Gewagte Rechenmanöver

Der Anteil der Armen in Afrika sinkt – die Frage ist nur, wie schnell

Von Helmut Asche

Die von Ökonomen weltweit geführte Diskussion über die Frage „Wie geht es Afrika?“ durchläuft spannende Phasen. Noch zu Beginn dieses Jahrzehnts lautete die Frage, warum der Kontinent so unerklärlich langsam wächst (so der Titel eines klassischen Aufsatzes von Paul Collier und Jan Willem Gunning). Die empirische Wachstumsforschung kam regelmäßig zu dem Ergebnis, dass Afrikas Staaten langsam wachsen, eben weil sie in Afrika sind. Mit einigem Zeitverzug auf die Realität hat sich diese Diskussion völlig gedreht. Wir wissen heute, dass Afrika die stärkste Wachstumsphase seit den Jahren nach der Unabhängigkeit hinter sich hat und vergleichsweise gut durch die weltweite Wirtschaftskrise gekommen ist. Auch die Zahl der Kriege und Bürgerkriege ist stark zurückgegangen.

Diese erfreuliche Feststellung muss aber in zweierlei Hinsicht eingeschränkt werden: Erstens sind die Strukturprobleme der Landwirtschaft und der Industrie in Afrika längst noch nicht behoben. Zweitens sagen selbst wachsende Pro-Kopf-Einkommen wenig über die Beseitigung der Armut. Das Millenniumsziel 1 – den Anteil der Armen an der Weltbevölkerung von 1990 bis 2015 zu halbieren – scheint außer Reichweite. Statistiker der Weltbank haben das Problem vor zwei Jahren noch verschärft, indem sie die seit 1990 geltende maßgebliche internationale Armutsgrenze von einem US-Dollar Einkommen pro Tag rückwirkend auf 1,25 Dollar angehoben haben – mit dem unangenehmen Ergebnis, dass der Anteil der armen Bevölkerung 2005 von 41 Prozent auf 51 Prozent gestiegen ist, wenngleich mit klar fallender Tendenz (Chen and Ravallion 2008). Dass das Millenniumsziel für alle Entwicklungsländer in Reichweite bleibt, verdanken wir im Wesentlichen den Fortschritten in China.

Im März aber haben Xavier Sala-i-Martin von der Columbia University in New York und Maxim Pinkovskiy aus Cambridge die Experten weltweit mit der Analyse aufgestört, dass die Armut in der Welt viel rascher zurückgeht als bislang gedacht – auch in Afrika (Pinkovskiy und Sala-i-Martin 2009; Sala-i-Martin und Pinkovskiy 2010). Die beiden Wissenschaftler prognostizieren, dass – gemessen an der Armutsgrenze von einem Dollar pro Tag – auch das subsaharische Afrika das erste MDG erreichen kann. Im Jahr 2015 werden ihren Berechnungen zufolge nur noch 21 Prozent der Afrikaner unter der Ein-Dollar-Grenze leben. Da auch ihr Ausgangswert für 1990 mit 42 Prozent geringer ist als der von Weltbank und Vereinten Nationen (UN), bedeutet das eine statistische Punktlandung: die Halbierung der Armut in genau 25 Jahren. Ohne den Kongo würde das Ziel ihrer Ansicht nach sogar zwei bis drei Jahre früher erreicht.

Sala-i-Martin und Pinkovskiy widersprechen damit allen Ergebnissen der MDG-Kontrollen der Vereinten Nationen und der Weltbank, die wenig Fortschritte beim Abbau extremer Armut in Afrika zeigen. Überdies, so die beiden Wissenschaftler, sei trotz der angeblich ungleichen Teilhabe am Rohstoffboom die Kluft zwischen hohen und niedrigen Einkommen seit 1995 kleiner geworden. Da die Einkommensunterschiede sich eher verkleinert haben, sei die Entwicklung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens ein guter Indikator für die Abnahme der Armut in Afrika (siehe Grafik).

Die Ergebnisse von Sala-i-Martin und Pinkovskiy liegen durchaus im Trend; auch andere Quellen signalisieren einen relativ raschen Rückgang der Armut in Afrika in der laufenden Dekade. Der „dramatische Trendwechsel“, den beide Autoren auf das Jahr 1995 datieren, zeigt sich auch in anderen Werten, ebenso die erstaunlich gleichmäßige Verteilung des Wachstums auf rohstoffreiche und rohstoffarme Staaten. Doch wegen des hohen Bevölkerungswachstums steigt die absolute Zahl der Armen in Afrika weiter – es gibt deshalb keinen Grund, mit den Entwicklungsanstrengungen nachzulassen.

Wie aber kommen Sala-i-Martin und Pinkovskiy zu ihrem erstaunlich optimistischen Ergebnis? Martin Ravallion, der zuständige Statistiker der Weltbank, behauptet, die beiden Wissenschaftler verwendeten bei ihren Rechnungen faktisch sogar eine Armutsgrenze von nur 0,9 Dollar pro Tag. Es sei deshalb logisch, dass bei ihnen weniger Menschen als arm gelten.

Entscheidend dürfte jedoch sein, dass Sala-i-Martin und Pinkovskiy auf einen recht wilden Methodenmix zurückgreifen. In den vergangenen fünfzehn Jahren wurden Berechnungen von Haushaltseinkommen und Armut in Entwicklungsländern meist auf besondere Einkommens- und Verbrauchsstichproben (Mikrozensus) gestützt und nicht bloß auf einer Schätzung der Pro-Kopf-Einkommen auf Grundlage der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Sala-i-Martin und Pinkovskiy kombinieren beide Verfahren: Sie übertragen die Verteilung der Haushaltseinkommen aus den genannten Mikrozensen (insgesamt 118 für das subsaharische Afrika) in einem Modell auf die Entwicklung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens und errechnen daraus den Anteil derer, die weniger als ein oder zwei Dollar verdienen. Diese Verknüpfung zweier Datensätze (volkswirtschaftliche Gesamtrechung und Ergebnisse der Mikrozensen) macht es ihnen möglich, Datenlücken zu schließen und Entwicklungen für das Jahr 2015 hochzurechnen. Das ist sehr gewagt, zumal der private Verbrauch in den Sozialproduktsrechnungen eine Restgröße ist. Zum anderen wurden zwar mittlerweile für 38 der 48 Länder südlich der Sahara solche Mikrozensus-Befragungen durchgeführt, aber nur für 18 unter ihnen mehr als eine seit 1995, und deren Vergleichbarkeit ist eingeschränkt.

Schließlich benutzen die beiden Wissenschaftler Angaben zum laufenden Einkommen und nicht zum Verbrauch, was zwar für deutsche Haushalte angemessen wäre, da wir unser Einkommen besser kennen als unseren Verbrauch, aber nicht für Haushalte in Afrika. Dort lassen sich nämlich die Einkommen gerade der Armen besonders schwer schätzen, während die Reicheren ihre Einkommen noch besser verstecken als bei uns. Kurz: Die Ergebnisse von Sala-i-Martin und Pinkovskiy sind kein solider Nachweis dafür, dass gemessen an der Gesamtbevölkerung bald auch in Afrika nur noch halb so viele Menschen wie 1990 extrem arm sein werden – selbst wenn der Trend in diese Richtung zu gehen scheint. Zudem sollte man in Erinnerung behalten, dass auch ein Leben an der Zwei-Dollar-Grenze noch keinen hohen Standard bedeutet. Keineswegs beginnt oberhalb dieser Grenze die globale Mittelklasse, wie der Weltbank-Statistiker Ravallion in liberaler Verklärung behauptet (Ravallion 2010).

Helmut Asche ist Direktor des Instituts für Afrikanistik an der Universität Leipzig.

 

Literatur: Chen, S., und M. Ravallion (2008) The developing world is poorer than we thought, but no less successful in the fight against poverty Policy Research Working Paper, Washington DC, World Bank

Pinkovskiy, M. and X. Sala-i-Martin (2009) Parametric Estimations of the World Distribution of Income NBER Working Paper Series, Cambridge MA, NBER

Ravallion, M. (2010). The Developing World’s Bulging (but Vulnerable) Middle Class World Development 38(4),  S. 445-454

Sala-i-Martin, X. und M. Pinkovskiy (2010) African Poverty is Falling...Much Faster than You Think! NBER Working Paper Series, Cambridge MA, NBER

 

erschienen in Ausgabe 8 / 2010: Metropolen: Magnet und Molloch

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