Das tägliche Gift

In China sind viele Ackerflächen mit Schwermetallen aus der Industrie belastet. Was dort wächst, ist gesundheitsschädlich. Und die Regierung ist nicht einig, wie die Böden saniert werden sollen.

Ackerbau war immer schwierig in der Gegend um die Stadt Baiyin in Chinas nordwestlicher Provinz Gansu: Das Gebiet ist staubtrocken, es regnet selten. Seit den 1960er Jahren hat sich hier bis zur Wüste Gobi die Bergbau- und Chemieindustrie ausgebreitet und das vorhandene Frischwasser aufgesaugt. Über Jahrzehnte mussten Bauern entlang des Dongdagou, des größten Abwasserkanals von Baiyin, ihre Felder mit stinkendem dunklem Abwasser bewässern.

2012 erfuhr der Bauer Wu Zonglu von Bodenexperten, die aus Peking an den Kanal gekommen waren, dass der Ackerboden in seinem Dorf Miqin als gefährlich eingestuft war und „der Verzehr von Früchten dieses Bodens an Selbstmord grenzt“. Der 56-Jährige traf die Experten, als er an einem staatlichen Pilotprogramm zur Behandlung von Bodenproblemen im Dongdagou-Gebiet teilnahm. Hier hörte er zum ersten Mal die Begriffe „Schwermetall“ und „Bodenkontamination“. Man riet ihm davon ab, Mais und Weizen von seinem Ackerland zu essen. „Aber das tun wir doch schon seit Jahren. Was bleibt uns anderes übrig?“, fragte Wu und bekam keine Antwort.

Autorin

Liu Hongqiao

ist Journalistin und Mitarbeiterin von www.chinadialogue.net in Peking.
Über Jahre haben sich in Wus Knochen Schwermetalle abgelagert. Vor 20 Jahren bekam er Schmerzen in den Knochen, schließlich auch in den Oberschenkeln und im Kreuz. Seine Frau hat es noch schlimmer getroffen: Sie kann kaum noch die Hände ausstrecken. Fast alle in Wus Dorf haben diese Knochenschmerzen, und alle beschreiben die Krankheit auf dieselbe Weise: Ein Gefühl der Kälte, das an den Gelenken entsteht und sich auf den Rest des Körpers ausdehnt. Das deutet ziemlich sicher auf die „Itai-Itai-Krankheit“ hin – eine umweltbedingte Erkrankung, an der in Japan in den 1950er bis 1970er Jahren mehr als 200 Menschen starben, erklärt ein Experte vom chinesischen Zentrum für die Kontrolle von Krankheiten.

In ganz China leiden Millionen Menschen direkt oder indirekt darunter, dass Böden vergiftet sind. In vielen Trockengebieten sind immer wieder unbehandelte Industrieabwässer zur Bewässerung verwendet worden. Darüber hinaus haben industrielle Abgase und Rückstände das Ackerland belastet. Wie viele Anbauflächen verschmutzt wurden und wo, waren in China lange die zwei Schlüsselfragen zur Bodenkontamination. Im April dieses Jahres haben das Umweltministerium (MEP) und das Ministerium für Land und Ressourcen (MLR) ihren Bericht dazu veröffentlicht. Seine alarmierenden Statistiken machen den Schaden für bewirtschaftete wie unbewirtschaftete Flächen deutlich. 

Mit unsinningen Mengen Kunstdünger den Boden verseucht

Etwa 16 Prozent aller landesweit entnommenen Bodenproben wiesen eine viel zu hohe Schadstoffbelastung auf, heißt es in dem Bericht. Fast ein Fünftel der Ackerfläche sind kontaminiert – laut Regierung geschätzte 26 Millionen der 133 Millionen Hektar, die für den Anbau nutzbar sind. Ungefähr zehn Prozent der im Wald und 10,4 Prozent der auf Weideland entnommenen Bodenproben enthielten hohe Schadstoffkonzentrationen. Laut dem Bericht ist der Boden im Süden Chinas stärker belastet als in den nördlichen Landesteilen. Die Verschmutzung mit Schwermetallen, oft eine Begleiterscheinung des Bergbaus, ist in den südwestlichen und zentralchinesischen Regionen am stärksten.

Unter allen giftigen Schwermetallen, die von den Wissenschaftlern entdeckt wurden, sei Cadmium am weitesten verbreitet, heißt es in dem Bericht. Er liefert damit zugleich die erste regierungsamtliche Bestätigung für die toxischen Auswirkungen von Cadmium. Außerdem wurden unterschiedliche Mengen an Quecksilber, Arsen, Kupfer, Blei, Chrom, Zink und Nickel festgestellt. Cadmium wurde in sieben Prozent aller Bodenproben gefunden, Nickel war mit 4,8 Prozent am zweithäufigsten, gefolgt von Arsen mit 2,7 Prozent.

Der hohe Schwermetallgehalt im Boden hat an einigen Stellen natürliche Gründe, aber die wichtigste Ursache sind stark umweltverschmutzende Industriezweige wie der Bergbau, das Hüttenwesen und die Textilindustrie. Manche Giftstoffe wurden laut Bericht durch Schornsteine in die Luft gepumpt und schlugen sich dann nieder. Andere gelangten über Industrie- oder städtische Abwässer oder über Bergbaurückstände in den Ackerboden.

Die zweitgrößte Quelle von Bodenverschmutzung ist die Landwirtschaft. „Die Bewässerung der Äcker mit verschmutztem Wasser, unsinnige Mengen von Kunstdünger, Pestiziden, Plastikfolien und anderen landwirtschaftlichen Einträgen sowie die Massentierhaltung haben zur Verschmutzung des landwirtschaftlichen Bodens geführt“, heißt es dazu.

Erwähnt werden zudem die Gefahren durch Bodenkontamination in Stadt- und Industriegebieten, die offiziell bisher nicht kommentiert worden waren. „Belastete Flächen zu erschließen und zu bebauen, ohne sie zuvor zu reinigen, kann für die betroffenen Menschen zu langfristigen Schäden führen“, heißt es. Eine der bedrohlichsten Folgen sei, dass auf cadmiumverseuchten Feldern Reis angebaut wird. Da knapp zwei Drittel der chinesischen Bevölkerung auf Reis als Hauptnahrungsmittel angewiesen sind, gilt dieses Problem als außerordentlich schwerwiegend. Noch haben die Behörden keinen Plan, es in den Griff zu bekommen.

Die Gesundheitsgefahr durch verseuchten Reis hat in den wichtigsten Nahrungsmittel produzierenden Regionen wie Hunan und Jiangxi begonnen und breitet sich auf andere Gebiete aus. 2009 nahmen Forscher der chinesischen Akademie der Wissenschaften in Hunan Proben von insgesamt 100 Reisfeldern, die sich alle in der Nähe von Bergwerken befanden. Sie stellten fest, dass zwei Drittel der Proben den vom nationalen Amt für Lebensmittelhygiene festgesetzten Cadmiumgrenzwert überschritten. Außerdem fanden sie heraus, dass kontaminierter Reis wiederholt auf den lokalen Markt und in den nationalen Nahrungsmittelvertrieb gelangt ist.

Niemand weiß, wie viel Anbaufläche von Cadmium belastet war oder ist. Ebenso wenig gibt es ein System, um alle Auswirkungen der Bodenverschmutzung auf das im Land angebaute Getreide – Reis und andere Arten – festzustellen. Um die möglichen Gesundheitsschäden infolge der Bodenkontamination zu ermitteln, ist aber genau das erforderlich.###Seite2###

2007 sammelte ein Forscherteam unter Leitung von Professor Pan Genxing von der Agrarwissenschaftlichen Universität Nanjing auf Farmen im ganzen Land Reisproben. Jede zehnte der 91 untersuchten Proben wies eine für Menschen giftige Cadmiumkonzentration auf. Auch Pflanzen, Insekten und Tiere sind laut der Untersuchung gefährdet, denn Cadmium beeinträchtige das Wachstum und die Reproduktionsfähigkeit von Pflanzen, Bodenwühlern, Regenwürmern und Mikroorganismen. Giftstoffe stören ökologische Vorgänge und die natürlichen Funktionen des Bodens – etwa die Fähigkeit, Pflanzen Nährstoffe zu liefern.

Menschen in verseuchten Gebieten können nur selten die lokale Landwirtschaft und ihre Ernährungsweise ändern. So nehmen sie weiter Reis, Gemüse und Wasser mit einer hohen Schadstoffbelastung zu sich. Um die Gesundheitsschäden in verschmutzten Gebieten umfassend beurteilen zu können, wird das chinesische Zentrum für die Kontrolle von Krankheiten eine Untersuchung mit 5000 Menschen aus allen Landesteilen durchführen. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Anteil an Proben mit einer Cadmiumkonzentration über dem nationalen Grenzwert von fünf Mikrogramm pro Gramm im Urin „sehr hoch“ ist. Selbst der Anteil an Proben, die den weniger strengen Grenzwert der Weltgesundheitsorganisation von zehn Mikrogramm pro Gramm übersteigen, „ist noch beachtlich“.

Das Gift im Boden wird man nur schwer wieder los

Was kann man tun? Nicht viel. Ist das Erdreich erst einmal vergiftet, dann ist es sehr schwierig, es wiederherzustellen, indem die Verschmutzungsquelle abgestellt wird. Und die Kosten für das Reinigen von verschmutztem Boden sind hoch. Es dauert lange und ist sehr kompliziert. „Schwermetalle sind schwer abbaubar, sie vollständig aus dem Boden zu entfernen ist unmöglich“, heißt es in dem Bericht. Auch organische Schadstoffe wie Pestizide und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe – sie entstehen bei unvollständiger Verbrennung von Öl, Kohle oder Holz und sind krebserregend – brauchen lange, bis sie ganz abgebaut sind.

Die Zahl der Sanierungsmethoden ist groß. Physikalische und chemische Methoden (dabei wird die Erde entweder abgetragen und gereinigt oder der Acker mit speziellen Chemikalien gespült) sind wirksam und das Land könnte innerhalb weniger Monate wieder nutzbar sein – doch die Kosten sind immens. Die Alternative sind biologische und botanische Methoden, dabei binden bestimmte Pflanzen oder Organismen die Gifte. Sie sind viel billiger, aber langwieriger und weniger wirksam. Im Übrigen ist jedes belastete Landstück anders – es gibt keine allgemein gültige Lösung für sämtliche Bodenkontaminationsprobleme in China. Nicht zu vergessen ist die Zeitfrage: Wie lange können die Menschen noch auf gesundes, sauberes Ackerland warten?

Das Ausmaß der Bodenvergiftung in China wird allmählich klar. Das Jahr 2014 markiert einen Meilenstein. Der Bericht der beiden Ministerien hat die Bodenkrise in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Er hat außerdem den aufblühenden Markt der gewerblichen Bodensanierung weiter belebt. Und im März 2014 hat Ministerpräsident Li Keqiang der Bodenverschmutzung den „Krieg erklärt“. Es gibt viel zu tun: die verunreinigten Flächen ermitteln, das Wissen darüber zugänglich machen, die Sanierung des belasteten Bodens angehen und finanzieren, neue Industriestandards schaffen und das Betriebsmanagement verbessern, um künftige Umweltbelastungen zu vermeiden.

Doch nach Ansicht von Wang Kairong von der Agrarwissenschaftlichen Universität Qingdao ist die Regierung uneins über die Ziele einer Bodenbehandlung. Soll man die Entfernung der Schadstoffe aus dem Erdreich, also dessen vollständige Entgiftung anstreben? Oder sollte man lediglich die Schadstoffkonzentration auf ein akzeptables Maß reduzieren, um die Sicherheit der Agrarprodukte zu gewährleisten? Darüber gehen die Meinungen quer durch die verschiedenen Regierungsebenen auseinander.

In der Zentralregierung läuft seit Jahren eine Debatte zwischen dem Umweltministerium (MEP) und dem Landwirtschaftsministerium (MoA): Ersteres befürwortet grundsätzlich eine Sanierung des Bodens; letzteres benutzt nur selten diesen Begriff. Gegenüber den Medien hat das MoA einmal erklärt, landwirtschaftliche Flächen würden in Zukunft nach ihrem jeweiligen Schadstoffgehalt klassifiziert und dann mit geeigneten Methoden und Pflanzensorten bewirtschaftet. Ein beiden Ministerien nahestehender Experte bestätigt, dass man im Landwirtschaftsministerium eher zur Beherrschung als zur Sanierung der Bodenverschmutzung neige. „Selbst im MEP und MoA gehen die Meinungen auseinander, und das Ministerium für Land und Ressourcen wie auch das Wissenschafts- und Technologieministerium haben ihre eigenen Ansichten dazu.“

Auch in akademischen Kreisen herrscht Uneinigkeit. Manche Wissenschaftler behaupten, ein nicht völlig gereinigter Boden werde weiter Pflanzen und das Grund- und Oberflächenwasser vergiften, was sich langfristig auf die Umwelt und die Gesundheit auswirke. Dem stehen zwei gewichtige Argumente entgegen: Die Sanierungstechnik ist noch nicht ausgereift und sie könnte am Ende mehr kosten, als die Gesellschaft zu zahlen bereit ist.

Wer zahlt für die Sanierung der Böden?

Chinas Gesetze und Vorschriften über die Verhütung und Behebung von Bodenverschmutzung und über die Wiederverwertung von belastetem Boden sind unzureichend und definieren die Pflichten und Aufgaben der Beteiligten nicht klar genug. Nach wie vor gibt es kein System, nach dem Umweltsünder zur Verantwortung gezogen werden. In einem neuen Bodenschutzgesetz soll zwar das Verursacherprinzip verankert werden, doch das Gesetzgebungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen.

Gao Shengda, der Geschäftsführer des chinesischen Verbands der Umweltsanierungsunternehmen, weist darauf hin, dass es bisher an Erfahrungen mit Methoden der Bodensanierung mangelt. Die Regierung sei auf einen Schnellschuss ebenso wenig vorbereitet wie die Öffentlichkeit, die Fachwelt und der Markt. Seiner Ansicht nach besteht die vordringliche Aufgabe darin, zwischen „Altlasten“ und neuerdings verunreinigten Böden zu unterscheiden. Für Altlasten, bei denen die Verursacher nicht mehr zu ermitteln sind, solle der Staat die Sanierungskosten tragen. Strengere Emissions- und Kontrollnormen sollten zusätzlich verhindern, dass Unternehmen weiter Böden verschmutzen.

Trotz der ungeklärten Fragen wird bereits investiert: Die Regierung hat in ihrem 12. Fünfjahresplan zum nationalen Umwelt- und Bodenschutz 30 Milliarden Yuan für die landesweite Bodensanierung bereitgestellt. Nun schießen neue Umweltsanierungsfirmen wie Pilze aus dem Boden. Die Aussichten, die Bodenkrise in China zu beheben, bleiben trotzdem trübe.

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2014: Früchte des Bodens
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