Weltbürger und lokal verwurzelt

Die Welt ist von Grenzen durchzogen – politisch und kulturell. Wie können die Kulturen auf einem begrenzten Planeten
gemeinsam existieren und sich miteinander verständigen, ohne gleich werden zu müssen?

Seit etwa 200 Jahren hat die Menschheit nicht nur das Klima, sondern unseren ganzen Planeten tiefgreifend verändert. Staaten und Kulturen sind viel stärker als früher miteinander verflochten. Aber die viel beschworene Weltgesellschaft existiert als politisch koordinierte Einheit nicht.

Autor

Christoph Antweiler

Christoph Antweiler ist Ethnologe und Inhaber des Lehrstuhls für Südostasien­wissen­schaften sowie Direktor des Instituts für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn.
Wir alle sind zwar Bewohner dieser Welt, fühlen uns aber längst nicht auch als Weltbürger. Menschen, Gruppen und Kulturen werden ausgegrenzt oder grenzen sich bewusst selbst ab. Ein gemeinsames globales Bewusstsein hat sich noch kaum herausgebildet. Auch die Massenmedien haben das bisher nur ansatzweise bewirkt. Die Menschheit ist keine sozial integrierte, solidarische und kollektiv handelnde Einheit. In diesem Sinn existiert keine „Weltgemeinschaft“.

Doch angesichts der weltweiten Vernetzung und erdumspannender Probleme gibt es keine Alternative zu einer grenzüberschreitenden Politik. Grenzen zu überschreiten heißt aber noch lange nicht, sie zu leugnen. Wie kann weltbürgerliche Identität gebildet werden, ohne die Loyalität zu Kulturen oder Nationen aufgeben zu müssen?

Was Psychologen über die Identität der Einzelnen sagen, gilt auch für das Wir-Bewusstsein in Kollektiven: Grenzen sind wichtig, um Identität zu bilden. Evolutionsgeschichtlich betrachtet haben Menschen bis vor kurzem in überschaubaren Gruppen gelebt. Das prägt unsere Psyche bis heute. In klar abgegrenzten Gemeinschaften lässt sich Konsens bilden und Kooperation durch Vertrauen sichern.

Auch in Zeiten, in denen Migration der Normalzustand ist, steckt im Begriff „Heimat“ mehr als patriotische Volkstümelei oder Nostalgie. Trotz Globalisierung: Die typische Weltbürgerin lebt die meiste Zeit nahe an ihrem Geburtsort. Grenzen zu ziehen oder zu erhalten, bedeutet nicht notwendigerweise Abschottung.

Wir leben dicht zusammen mit vielen anderen, die uns dauerhaft fremd bleiben. Das macht Urbanität als Lebensform aus

Heute allerdings lebt gut die Hälfte der Menschen in Städten, und für fast die ganze Menschheit gilt: Wir leben dicht zusammen mit vielen anderen, die uns dauerhaft fremd bleiben. Das macht Urbanität als Lebensform aus, und sie ist heute auch in vielen ländlichen Räumen die Normalität. Die Welt wird zur Stadt. Das Leben mit und unter Fremden erfordert Respekt. Und es erfordert, nicht jeden Konflikt zu einem Grundsatzstreit über Werte zu machen.

Doch genügen diese formalen Regeln der friedlichen Koexistenz? Eine Ethik des rein pluralen Nebeneinander ist angesichts der globalen Verflechtungen und der weltweiten Auswirkungen unseres Handelns zu wenig. Wir brauchen eine „Ethik in einer Welt von Fremden“, schreibt der Philosoph Kwame Anthony Appiah.

Der Kosmopolitismus der Antike wollte die politische Einheit des Stadtstaates (Polis) mit dem ganzen Weltkreis (Kosmos) verbinden. Ein neuer Kosmopolitismus versucht, sowohl der Vielfalt einzelner Kulturen als auch der Einheit der Menschheit gerecht zu werden. Und er will verhindern, dass Kulturen gegen die Rechte ihrer Individuen verstoßen. Dies unterscheidet den kosmopolitischen Ansatz sowohl von einer globalen Monokultur als auch vom extremen Kulturrelativismus.###Seite2###

Projekte, die auf universell gültige Werte abzielen, sind oft verkappter Eurozentrismus. Ein zeitgemäßes weltbürgerliches Denken darf die Erfahrungen der europäischen und atlantischen Welt nicht vorschnell auf die ganze Welt übertragen. Es ist aber auch keine Alternative, alle Werte als kulturell relativ anzusehen.

Doch eine weltbürgerliche Haltung muss gar nicht als Gegensatz zu Provinzialität gesehen werden. Ein kosmopolitischer Patriot kann durchaus Heimatstolz zulassen, sich als „verwurzelten Weltbürger“ verstehen. Wir müssen nicht von jedem Menschen fordern, immer nur ans Große und Ganze zu denken.

Wenn wir Weltbürger werden wollen, sollten wir kleine Brötchen backen. Wir können an der Praxis des alltäglichen Umgangs ansetzen. Man braucht nicht gleich ein volles Verstehen zwischen Kulturen. Auch ein weltweiter Konsens über grundlegende Werte ist unrealistisch. Es gibt einen Mittelweg zwischen globalen Werten wie einem Weltethos und rein abstrakten Umgangsprinzipien (wie dem erwähnten Respekt), die friedliche Koexistenz ermöglichen.

Zunächst reichen Gespräche über Grundprobleme, denen sich alle Kulturen stellen müssen. Sollen alle Menschen gleich wertvoll sein? Wie soll die Zukunft unserer Kinder aussehen? Wo soll unsere jeweilige lokale Gemeinschaft in Zukunft stehen? Es geht um den Teil der Interessen und Standpunkte, zu denen jeder Mensch etwas sagen kann.

Das Leben mit und unter Fremden erfordert, nicht jeden Konflikt zu einem Grundsatzstreit über Werte zu machen

Die bisherigen Ansätze zum Weltbürgertum sind intellektuell wegweisend, aber das empirische Fundament ist schwach. Kosmopolitisch denkende Philosophen wie Amartya Sen und Martha Nussbaum leiten universale menschliche Fähigkeiten und Bedürfnisse aus Menschenbildern oder aus den Grundthemen der Weltliteratur ab.

Diese vage Lehre vom Menschen kann mit anthropologischer Forschung untermauert werden. So kann die Ethnologie nach grenzübergreifenden Ähnlichkeiten und weltweiten Gemeinsamkeiten fragen, so genannten Kulturuniversalien. Beispiele sind Inzestverbote (enge Verwandte dürfen nicht heiraten) und Ethnozentrismus, aber auch Fairness und Gastfreundschaft.

Diese Universalien beruhen nicht nur auf Biologie, im Unterschied zu den Eigenschaften, die die Spezies Mensch ausmachen. Sie haben verschiedene Ursachen: Sie beruhen auf evolutionärer Prägung, haben sich räumlich ausgebreitet oder sie haben sich an verschiedenen Orten unabhängig voneinander herausgebildet.

Das Wissen über Universalien lässt sich mit dem neuen Kosmopolitismus zusammenführen. Ein zukunftsweisender, aber noch kaum diskutierter Praxisansatz sind „negotiated universals“ – ausgehandelte Universalien. Dabei werden Regeln des Umgangs gemeinsam ausgehandelt und dann in den einzelnen kulturellen Gemeinschaften jeweils unterschiedlich begründet.

Dadurch werden sie dort zustimmungsfähig. Dieser Ansatz wurde ansatzweise mit Blick auf die Menschenrechte diskutiert, könnte uns aber auch bei grenzüberschreitender Politik weiterbringen, etwa bei der Friedenssicherung oder internationalen Migrationsregimen. 

Die Idee des Weltbürgertums mäßigt die im Prinzip wichtige Betonung kultureller Besonderheiten, indem sie die Achtung des einzelnen Menschen und zugleich der ganzen Menschheit hervorhebt. Ein solcher Kosmopolitismus kann zudem verhindern, dass ein universalistisches Projekt zu Gleichmacherei führt. Er kann also einen alle einschließenden Humanismus befördern, der Eurozentrismus vermeidet, und gleichzeitig der weltweit erstarkenden Ethnisierung entgegenwirken – dem Trend, Ethnien und Kulturen als wichtigste Subjekte der Geschichte anzusehen.

Kulturen leben nicht in verschiedenen Welten, sondern verschieden in einer Welt.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2014: Durchlass hier, Mauer dort
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