„Slumbewohner gelten nicht als Menschen mit Rechten“

In Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, leben derzeit fast 4 Millionen Menschen in Slums ohne ausreichenden Zugang zu sauberem Wasser, Strom, Gesundheitsdiensten und Bildungseinrichtungen. Bis 2025 wird sich diese Zahl voraussichtlich verdoppeln. Für Muzammal Hoque, den Direktor der Organisation Assistance for Slum Dwellers, ist ein menschenwürdiges Leben unter diesen Umständen dann kaum noch möglich. Zu einer Umsiedlung von Slumbewohnern gebe es deshalb keine Alternative.

Muzammal Hoque ist Direktor der Organisation Assistance for Slum Dwellers. Sie kümmert sich seit 1988 um die Belange der Bewohner von Armenvierteln in Dhaka und anderen Städten in Bangladesch.

In einem deutschen Zeitungsbeitrag wurden die Slums in Dhaka neulich als „Geschwür“ bezeichnet. Was halten Sie von solchen Vergleichen?

Derlei Vergleiche sind durchaus berechtigt, denn wir haben 4000 Slums in Dhaka. Derzeit leben 3,7 Millionen Menschen in diesen Armenvierteln. Laut Schätzungen wird die Bevölkerung von Dhaka von gegenwärtig 15 Millionen bis 2025 auf 25 Millionen Menschen wachsen. Ein Drittel davon wird in Slums leben, also 8 Millionen Menschen.

Woher kommen die Slumbewohner?

Aus den ländlichen Gebieten aus ganz Bangladesch.

Was hoffen sie in Dhaka zu finden?

Die Leute gehen nach Dhaka, weil sie kein kultivierbares Land haben, weil die Böden erodiert sind, weil es Überschwemmungen und Dürren gibt. Sie verlassen ihre Dörfer, weil sie arbeitslos sind und kein Geld verdienen können. Sie hoffen, in der Stadt ein Einkommen zu finden.

Ist das realistisch? Finden die Leute Arbeit in der Stadt?

Ja, vor allem im informellen Sektor. Einige finden Arbeit in der Textilindustrie. Mädchen und junge Frauen arbeiten als Dienstmädchen, Männer vor allem als Rikschafahrer, Straßenhändler, in Teestuben oder auf dem Bau.

Bedauern viele Zuwanderer, dass sie ihre Dörfer verlassen haben?

Es gibt Leute, deren Land durch Erosion oder den Klimawandel unbrauchbar geworden ist, die kehren nie mehr zurück. Andere kommen in die Stadt, um Geld zu verdienen, halten aber Verbindung zu ihren Dörfern. Insgesamt gehen wenige wieder zurück. Auf dem Land haben sie einfach nichts zu tun, während sie sich in der Stadt irgendwie durchschlagen.

Geht es den Leuten denn unterm Strich in der Stadt besser als auf dem Land?

Nein, sie sind nicht unbedingt in einer besseren Lage in der Stadt. Die Bewohner der Slums leben in ständiger Furcht, vertrieben zu werden. Sie haben keinerlei Anspruch auf das Land, auf dem sie leben. Sie haben keinen Zugang zu sauberem Wasser und zu sanitärer Versorgung. Und es gibt eine hohe Kriminalität in den Slums. Die meisten Slumbewohner kämpfen jeden Tag ums Überleben.

Wer kümmert sich um die Versorgung mit Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung und Sicherheit?

Im Prinzip ist der Staat dafür verantwortlich, genauer gesagt die Stadtverwaltung von Dhaka. Aber die hat kein Geld, alle benötigten Leistungen bereitzustellen. Deshalb kümmern sich vor allem nichtstaatliche Organisationen darum. Sie arbeiten in den Slums, um die Lage zu verbessern.

Haben die Slumbewohner die Möglichkeit, sich Gehör bei der Politik zu verschaffen, um die Leistungen einzufordern?

Nein, sie haben keinen politischen Einfluss, aber einige Slumbewohner sind Mitglieder von politischen Parteien. Die Parteien benutzen sie, um ihre Programme zu verbreiten, etwa mittels Versammlungen oder Demonstrationen. Leider haben die Anliegen der Slumbewohner keine Priorität. Einige nichtstaatliche Organisationen versuchen, den Stimmen der Slumbewohner mehr Kraft zu geben, zum Beispiel indem sie mit ihnen zusammen Selbsthilfe-Organisationen – community-based organisations – gründen. Es gibt in Dhaka eine Koalition von NGOs, die auf diese Weise die Selbsthilfekräfte der Slumbewohner stärken wollen, die Coalition for the Urban Poor.

Was tun diese Selbsthilfe-Organisationen?

Sie vertreten die Slumbewohner und kümmern sich um ihre Angelegenheiten, vor allem in Krisenzeiten. Sie bemühen sich, soziale Probleme zu lösen, und verhandeln mit politischen Institutionen. In einigen Fällen haben sie zum Beispiel Proteste gegen die Räumung von Slums organisiert. Aber so richtig wirkungsvoll sind solche Bemühungen noch nicht.

Unterscheiden sich die Lebensbedingungen in den verschiedenen Slums in Dhaka?

Ja, es gibt Slums in der Innenstadt und andere, die in den Außenbezirken liegen. Die Leute, die in der Stadt wohnen, sind besser dran, weil sie leichter Jobs finden und der Weg zur Arbeit nicht so weit ist. Sie haben außerdem bessere Kontaktmöglichkeiten zu Bewohnern wohlhabenderer Stadtviertel.

Welche Art Kriminalität gibt es in den Slums?

Die Slums werden zum Beispiel für den Drogenhandel genutzt. Drogenhändler können sich in den Slums verstecken, weil sie dort niemand kennt. Kriminelle aus verschiedenen Teilen von Bangladesch finden in den Slums von Dhaka Unterschlupf. Selbst wenn die Bewohner wissen, dass Gangster unter ihnen sind, sagen sie oft nichts, weil sie ohnehin keine Macht haben, das zu ändern. Die Slums werden von Leuten außerhalb kontrolliert, zum Beispiel von politischen Führern oder Leuten aus der Stadtverwaltung.

Bestehen in den Slums informelle politische Strukturen?

Wie gesagt, die Slums werden von Kräften von außen kontrolliert, die allerdings vor allem im Verborgenen handeln. In den Slums selbst gibt es keine politischen Strukturen. Nur wenige Bewohner sind politisch engagiert; in den meisten Slums sind die politischen Parteien nicht vertreten. Andererseits müssen die Leute manchmal Geld an lokale Führer zahlen, um Schutz zu erhalten oder als eine Art Miete. In vielen Slums werden Strom- und Wasserleitungen illegal angezapft, und die Leute, die die Slums kontrollieren, verlangen dafür Geld von den Bewohnern. Aus diesem Grund wird der Kampf um die Kontrolle der Slums manchmal gewaltsam ausgetragen.

Macht es einen Unterschied, ob Slumbewohner auf öffentlichem oder privatem Boden wohnen?

Nein, im Prinzip nicht. Die meisten Slums befinden sich auf privatem Land, wenige auf öffentlichem Land. In beiden Fällen ­haben die Slumbewohner nur unzurechend Zugang zu grundlegender Versorgung und müssen jederzeit damit rechnen, vertrieben zu werden. Wenn zum Beispiel ein Landbesitzer bauen will, wird er die Slums einfach räumen lassen. Slumbewohner gelten nicht als Menschen mit Rechten. Auf privatem Land müssen sie dem Besitzer Miete zahlen. Auf öffentlichem Land müssen sie politischen Führern oder anderen mächtigen Leuten etwas zahlen, nur damit sie bleiben dürfen.

Gibt es Pläne, Slumbewohnern Landrechte zu geben?

Ja, es gibt einige Initiativen der Regierung, aber die Sache ist sehr schwierig. Die Regierung hat die Idee, Slumbewohner außerhalb der Stadt anzusiedeln.

Was halten Sie davon?

Der Erfolg dieser Idee hängt von der Bereitstellung geeigneter Infrastruktur ab, etwa guten Transportmöglichkeiten. Viele Slumbewohner arbeiten in der Innenstadt und müssen schließlich irgendwie dort hinkommen. Aber langfristig gibt es wohl keine Alternative dazu, Slumbewohner umzusiedeln, weil die Stadt einfach zu voll ist.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

 

erschienen in Ausgabe 8 / 2010: Metropolen: Magnet und Molloch

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