Heiler und Hypnotiseur

Victor Adohonannon aus Benin hält nicht viel von modernen Arzneimitteln
Der spirituelle Chef des Dorfes Kpêtêkpa sucht das Gespräch mit seinen Patienten und vertraut auf die Kraft der Heilpflanzen – auch bei Malaria.

Victor Adohonannon geht barfuß durch den Sand. Es ist kurz nach Mittag, die Erde ist heiß von der Sonne, und der Boden müsste eigentlich unter seinen Füßen glühen. Doch er lächelt nur milde darüber. Es ist das Erste, was er tut, wenn er in seinem Heimatdorf Kpêtêkpa ankommt. Ohne Schuhe fühlt er sich frei und mit der Erde und der Natur verbunden.

Autorin

Katrin Gänsler

ist freie Journalistin in Westafrika. Sie lebt in Lagos und Cotonou und berichtet für deutschsprachige Tageszeitungen, Magazine und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

In der Mittagshitze ist kaum jemand im Dorf unterwegs. Ein paar Menschen begegnet Victor Adohonannon trotzdem. Sie werfen sich vor ihm auf die Erde und bleiben liegen, bis er ihnen die Hand auf die Schulter gelegt und etwas auf Fon gemurmelt hat, der am meisten gesprochenen Sprache in Benin. Er wirkt zwar ruhig und fast unscheinbar. Doch er ist der spirituelle Chef des Dorfes und somit auch der traditionelle Heiler in Kpêtêkpa. Von Bauchschmerzen über Kinderlosigkeit bis hin zu Depressionen werden alle Probleme an ihn herangetragen.

Der Heiler geht zu einem kleinen Rundbau am Dorfeingang. Er ist offen, und an der Decke hängen mehrere hundert Tierschädel. Ein paar leere Plastikflaschen liegen herum, auf dem Boden steht ein großer Wasserbehälter. „Schuhe ausziehen“, befiehlt er beim Eintreten. Abwechselnd nennt er das kleine Gebäude „Fetisch“ oder „Beschützer des Dorfes“. „Das ist der Ort der Konsultation. Hier werden die Menschen in Trance versetzt, damit sie über ihre Probleme sprechen können.“

Jeder hat sein Geheimnis

Victor Adohonannon setzt sich auf die kleine Mauer. Dass es keine Privatsphäre oder so etwas wie eine ärztliche Schweigepflicht gibt, scheint nicht zu stören. „Jeder hat doch sein Geheimnis“, sagt er. Ohnehin ist das Dorf so klein, dass jeder jeden gut kennt und damit wohl auch dessen Probleme.

Wenn die Klienten in Trance sind – wie Adohonannon sie hineinversetzt, verrät er nicht –, geht es weniger darum zu zeigen, welche Stelle im Knie genau schmerzt oder wo es im Bauch drückt. Er sucht vielmehr den Auslöser des Unglücks. Zum Beispiel bei Frauen, die einfach nicht schwanger werden wollen. Über sie spricht er häufig, sie machen offenbar einen beträchtlichen Teil seiner Kundschaft aus. Ein Grund für die Kinderlosigkeit könnte sein, dass sie jemanden geheiratet haben, der nicht zu ihnen passt, oder die Regeln der Natur und der Erde – Symbol für den Ursprung allen Seins – nicht kennen.

Adohonannon weiß, dass traditionelle Heilkunde häufig belächelt und als unseriös abgetan wird. Nicht nur in Europa, sondern schon in großen Städten wie Cotonou. Wer sich modern und aufgeklärt gibt, der gehe in ein sogenanntes echtes Krankenhaus und nicht zu einem Heiler.###Seite2###

Traditionelle Heilmethoden sind in Benin eng mit der jahrtausendealten Religion Voodoo verbunden. Das westafrikanische Land, in dem gut 9,5 Millionen Menschen leben, gilt als dessen Wiege. Offiziell bekennen sich mehr als 17 Prozent der Einwohner dazu. Im Voodoo gibt es einen Schöpfergott, der viele Kinder hat, mit denen man in Kontakt treten kann. Manchmal werden diese ebenfalls als Götter bezeichnet, manchmal auch als Heilige.

Rote Speisen meiden

Nach kurzem Schweigen findet Victor Adohonannon ein Beispiel für die Regeln von Natur und Erde. „Es gibt Menschen, die kein Gari essen dürfen. Es macht sie träge und bekommt ihnen nicht.“ Ausgerechnet Gari: Den grobkörnigen Maniok-Grieß, der vermischt mit Wasser zu einem schnell sättigenden Brei wird, gibt es in Benin an jeder Straßenecke, er gilt als die Mahlzeit des armen Mannes. Doch der Heiler hebt den Finger: „Manchmal muss ich tatsächlich sagen: Iss nie wieder Gari, und Du hast keine Probleme mehr.“ Auch er selbst hat eine Einschränkung: die Farbe Rot. Er trägt keine rote Kleidung und vermeidet rote Speisen. Es sei anfangs nur ein Gefühl gewesen. Als er später alles Rote tatsächlich wegließ, fühlte er sich besser, aufgeräumter. „Seitdem meide ich Rot.“

Menschen in Trance zu versetzen und in Gesprächen nach Unheil und Übel zu suchen, ist aber nur eine seiner Aufgaben. Adohonannon hat einen weiteren, aus seiner Sicht riesigen Schatz: die Pflanzen, die über große Heilkräfte verfügen. Sie werden nicht angebaut, sondern wachsen überall wild. „Manche Menschen kennen sie noch und wissen, wie sie zu nutzen sind. Aber die meisten gehen achtlos an ihnen vorbei.“

Victor Adohonannon bleibt neben ein paar Büschen, die knapp zwei Meter hoch sind, stehen. Die Zweige sind dünn, und die Blätter, die vorne spitz zusammenlaufen, leuchten in einem intensiven Hellgrün. Im Dorf wird der Busch einfach Chinin genannt. Der Heiler streicht über die Blätter. Der Busch ist für ihn sehr wertvoll, denn er ersetzt die beiden chemischen Verbindungen Chloroquin und Chinin. Chloroquin wird beispielsweise bei rheumatischen Erkrankungen eingesetzt. Chinin ist ein Mittel gegen Malaria, die ganzjährig überall in Benin auftritt. Er pflückt ein paar Blätter ab. „Die legt man in einen Topf, kocht sie mit Wasser auf, das man danach trinkt.“ Über mehrere Tage soll der Patient die natürliche Medizin zweimal täglich einnehmen. Dann ist er von Malaria geheilt.

Ein Zweig schließt Schwachstellen des Körpers

Die dünnen Zweige des nächsten Baumes erinnern an junge, feine Triebe eines Kirschbaums. „Den hier nennen wir Letin“, sagt Victor Adohonannon. Für Zeremonien soll der Baum besonders gut geeignet sein, da er, so die Erklärung des Heilers, vor dem möglichen Eindringen böser Kräfte schützt. „Man bricht einen kleinen Zweig ab und schlägt vorsichtig auf die Haut desjenigen, der Schutz sucht, oder pickst ihn ein wenig.“ Er macht es auf seinem Unterarm vor. Damit soll erreicht werden, dass mögliche Schwachstellen geschlossen werden und der Körper keine dunklen Mächte in sich eindringen lässt. Der Baum hat aber noch eine andere Wirkung. Wenn ein Zweig abgebrochen wird, erscheint eine weiße, dickliche Flüssigkeit. Daraus lässt sich zusammen mit anderen Wirkstoffen eine Salbe herstellen, die gegen Nierenleiden hilft.

An jedem Strauch könnte Victor Adohonannon stehen bleiben und Wirkungen, Risiken und Nebenwirkungen erklären. Gelernt hat er all das, als er noch ein Junge war und als klar wurde, dass er einmal Dorfchef werden würde. Dieses Wissen wird von Generation zu Generation weitergegeben. Obwohl es mittlerweile mehrere Projekte gibt, mit denen die Wirkung von Heilpflanzen aufgezeichnet werden soll, haben nur wenige Menschen Teil daran. Ein zu reger Austausch könnte schließlich bedeuten, dass Heiler ihre Macht verlieren – wenn andere ihre Kenntnisse und Rezepturen einsetzen und diese nicht mehr einmalig sind.

Langsam will sich der Dorfchef wieder auf den Heimweg machen. Er ist sicher: Vor seinem Haus werden wieder einige Menschen warten, die ihn sprechen möchten und nach Lösungen für Probleme suchen. Das nimmt viel Zeit in Anspruch. Ob er immer eine Antwort weiß, etwa auch, wenn jemand an Krebs erkrankt ist? Victor Adohonannon will nicht direkt darauf antworten. „Das wissen nur die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite“, sagt er zum Abschied. 

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erschienen in Ausgabe 3 / 2014: Medizin: Auf die Dosis kommt es an
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