Geld bekommen. Die Fabrikbesitzer stimmten Mitte November bei einem Treffen mit Premierministerin Sheikh Hasina ...

In Wirklichkeit weiß niemand genau, wie viele Textilfabriken es in Bangladesch gibt. Neben den Exportriesen, deren Fabriken man von den Hauptstraßen aus sehen kann, existieren Tausende Betriebe, die mehr oder weniger direkt für den Export arbeiten, indem sie Reißverschlüsse einsetzen oder Fäden abschneiden. Sie befinden sich oft in den oberen Stockwerken düsterer Mehrzweckbauten mit vergitterten Fenstern, Ventilatoren an der Decke und schlechter Beleuchtung. Und im Verborgenen existieren unzählige weitere Werkstätten, die nicht einmal an einem Schild über der Tür zu erkennen sind.

Diese unregistrierten Betriebe, in denen Menschen von früh bis spät für Hungerlöhne arbeiten, werden von den Inspektoren überhaupt nicht erfasst. Um wenigstens einen geringfügigen Profit zu erzielen, sparen die Besitzer an der Sicherheit; Beamte, die am Gewinn beteiligt werden, helfen ihnen häufig dabei. Wenn es wirklich einmal brennt oder ein Fußboden durchbricht, ist es für sie beruhigend zu wissen, dass im Lauf von zwei Jahrzehnten noch nie jemand verurteilt wurde, weil Arbeiter zu Tode gekommen sind. Und die internationalen Firmen können sagen, dass sie von den Verstößen gegen die Sicherheitsvorschriften nichts gewusst haben.

Die Toten sind noch längst nicht alle identifiziert

In der Nacht des 8. Oktober breitete sich in einer Textilfabrik am Stadtrand von Dhaka ein Feuer aus und tötete zehn Beschäftigte. Aus Versanddokumenten geht hervor, dass die üblichen internationalen Firmen zu den Abnehmern der Firma gehören. Sie reagierten auf die gewohnte Weise: Sie bestritten, dass sie die Fabrik beauftragt haben. Der erneute Brand ereignete sich nach den Demonstrationen im September, bei denen eine Erhöhung des Mindestlohns von 38 auf 100 US-Dollar pro Monat gefordert wurde. In Savar und Gazipur, den Zentren der Textilindustrie, breitete sich eine Protestwelle aus; es wurden Straßen blockiert und Fahrzeuge demoliert, und schließlich mussten mehr als 100 Fabriken vorübergehend schließen. Erst nach mehreren Tagen gelang es der Polizei, die Proteste durch den Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen zu beenden.

Das letzte Mal, als ich Rashida Begum sehe, steht sie mit ihrem Mann Azad in der Lobby eines DNA-Labors auf dem Gelände der Universität Dhaka und wartet. Von den Toten, die beim Einsturz von Rana Plaza bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurden, waren aus Knochen und Zähnen mehr als 300 Proben entnommen worden. Nun sollten die Ergebnisse der Untersuchungen bekannt gegeben werden. Wenn Nasima als Opfer der Katastrophe identifiziert würde, hätte die Familie Anspruch auf die Sofortzahlung von 1250 US-Dollar, mit denen sie bis zum Jahresende auskommen könnte.

Doch die Resultate liegen noch nicht vor. Ein Mitarbeiter des Labors sagt den beiden, sie müssten noch ein paar Wochen warten, bis eine endgültige Namensliste in den Zeitungen veröffentlicht würde. Als Rashida schon außer Hörweite ist, fügt er hinzu, die Zahl der Anträge übersteige bei weitem die Zahl der Proben, die geprüft wurden. Viele Angehörige müssten mit einer Enttäuschung rechnen. Rashida hat schon resigniert. „Die Familien der Verschollenen bekommen nichts“, sagt sie, klemmt Nasimas Foto unter den Arm und macht sich auf den langen Heimweg nach Savar.

Aus dem Englischen von Anna Latz

Zusatzinformationen

Der Beitrag ist zuerst in der US-amerikanischen Wochenzeitschrift „The Nation“ erschienen.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2013: Unser täglich Fleisch
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