Zuflucht im Land der frühen Christen

Im Südosten der Türkei gerieten vor der Jahrhundertwende syro-aramäische Christen wie Jesiden zwischen die Fronten. Viele flohen nach Europa, einige kehren nun zurück und beleben ihre Kultur neu.

Angst vor Schlangen habt ihr nicht, oder?“ fragt Samuel Özdemir noch. Dann knipst er die Taschenlampe an, zieht die klapprige Holztür auf und zwängt seinen breitschultrigen Körper im Schein des Vollmonds durch den niedrigen Eingang. Drinnen tanzt der Lichtstrahl über nackte Wände, schlicht verzierte Säulen, einen Steinaltar. „Das Gebäude ist seit 1500 Jahren eine Kirche“, sagt Özdemir, „davor war es vermutlich ein heidnischer Tempel.“ Sein Freund Daniel Demir schaltet das Licht seines Smartphones dazu, um das längliche, gut zwölf Meter hohe Kirchenschiff auszuleuchten. Graffiti auf den Wänden scheinen auf: Namen türkischer Soldaten, Einberufungskohorten und Geburtsorte. Dann wird die Schlange sichtbar, die in die rückwärtige Wand gekritzelt ist, sie windet sich um ein Schwert – ein altes religiöses Symbol sei das, glauben die beiden jungen Männer.

Mor Yahkub und Mor Barsaumo, wie die verfallene Doppelkirche heißt, steht im Dorf Kafro im Tur-Abdin-Gebirge – einst eines der wichtigsten Zentren des nahöstlichen Christentums. Der „Berg der Gottesknechte“ wurde vermutlich schon im 1. Jahrhundert christianisiert. Einige der ältesten Klöster und Kirchen der Welt zeugen bis heute davon, etwa die bekannte Klosteranlage Mor Gabriel. Mittlerweile leben jedoch nur noch wenige Christen hier.

Auch Samuel Özdemir und Daniel Demir sind aramäisch-syrische Christen – „Süryani“ nennt man sie in der Türkei. Türkisch können sie allerdings nicht, sie sprechen Deutsch mit bairisch-schwäbischer Einfärbung. Özdemir und Demir kommen aus Augsburg. Dorthin wanderten ihre Eltern in den 1980er Jahren aus, wie viele andere Einwohner des christlichen Dorfes Kafro flohen sie vor dem brutalen Krieg zwischen der kurdischen PKK und dem türkischen Staat

Autoren

Christian Meier

ist Chefredakteur des Nahost-Magazins „zenith“.

Andy Spyra

arbeitet als freier Fotograf.
Mitte der 1990er Jahre, erzählt Özdemir, habe das türkische Militär Kafro zwangsgeräumt; damals verließen die letzten drei Familien den Ort. Die Kirche wurde geplündert, später benutzten kurdische Hirten sie als Stall. Seither ist das Gotteshaus eine Ruine. „Aber wenn ihr in drei Jahren wiederkommt, wird’s hier schon ganz anders ausschauen“, sagt der 32-Jährige. Gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern wollen er und Daniel Demir die Kirche wieder aufbauen. Dafür verbringen sie den Sommer in der Hitze der Südosttürkei.

Kafro, das zwischenzeitlich verlassene Dorf, ist eine Art Modellprojekt: Als es vor etwa zehn Jahren ruhiger wurde im Tur Abdin, begannen manche der ehemaligen Bewohner in Deutschland und der Schweiz, über eine Rückkehr in ihre Heimat nachzudenken. 2002 gründeten sie den „Entwicklungsverein Kafro“. Sein Ziel ist laut Satzung, den Ort wieder zu besiedeln und weiter zu entwickeln. 2006 kehrten die ersten Kafroer in ihr Dorf zurück.

Inzwischen gibt es dort über ein Dutzend Neubauten, ein Gemeindezentrum und ein kleines Restaurant, das Pizza serviert. Allerdings sind vor allem die Älteren zurückgekehrt. „Ehrlich gesagt, langfristig langweilst du dich mit den ganzen Senioren hier schon“, meint Daniel Demir. Dennoch verbringt der 28-Jährige gerade mehrere Monate in Kafro – vielleicht aus Heimatverbundenheit. Er fühle sich eher als Süryani denn als Deutscher, sagt er.

1915 ist als „Jahr des Schwerts“ in die Geschichte eingegangen

Dass in Europa lebende Syro-Aramäer sich wieder im Tur Abdin ansiedeln, ist das jüngste Kapitel einer langen, komplizierten Geschichte. Die christlichen Minderheiten in der Türkei haben in den vergangenen rund hundert Jahren viel Leid erfahren. 2015 wird sich der Völkermord an den Armeniern zum hundertsten Mal jähren. Weniger bekannt ist, dass auch syrische Christen im Osmanischen Reich zu Tausenden ermordet wurden. Das Jahr 1915 hat sich in ihrem kollektiven Gedächtnis als „Seyfo“ eingebrannt: das „Jahr des Schwertes“. Man geht von mehr als einer halben Million Opfer bis zum Ende des Ersten Weltkriegs aus.

Auch später hatten die syro-aramäischen Christen in der Türkei keinen leichten Stand: Anders als Juden und griechische Christen wurden sie 1923 im Vertrag von Lausanne, der die Grenzen der heutigen Republik Türkei festlegte, nicht als Minderheit anerkannt. In der Ideologie des türkischen Einheitsstaats existieren ihre Kultur und Sprache schlichtweg nicht. Aramäisch darf nicht an Schulen gelehrt werden, und es gibt auch keine Priesterausbildung. Die Christen, erzählt ein Priester in der rund hundert Kilometer entfernten Stadt Diyarbakir, hätten große Angst, dass ihre Kultur aussterbe.

Zudem gerieten die Süryanis zwischen die Mühlen größerer Konflikte: Der Kampf der „Arbeiterpartei Kurdistans“ PKK für Unabhängigkeit ging auch am Tur Abdin nicht spurlos vorbei. Heute ist die Bevölkerungsmehrheit dort kurdisch, die Zahl der verbliebenen Christen wird auf höchstens 10.000 geschätzt.###Seite2### 

Dabei wäre kaum eine Region besser geeignet als der Tur Abdin, die lange Zeit unterdrückte Realität des Vielvölkerstaats Türkei aufzuzeigen. Seit alters her war die Gegend dem Einfluss verschiedener Zivilisationen ausgesetzt: Immer wieder wechselte die Herrschaft, jahrhundertelang lag das Gebiet an der Grenze zwischen dem byzantinischen und dem persischen Sassanidenreich. Neben Kurden und Süryanis leben heute auch Türken und Araber im Tur Abdin – und sogar Jesiden. Die haben ihr Hauptsiedlungsgebiet eigentlich im Sindschar-Gebirge im Nordirak. Als Kämpfer der Dschihad-Gruppe „Islamischer Staat“ (IS) im Sommer begannen, dort Dörfer anzugreifen und Menschen niederzumetzeln, wurden sie ein weiteres Mal in ihrer langen Geschichte zu Flüchtlingen. In den Augen der Dschihadisten sind die Jesiden Teufelsanbeter.

Das Sindschar-Gebirge ist nur rund hundert Kilometer von Midyat entfernt, einem der Hauptorte des Tur Abdin. Direkt außerhalb der 50.000-Einwohner-Stadt mit ihren schmucken Altstadtgassen hat die türkische Regierung ein großes Flüchtlingslager errichten lassen. Ursprünglich war es für Vertriebene aus Syrien gedacht, aber seit Wochen kommen immer mehr Jesiden aus dem Irak hier an. Eine Gruppe von etwa 70 Personen campiert am Rande einer Hauptstraße: In dem Lager, so wurden sie beschieden, sei kein Platz mehr. Die ausgelaugten Männer, Frauen und Kinder haben sich im Schatten einer Klostermauer niedergelassen. Sie warten, dass etwas passiert.

Es ist brennend heiß, die Stimmung gedrückt. „Sie haben die Kinder getötet und die Frauen mitgenommen – die verkaufen sie jetzt für 500 Dollar in arabische Staaten“, sagt ein Mann. Ein anderer berichtet, dass die Gruppe überwiegend aus Khana Sor komme, einem Ort nördlich des Sindschar-Gebirgszugs, und 24 Tage unterwegs gewesen sei. Beim Angriff der IS-Kämpfer seien sie geflohen und hätten es zu Fuß bis in die Türkei geschafft – über die Berge, denn am Grenzübergang habe man sie nicht passieren lassen. Seine Verwandten seien zurück geblieben: „Der zehnstündige Marsch durch die Berge wäre zu schwierig gewesen für sie.“

Jeder hier hat bei den Angriffen Angehörige verloren, viele wurden Zeugen der Gewalt. „Mein Mann wurde umgebracht, ich bin mit meinen beiden Töchtern hergekommen“, berichtet eine Frau tonlos. Ihr Schwager sei in dem Flüchtlingslager, aber man lasse sie und die Kinder nicht zu ihm. Keiner aus der Gruppe versteht, warum sie hier draußen ausharren müssen: „Leute aus dem Lager haben uns erzählt, dass es 150 leere Zelte gibt.“ Das ist schwer zu überprüfen, die Türkei schirmt die Flüchtlingslager im Land streng ab, auch Journalisten dürfen nicht hinein.

Im Tur Abdin gab es einst zehn jesidische Dörfer. Eines davon ist Bacinne, rund zehn serpentinenreiche Kilometer von Midyat entfernt. Der hinter einer Hügelkuppe gelegene Weiler ist eine Ansammlung versprengter ein- und zweigeschossiger Gebäude, die verlassen wirken. Ein Geisterdorf. Auch die meisten Jesiden im Tur Abdin sind in den 1980er und 1990er Jahren ausgewandert; ihnen machte Druck vonseiten der Regierung zu schaffen, die versuchte, sie im Kampf gegen die PKK auf ihre Seite zu ziehen. 

Auf einem Balkon tauchen plötzlich ein paar Frauen auf – jesidische Flüchtlinge, wie sich herausstellt. Leila Rescho ist gemeinsam mit ihren Brüdern und Schwestern vor zwei Wochen im Tur Abdin angekommen. Die Geschwister stammen aus dem Ort Sindschar, den IS-Kämpfer im Sommer angegriffen haben. Ihr Onkel und seine schwangere Frau wurden auf dem Dach ihres Hauses erschossen, weitere Verwandte gefangen genommen – mit großer Wahrscheinlichkeit sind sie ebenfalls nicht mehr am Leben.

Leila Rescho, mit 33 Jahren die Älteste der sieben Geschwister und seit dem Tod der Eltern so etwas wie das Familienoberhaupt, bittet in den Wohnraum. Dort gibt es Wasser und Kaffee, während in einer Ecke „Harry Potter“ im Fernsehen läuft. Ein Jeside, den sie in Midyat getroffen haben, lasse sie in seinem Haus hier wohnen, erzählt Leila. Er lebe seit Jahren in Deutschland und sei nur im Sommer vor Ort. „Leute aus dem Ort versorgen uns mit allem, was wir brauchen.“

Das vermeintliche Geisterdorf hält noch weitere Überraschungen bereit. Am Ortsrand steht ein großes weißes Gebäude, der Torbogen verkündet unter anderem auf Deutsch: „Herzlich willkommen“. Im Hof ist Behram Atalan gerade damit beschäftigt, Spielzeug und Süßigkeiten aus einem Transporter zu laden und an Kinder zu verteilen. Ein fröhliches Gerangel um Plastikfußbälle und Schirmmützen setzt ein. Dutzende Flüchtlinge aus dem Nordirak sind in dem Gemeindezentrum untergekommen, das vor ein paar Jahren gebaut wurde von Bewohnern des jesidischen Dorfes, die selbst nun überwiegend in Deutschland leben.

Behram Atalan wurde 1983 in Bacinne geboren. 1989 emigrierte seine Familie nach Deutschland, seitdem lebt er in Senden bei Münster. Eigentlich, berichtet der 31-Jährige, wollte er gemeinsam mit Freunden in der alten Heimat Urlaub machen. „Aber dann wurden wir auf einmal von Touristen zu Nothelfern.“ Die Flüchtlingswelle berühre sie sehr. „Ich bin an sich nicht religiös, aber hier geht es um meine Identität, um meine Kultur“, sagt Atalan. Ohne die PKK hätten die Flüchtlinge nicht vor den IS-Kämpfern gerettet werden können, ergänzt sein Freund Mikail Akyüz.

Im Gemeindezentrum werden Flüchtlinge registriert, versorgt und in andere Unterkünfte vermittelt. Insgesamt sei hier seit Beginn der Krise schon mehr als 700 Leuten geholfen worden, sagt Atalan. Wenn er wieder in Deutschland ist, will er erreichen, dass seine Gemeinde in Nordrhein-Westfalen eine Art Patenschaft für eine Flüchtlingsfamilie übernimmt: „Es gibt so viele Waisen hier.“ Einen Tag später wird bekannt, dass auch einige der 70 am Straßenrand gestrandeten Flüchtlinge in das Gemeindezentrum gebracht wurden.

Fünf Kilometer südlich vom ­Kloster tobt der Bürgerkrieg

Zurück nach Kafro, das nicht weit von Bacinne entfernt liegt. Nur eine Hügelkette trennt die Dörfer, zwischen denen es allerdings keine Straßenverbindung gibt. Es geht an den Südrand des Tur Abdin. Das Kalksteingebirge fällt steil ab, es beginnt die mesopotamische Ebene, die sich bis in den südlichen Irak erstreckt. Mit jedem Kilometer weiter nach Süden wird es heißer. Hoch oben am Gebirgsrand liegt das syro-aramäische Kloster Mor Augen. Hat man es erreicht, stellt sich unwillkürlich ein Gefühl der Ruhe ein – dabei beginnt keine fünf Kilometer südlich Syrien, das Bürgerkriegsland.

„Ich war zehn Jahre in der Nähe von Damaskus, am Sitz unseres Patriarchen“, erzählt Vater Joaqim Raban. Er ist der einzige Mönch hier oben, in einem der ältesten Klöster der Christenheit. Mor Augen wurde im 4. Jahrhundert von dem Ägypter Augen gegründet, der die monastische Tradition in den Tur Abdin brachte. Zu seinen Hochzeiten soll das Kloster 350 Mönche beherbergt haben, Anfang des 20. Jahrhunderts waren es noch 13. Nach dem Tod des letzten Mönchs 1970 stand die Anlage leer, bis Joaqim 2011 vom Bischof geschickt wurde mit dem Auftrag, Mor Augen wieder aufzubauen.

Seither restauriert der 39-Jährige mit der Hilfe von Christen aus den umliegenden Dörfern Schritt für Schritt die Anlage. Joaqim stammt aus der Nähe von Midyat, mit Daniel Demir und Samuel Özdemir spricht er im lokalen aramäischen Dialekt. Sie alle haben eine Geschichte der Migration hinter sich: Joaqims Familie wanderte  1989 in die Niederlande aus. 2000 kehrte er zurück.

Was denkt er, wenn er die Flüchtlinge aus Syrien kommen sieht? „Ich erinnere mich daran, dass auch meine Familie einst flüchten musste“, sagt Joaqim. Özdemir und Demir nehmen ein wenig Erde aus der Grabkammer des Klostergründers Augen mit, wie es Brauch ist bei den syro-aramäischen Christen. Sie blicken auf die syrische Ebene, über der die Sonne sich langsam dem Horizont nähert. Weit entfernt steigt eine Rauchsäule auf.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2014: Der Glaube und das Geld
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