Fromm ist Trumpf

In westlichen Demokratien führt meist ideologische Mäßigung zum Wahlerfolg. Doch islamistische Parteien im Nahen Osten werden im demokratischen Umfeld radikaler – nicht zuletzt weil große Teile der Bevölkerung das wünschen.

Zum ersten Mal traf ich Mohammed Mursi am 8. Mai 2010. Damals hatten erst wenige Ägypter von dem Mann gehört, der zwei Jahre später in der ersten freien Wahl des Landes zum Präsidenten gewählt werden sollte. Es war eine dunkle Epoche in der Geschichte Ägyptens und ganz besonders für die Muslimbrüder, deren Führungsriege er angehörte. Die Hoffnungen, die sich in den Jahren 2004 und 2005 an den Beginn des Arabischen Frühlings geknüpft hatten, waren in der schlimmsten Repressionswelle seit der Verfolgung der 1960er Jahre untergegangen.

Autor

Shadi Hamid

arbeitet im Center for Middle East Policy der Brookings Institution. Er ist Autor des Buches „Temptations of Power: Islamists and Illiberal Democracy in a New Middle East“ (Oxford University Press, 2014).

Trotzdem wirkte Mursi nicht niedergeschlagen. Wie andere Führer der Muslimbruderschaft hatte er sich mit den widrigen Umständen abgefunden und seine Erwartungen heruntergeschraubt. Im Gespräch betonte er, dass man die Bruderschaft nicht als Opposition bezeichnen dürfe. „Der Begriff Opposition bedeutet, dass man die Macht erobern will“, sagte er. „Zurzeit streben wir aber nicht an die Macht, denn das setzt eine entsprechende Bereitschaft voraus, und so weit ist unsere Gesellschaft noch nicht.“ Die Muslimbruderschaft sei eher eine religiöse Bewegung als eine politische Partei. Sie könne langfristig denken und abwarten. Schließlich habe sie die historische Dynamik und Gott auf ihrer Seite.

Repression war für Islamisten keine neue Erfahrung. In den frühen 1990er Jahren waren die Regierungen der arabischen Länder, Ägypten und Jordanien eingeschlossen, immer autoritärer geworden. Doch anders als es Experten und die Öffentlichkeit erwarteten, führte das nicht zur Radikalisierung der Mehrheit der Islamisten. Es nötigte ihnen eher gemäßigte Positionen auf. Die ägyptischen und jordanischen Muslimbrüder akzeptierten viele Grundprinzipien der Demokratie wie Souveränität des Volkes und Ablösung von Regierungen durch freie Wahlen. Sie beharrten weniger auf der Scharia, der islamischen Rechtsordnung, arbeiteten mit liberalen und linksgerichteten Gruppen zusammen und sorgten für mehr Demokratie innerhalb ihrer eigenen Organisationen.

Offenbar vermag Repression das Denken und das Verhalten der Menschen zu verändern – sie soll damit jedoch nicht entschuldig werden. Man muss zwischen eher maßvollen Einschränkungen und der vollständigen Unterdrückung unterscheiden. Meine Auffassung davon, wie sich die Islamisten im Lauf der Zeit verändern, beruht darauf, dass islamistische Bewegungen eine Ausnahmeerscheinung darstellen. Es handelt sich nicht um politische Parteien im traditionellen westlichen Sinne. Denn diese bilden in ihren Ländern in der Regel keinen Parallelstaat, sie stützen sich nicht auf ein alternatives Netz von Moscheen, Kliniken, Stiftungen, Unternehmen – bis hin zu Pfadfinderorganisationen. Eine solche Infrastruktur ist aber das Fundament der islamistischen Organisationen.

In der Opposition pragmatisch demokratisch

Deshalb reagieren sie besonders stark, wenn die Regierung sie einschränkt – und sogar schon wenn sie damit droht. Mit einem geringen Grad der Einschränkung können sie leben, mit Angriffen auf ihre soziale Infrastruktur aber nicht. Deshalb tun sie ihr Möglichstes, die zu verhindern. Damit die Repressalien der Regierung als ungerechtfertigt und übertrieben wahrgenommen werden, präsentieren sie sich als gute Demokraten und demonstrieren ihr Engagement für den Pluralismus und die Rechte der Frauen.

Sie bemühen sich um Bündnisse mit Gruppierungen außerhalb ihres Lagers. Denn solange sie isoliert bleiben, sind die Islamisten leicht angreifbar. Wenn sich akzeptierte Parteien und Individuen hinter sie stellen, sind sie besser geschützt. Um solche Bündnisse möglich zu machen, müssen sie das Bekenntnis zur Demokratie in den Vordergrund stellen und die eher kontroversen kulturellen und religiösen Aspekte ihres Programms herunterspielen.###Seite2###

Dass die Islamisten die Demokratie akzeptierten und sich später zu ihr bekannten, hat einen weiteren Grund: Solange es keine Demokratie gibt, ist sie ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Es ist nur sinnvoll, sich für die Gewaltenteilung, die Ablösung von Regierungen, die Souveränität des Volkes und unabhängige Gerichte einzusetzen, wenn man all dies als gefährdet wahrnimmt. Wenn die Islamisten sich politisch bedroht sehen, werden demokratische Reformen für sie eine Forderung von geradezu existenzieller Bedeutung.

Die britische Politologin Nancy Bermeo erforscht, welche politischen Lernprozesse die Erfahrungen mit autokratischen Regimen auslösen. Eine Diktatur könne dazu zwingen, „sowohl den Charakter bestimmter Regime oder politischer Gegner wie unsere eigenen Ziele und Verhaltensweisen neu zu bewerten“, erklärt sie. Auch die Strategien, mit denen man bestimmte Ziele erreichen will, könnten sich infolge politscher Erschütterungen, Krisen und Enttäuschungen verändern.

Doch wie verhalten sich Islamisten, wenn sich demokratische Spielräume öffnen und die staatliche Verfolgung nachlässt? Bei meinen Recherchen ging ich zunächst davon aus, dass sie radikale Positionen aufgeben, je stärker sie in den demokratischen Prozess integriert werden.

In Westeuropa führt Regierungsbeteiligung zu einer Mäßigung

In Westeuropa konnte man eine solche Entwicklung beobachten. Die Stammwählerschaft der Sozialdemokraten und der Christdemokraten (Arbeiter und Konservative) war begrenzt. Um Wahlen zu gewinnen, mussten sie ihre Ideologie in den Hintergrund stellen und sich zur Mitte orientieren, wo sie Durchschnittswähler zu gewinnen hofften. So führte die Demokratisierung zwangsläufig zu einer ideologischen Entschärfung. Daraus schlossen viele politische Beobachter, dass unter ähnlichen Bedingungen auch die Islamisten zu gemäßigten Positionen gelangen würden. Im Westen gehen wir davon aus, dass Liberalismus und Demokratie zusammengehören.

Doch im Nahen Osten werden islamistische Parteien in einem demokratischen Umfeld eher dogmatischer. In streng religiösen Ländern wie diesen wünscht ein großer Teil Bevölkerung nicht etwa die Entflechtung von Religion und Politik, sondern einen stärkeren Einfluss der Religion auf die Politik.

So zeigen Umfragen in Ägypten eine hohe Zustimmung zur Scharia als Grundlage der Gesetzgebung, zu religiös begründeten Strafen für kriminelle Delikte, zur Ungleichbehandlung von Mann und Frau und zur Beteiligung religiöser Führer an der Gesetzgebung. Wenn in der Bevölkerung eine solche Nachfrage besteht, wird auch ein Angebot gemacht.

Im Nahen Osten rückt die rechte Mitte weiter nach Rechts

Außerdem führt die Demokratisierung dazu, dass Gruppen wie die Muslimbrüder ihr Monopol auf die Stimmen der islamistischen Gläubigen verlieren. Sie müssen mit neuen salafistischen Parteien konkurrieren, die einen strengen und buchstabengetreuen Islam vertreten. So rückt die rechte Mitte immer weiter nach rechts, wie es auch in den USA aufgrund der Tea-Party-Bewegung der Republikaner zu beobachten ist.###Seite3###

Wenn die Bedeutung der Religion in allen Lagern zunimmt, versuchen nicht nur die islamistischen Parteien einer Region, sich an Frömmigkeit gegenseitig zu übertreffen. Das zeigen demokratische Experimente in den arabischen Ländern gegen Ende des vorigen Jahrhunderts. Da die Mehrheit der Ägypter offenbar wieder frömmer wurde, beschloss die ursprünglich nicht religiöse Wafd-Partei damals, sich stärker am Islam auszurichten. Das schlug sich in ihrem politischen Programm von 1984 deutlich nieder. Darin wurde ausgeführt, wie das islamische Recht anzuwenden sei. Und es hieß darin, der Islam sei nicht nur eine Religion, sondern auch Grundlage des Staates. Das Programm rief dazu auf, den moralischen Verfall in der Gesellschaft zu bekämpfen und die Medien von allem zu säubern, was der Scharia und der Moral im Allgemeinen widersprach.

Das vorgeblich säkulare Regime von Staatspräsident Anwar as-Sadat unternahm Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre den ehrgeizigen Versuch, die ägyptischen Gesetze mit dem islamischen Recht in Einklang zu bringen. Auch das wurde von der Wafd-Partei unterstützt. Die Initiative ging von Sufi Abu Taleb aus, dem Parlamentsvorsitzenden und engen Vertrauten Sadats. Seine Kommissionen produzierten in mühevoller Arbeit auf Hunderten Seiten detaillierte Gesetzesentwürfe, die alle Bereiche der Rechtsprechung abdeckten, von der Zivilgesetzgebung über das Strafrecht bis zum Seehandelsrecht.

In Malaysia lassen sich ähnliche Entwicklungen beobachten. Auch hier wurde die „Trumpfkarte der Frömmigkeit“ ausgespielt, wie der Politikwissenschaftler Joseph Chinyong Liow diesen Vorgang nannte. Er beschreibt, wie die Konkurrenz zwischen der nominell säkularen Partei UMNO (United Malays National Organisation), die seit 1957 die Regierung anführt, und der islamistischen PAS (Pan-Malaysian Islamic Party) ein offenbar endloses Pendeln zwischen Islamisierung und Säkularisierung bewirkt. Demokratisierung führt also nicht notwendig zu einer größeren Mäßigung der islamistischen Parteien.

Sie bewirkt auch nicht, dass ideologische Fragen in den Hintergrund treten. Was ist, wenn die Tunesier, Ägypter, Libyer und Jemeniten in demokratischen Wahlen entscheiden, dass sie lieber nicht liberal sein wollen? Ist das ihr Recht?

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vertritt dazu eine eindeutige Position. In einer Fußnote wird eine „rote Linie“ gezogen und festgestellt: „Das Recht auf die eigene Kultur endet, wo sie andere Menschenrechte verletzt. Nach dem internationalen Recht darf kein Recht auf Kosten eines anderen Rechts in Anspruch genommen werden oder ein anderes Recht untergraben.“ Westliche Politikstrategen und arabische Liberale setzen die Existenz von Prinzipien voraus, die für alle Menschen verbindlich gelten. Die liberale Demokratie baut auf der Anerkennung der Menschenrechte auf. Doch viele Islamisten teilen diesen Konsens nicht.

Dieser Konflikt war in den Kontroversen über die ersten Verfassungen in Ägypten und Tunesien deutlich zu beobachten. Die erste Verfassung nach dem Umsturz in Ägypten, die im Dezember 2012 in einem Referendum angenommen wurde, verstieß gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie enthielt keine rechtlichen Garantien für die Gleichberechtigung der Geschlechter, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Gewissensfreiheit und die Freiheit der Religionsausübung. Grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten über Zuständigkeiten und Aufgaben des säkularen Staates spiegelten sich in Auseinandersetzungen wider, die im Rückblick als unbedeutende Wortklaubereien erscheinen könnten – etwa die exakte Formulierung von Scharia-Vorschriften.###Seite4###

Für Liberale sind gewisse Rechte und Freiheiten nicht verhandelbar und sie sehen im Staat einen neutralen Schiedsrichter. Islamisten wollen – selbst wenn ihnen an einer gesetzlichen Regelung der Moral nicht viel liegt –, dass der Staat seine Institutionen und seinen Einfluss auf die Medien dafür nutzt, bestimmte religiöse und moralische Normen zu propagieren. Für sie entspringen diese konservativen Werte keiner Ideologie, sondern einem selbstverständlichen gesellschaftlichen Konsens über die Rolle der Religion im öffentlichen Leben. Der Wille des Volkes hat Vorrang vor allen mutmaßlichen Normen der international anerkannten Menschenrechte, umso mehr, wenn er mit dem Willen Gottes zusammenfällt.

Islamisten geht es nicht nur um Macht und Politik

Wer die Islamisten als Radikale betrachtet, die eine ganz neue Gesellschaftsordnung einführen wollen, liegt falsch. Selbst die umstrittensten Positionen der Muslimbrüder wie ihre Auffassung, dass Frauen und Christen nicht Staatsoberhaupt werden dürfen, wurden von der konservativen Bevölkerungsmehrheit ihrer Region geteilt. Die Wahlsiege der Islamisten bedeuteten keinen Bruch mit der Vergangenheit. Sie bestätigten eine Einstellung, die schon seit einiger Zeit in der Gesellschaft verbreitet war.

Es ist schwierig zu ermessen, welches Gewicht Ideen und Ideologien haben im Vergleich zum gesellschaftlichen Umfeld, den politischen Strukturen und den internationalen Machtverhältnissen. In der wissenschaftlichen Diskussion der vergangenen Jahre wurden die letzteren Faktoren tendenziell höher bewertet. Doch nachdem ich viel Zeit damit verbracht habe, mit Islamisten zu diskutieren und ihre Gedankenwelt kennenzulernen, bin ich sicher: Für Aktivisten, die Haftstrafen oder gar den Tod in Kauf nehmen, sind ihre Ideen, so vage sie auch sein mögen, von größter Bedeutung. Ihnen geht es um mehr als um Macht und Politik. 

Wie der Islamismus-Experte Richard Mitchell in den 1980er Jahren feststellte, wäre die islamistische Bewegung nicht so wichtig und würde keine so große Aufmerksamkeit verdienen, „wenn keine Idee und keine aufrichtige Überzeugung dahinter stünde“. Etwas, von dem eine genügend große Zahl von Menschen aufrichtig überzeugt ist, lässt sich nicht ohne weiteres aus dem öffentlichen Bewusstsein tilgen. Auf längere Sicht ist es daher unwahrscheinlich, dass der Islamismus oder sein kleinerer Bruder, die konservative Demokratie türkischen Stils, eine entscheidende ideologische Niederlage hinnehmen müssen.

Aus dem Englischen von Anna Latz.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2014: Atomwaffen: Abrüstung nicht in Sicht
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