„Eine Landkarte der Gesellschaft“

Der mexikanische Schriftsteller und Historiker Paco Ignacio Taibo II schreibt mit Vorliebe Kriminalromane. Im Interview erzählt der 65-Jährige, wie er in die Vergangenheit reist, und warum er vom Thema Drogenkriminalität derzeit lieber die Finger lässt.

Einige Ihrer Romane spielen in einem historischen Umfeld, zum Beispiel in den 1920er Jahren, in der Zeit nach der mexikanischen Revolution. Wie schreibt man einen historischen Roman?
Das ist ganz leicht. Man sucht sich eine biografische Lücke und füllt sie auf. Ich bin oft in Archiven und habe dort zum Beispiel von deutschen Finca-Besitzern gelesen, die in Mexiko Kaffee angebaut und ihn dann nach Bremen verkauft haben. Diese Deutschen waren offenbar Nazis, die nach dem Zweiten Weltkrieg geflohen waren. Solche Bausteine sammele ich und baue daraus eine Handlung.

Was reizt Sie an der Vergangenheit?
Die heutige Gesellschaft ist sehr komplex: Die Guten sind schlecht, die Schlechten auch. Die Vergangenheit bietet mir mehr Sicherheit. Ich habe das Gefühl, manche Dinge waren damals nicht so kompliziert. Das hilft beim Erzählen. Außerdem: Viele gesellschaftliche Entwicklungen beschäftigen die Menschen auch heute noch.

Paco Ignacio Taibo II

Der mexikanische Schriftsteller und Sachbuchautor Paco Ignacio Taibo II (65) schreibt nicht nur unterhaltsame Gaunergeschichten vor historischer Kulisse. Er ist auch Historiker und hat zwei sehr erfolgreiche ...

Und wie bekommen Sie ein Gespür dafür, wie das Leben damals war?
In Mexiko-Stadt gibt es ein Zeitungsarchiv, dort lese ich, was die Leute früher gegessen und gekauft haben, welche Filme im Kino liefen und wie es damals in Mexiko-Stadt aussah. Ich selbst lebe im Zentrum von Mexiko-Stadt, ich brauche diesen Trubel. Wenn ich mit meiner Frau spazieren gehe, dann sage ich zum Beispiel an einer Straße: Guck, hier fährt die Straßenbahn lang! Sie sagt: Paco, hier ist doch gar keine Bahn. Und ich sage: Nein, nicht mehr, aber früher war hier eine – so setze ich mir im Kopf das damalige Mexiko-Stadt wieder zusammen.

In einem Ihrer Bücher, „Der Schatten des Schattens“, sind die Helden ein Gewerkschafter, ein Journalist, ein Dichter und ein Anwalt von Prostituierten, die zusammen in Gefahr geraten. Die Männer sind politisch alle dem linken Spektrum zuzuordnen. Wie kommt’s?
Wenn man selbst politisch zu dieser Richtung tendiert, und ich bin ja seit Jahren Mitglied der gemäßigt linken Partido de la Revolución Democrática, dann wäre es nicht leicht, den Charakteren eine andere Einstellung aufzudrücken. Ich bin da vielleicht ein wenig faul. Schriftsteller zu sein ist auch so schon harte Arbeit. Man sitzt täglich lange Stunden auf seinem Hintern.

Wie sieht Ihr Arbeitstag aus?
Ich setze mir wenig Regeln. Ich arbeite jeden Tag, manchmal 15 Minuten, manchmal 15 Stunden. Ich kenne meine Maschine, also mich selbst, ziemlich gut. Mal funktioniert sie, mal nicht so gut. Einige Kollegen brauchen den Druck eines Verlags, der ihnen im Nacken sitzt. Ich nicht. Deshalb unterschreibe ich auch nie im Voraus Verträge. Zum Glück hatte ich einige erfolgreiche Bücher, die mich finanziell recht unabhängig gemacht haben. Das ist Freiheit. Wenn mich mein Verleger fragt: Woran arbeitest du gerade, Paco?, dann antworte ich oft: Ich weiß es selbst nicht! Ich verfolge immer mehrere Stoffe, daraus ergibt sich dann etwas.

Die Helden in Ihren Büchern langen schon mal härter zu, es setzt Faustschläge, die Männer tragen Pistolen und erschießen Angreifer.
Das stimmt, ich schreibe auch mal gewalttätige Szenen, aber ich mag nicht diese Ästhetisierung von Gewalt. In Kriminalromanen, zu denen man meine Bücher vielleicht zählen kann, geht es meiner Meinung nach nicht um Gewalt, sondern um Gerechtigkeit, die es im Alltag oft nicht gibt. Die Leser wollen ein gutes Ende. Sie gruseln sich und beruhigen sich gleichzeitig mit dem Gedanken: Das passiert ja anderen, nicht mir! Und die Protagonisten meiner Geschichten sind insgesamt gute Typen, denen man vertrauen kann.

Sind Krimis in Mexiko nur Unterhaltung?
Nein. Mexikanische Krimis können den Alltag im Land besser beschreiben als andere Literatur, weil die mexikanische Gesellschaft stark von Korruption, Machtmissbrauch und Verbrechen geprägt ist. Der Krimi zeichnet also eine Landkarte der Gesellschaft. Krimis zeigen sogar noch ein realistischeres Bild, als Journalisten oder Sozialwissenschaftler das können, weil man Dinge sagen kann, die jeder weiß, aber sonst niemand auszusprechen wagt. Ich habe durch Prosa mehr über Mexiko gelernt als durch Medienberichte.###Seite2###

Welche Rolle spielen Mexikos Drogenkartelle in Ihrer Arbeit?
Ich habe zwei Novellen geschrieben, in denen es auch um den Drogenhandel geht. Aber das ist länger her. Vielleicht schreibe ich später noch mal darüber, aber nicht jetzt. Es ist zu grauenvoll, zu düster und komplex. Ich brauche erst mal Abstand dazu.

Gibt es in Mexiko Orte, die Sie meiden?
Es gibt Orte, die ich meiden sollte, aber ich fahre trotzdem hin, weil ich verrückt bin.

Glauben Sie, dass die Legalisierung von Drogen wie etwa in Uruguay die Situation in Mexiko verbessern würde?
Nein, die Kartelle haben sich ja längst andere Geschäftsfelder gesucht: Sie erpressen Schutzgeld, sie schmuggeln, sie betreiben Menschenhandel mit Frauen und Migranten. Sie sind überall aktiv.

Sie haben ein Sachbuch über Ché Guevara geschrieben. Haben Sie schon einmal überlegt, eine bekannte Person zum Protagonisten eines Romans zu machen?
Nein, das funktioniert nicht. Wenn ich ein neues Buch beginne, ist die erste Entscheidung: Sachbuch oder Belletristik? Bekannte, starke Persönlichkeiten kann man nicht in Belletristik umsetzen, sie sind zu dominant. Sie erlauben es nicht, dass man mit ihren Gedanken und Absichten spielt. Man würde das beim Lesen nicht glauben, einfach weil die Person zu bekannt ist. Mich haben Filmemacher kontaktiert, die mir die Rechte an meinem Ché-Buch abkaufen wollten. Ich habe gesagt: Habt ihr das Buch? Dann benutzt es einfach, das steht euch doch frei, die Informationen sind für alle. Leute aus Hollywood verstehen diese Logik offensichtlich nicht. Ich habe ihnen gesagt: Der Film kann aber nicht gut werden, wenn Ché im Mittelpunkt steht, denn jeder Kinogänger hat sein eigenes Bild von Ché im Kopf. Ich habe vorgeschlagen: Sucht euch einen Charakter im Umfeld, aus dessen Perspektive ihr es erzählt. Aber sie meinten: Nein, wir brauchen Ché im Mittelpunkt, um den Film verkaufen zu können.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2014: Indonesien: Von Islam und Demokratie
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