„Zuwanderung steuern erleichtert die Integration“

Hoch entwickelte Länder profitieren von der Zuwanderung von Arbeitskräften. Deren Integration sei jedoch für beide Seiten ein anstrengender Prozess, erklärt Klaus Jürgen Bade. Der Migrationsforscher plädiert dafür, die Einwanderung nach Kriterien wie Qualifikation, Sprachkenntnissen und Alter zu steuern. Zugleich sollten kurzfristig besonders gesuchte Arbeitskräfte angeworben werden. In armen Gebieten mit hohem Abwanderungsdruck, etwa Afrika, würden davon nur wenige profitieren; sie sollten die Chance auf eine zeitlich befristete legale Beschäftigung erhalten.

Es heißt oft, dass Migration den Herkunftsländern wie den Aufnahmeländern nützt. Stimmt das?

Das ist sozusagen der Idealfall, wenn etwa in den Ausgangsräumen Arbeitslosenzahlen abgebaut und in den Zielräumen Engpässe am Arbeitsmarkt behoben werden können. Das bedeutendste neuere Beispiel in Europa waren die so genannten Gastarbeiter und zum Teil auch die Zuwanderer aus früheren Kolonien, etwa in Frankreich, England oder den Niederlanden. Das Wirtschaftswunder in Deutschland hätte sich ohne die hilfreichen Hände aus dem Ausland sicher nicht so vollzogen. Die Ausländer haben außerdem am Arbeitsmarkt als Konjunkturpuffer gewirkt, weil sie im Fall von Krisen meist als erste ihre Arbeitsplätze verloren.

Kann Zuwanderung auch die Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung aufhalten?

Nein. Das ist eine Milchmädchenrechnung. Wenn wir in der Bundesrepublik, wo die Bevölkerung schrumpft und der Anteil der Älteren ständig steigt, nur die Altersstruktur auf dem heutigen Niveau halten wollten, müssten wir lange Zeit Jahr für Jahr mehr als eine Million möglichst junger Menschen ins Land holen. So viele Zuwanderer könnte unsere Gesellschaft sicher nicht integrieren. Mit Zuwanderung kann man allenfalls die Folgen des demografischen Wandels für die Sozialsysteme etwas abfedern. Aber die Wanderungsüberschüsse gehen ständig zurück. Vermutlich sind wir auf dem Weg zu ausgeglichenen Wanderungsbilanzen. Das führt mittelfristig dazu, dass immer weniger Beitragszahler immer mehr zu Versorgende finanzieren müssen. Damit steigt der Reformdruck auf unsere Bildungs-, Ausbildungs- und Sozialsysteme. Wir werden alle Qualifikations- und Arbeitskraftreserven ausschöpfen und trotzdem länger arbeiten müssen.

Haben die Anwerbung von Gastarbeitern und die Zuwanderung aus früheren Kolonien nicht beide zu sozialen Spannungen und Problemen bei der Integration geführt?

Ja, zum Teil. Aber es handelte sich in beiden Fällen oft um Zuwanderung von wenig Qualifizierten oder von Arbeitskräften für wenig qualifizierte Arbeiten. Auch Lehrer aus der Türkei haben ja zum Beispiel die Schaufel geschwungen und im Tiefbau gearbeitet, weil sie kein Deutsch verstanden und ihre mitgebrachte Qualifikation nicht nutzen konnten. Aus so genannten Gastarbeitern wurden schon in den 1970er Jahren nach und nach echte Einwanderer, die ihre Familien nachholten. In dieser Übergangssituation haben die Aufnahmeländer versagt. Man hätte gezielte Zuwanderungssteuerung mit aktiver Integrationsförderung verbinden müssen. In Deutschland hätte man den bereits im Land lebenden ausländischen Arbeitnehmern zum Beispiel eine Frist von einigen Jahren geben können, um besser Deutsch zu lernen und sich mit deutscher Hilfe beruflich weiter zu qualifizieren oder aber wieder zurückzukehren.

Integration wurde unterschiedlich verstanden. So haben die Niederlande darauf gesetzt, die Kultur zugewanderter Gruppen zu erhalten, während die Schweden Sprachkenntnisse verlangt haben. Hat keins dieser Modelle komplett funktioniert?

Richtig. Die Niederlande haben das multikulturelle Nebeneinander anfangs zum Verwaltungsprinzip gemacht und sind damit vor die Wand gefahren. Aber auch die Schweden, die stärker auf Sprachförderung und interkulturelle Vermittlung gesetzt haben, haben heute Probleme. Ich spreche gern von einem internationalen Lernfeld Integration, in dem also jedes Land von jedem anderen etwas lernen kann – gute wie schlechte Beispiele. Inzwischen ist vielerorts ein Umsteuern zu beobachten: Man versucht die Folgeschäden von Versäumnissen auf beiden Seiten – der Zuwanderer wie der Mehrheitsgesellschaft – zu begrenzen. Das reicht von den Integrationsverträgen mit Einwanderern in den Niederlanden bis zu dem mustergültigen Schweizer Projekt „Qualität in multikulturellen Schulen“ (QUIMS): Schulen richten sich bewusst darauf ein, mit kultureller Vielfalt zu leben. Dazu gehören interkulturelle Programme, kleinere Klassen, mehr Lehrer und Ganztagsschulen. In Deutschland ist heute die nachholende Integrationsförderung am wichtigsten, denn die Einwanderer sind längst hier und die Zuwanderung nimmt ab.

Die Bildungspolitik ist der wichtigste Ansatz?

Die Bildungs- und Ausbildungspolitik. Ein Großteil der Eingewanderten ist ja nie in den Genuss irgendwelcher Integrationsförderung gekommen und über das Schulalter weit hinaus. Wir müssen auch lernen, Menschen, die qualifiziert sind, aber deren Ausbildung nicht ganz unserem Modell entspricht, trotzdem einzusetzen. Mit etwas kreativer Phantasie geht Vieles. Zum Beispiel sind Lehrer aus der früheren Sowjetunion bei uns oft Hausmeister oder Taxifahrer, weil sie in der Sowjetunion nur ein Fach unterrichtet haben, bei uns aber zwei unterrichten müssten. Man könnte einfach zwei von ihnen an zwei Schulen jeweils ein Fach zur Hälfte unterrichteten lassen. Lehrer mit Migrationshintergrund sind in einer Einwanderungsgesellschaft unverzichtbar.

Das gleiche gilt für die Polizei. Die Zahl der sozialen Verlierer mit Migrationshintergrund steigt. Wenn man ihnen keine Perspektive gibt, könnten sie irgendwann losschlagen. Umso wichtiger sind Polizisten mit Migrationshintergrund als Vermittler. Unter Migranten gibt es einen starken Andrang auf den mittleren Polizeidienst, nur erfüllen die Bewerber oft mit ihren Schulnoten oder auch Sprachkenntnissen nicht die Einstellungsvoraussetzungen. Flexible Angebote zur Nachqualifikation würden hier helfen.

Aber man soll die Lage nicht ohne Not schlecht reden. Propheten des nationalen Untergangs sagen immer wieder, die Integration sei gescheitert. Das ist kulturpessimistischer Quatsch mit ideologischer Soße. Sicher hätte alles besser gehen können, wenn wir uns früher so intensiv darum gekümmert hätten wie heute. Aber die Integration in Deutschland ist im europäischen Vergleich nach wie vor eine Erfolgsgeschichte, nicht zuletzt dank der Zugewanderten selbst.

Wie steht es um die Möglichkeiten zur politischen Beteiligung – soll man zum Beispiel Migranten schnell die Einbürgerung erlauben?

Das ist sinnvoll und nötig. Hier hat Deutschland meines Erachtens einen Fehler gemacht, als es nach der erfolgreichen Wahlkampagne von Roland Koch in Hessen gegen den Doppelpass bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes 2000 nicht die bedingte Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit, sondern das Optionsmodell einführte. Nun müssen Kinder von Zugewanderten, die neben der ererbten ausländischen die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben, sich zwischen ihrem 18. und 23. Lebensjahr für eine Staatsbürgerschaft entscheiden. Das ist fatal und wird unnötig Protestpotential erzeugen. Außerdem leben viele Einwanderer schon seit Jahrzehnten im Land, und man hat sie nie als potentielle Staatsbürger umworben. Ihnen und ihren hier geborenen Nachkommen sollte man spätestens jetzt in einem goldenen Handschlag die doppelte Staatsangehörigkeit zugestehen, meinetwegen im Rahmen einer Fristenregelung für zehn Jahre. Das würde viele Probleme in Einwandererfamilien lösen, wo Kinder oft sagen: Solange mein Großvater lebt, lasse ich mich nicht einbürgern, weil ich dann seine Staatsangehörigkeit aufgeben muss – er ist dann der Türke und ich bin der Deutsche, das kann ich ihm nicht zumuten.

Und Integrationsförderung sollte mit einer Steuerung der Zuwanderung einhergehen?

Ja, qualitative Zuwanderungssteuerung und Integrationspolitik sollten zusammenwirken. Je mehr man am Anfang siebt, desto weniger muss man später an Integrationshilfen leisten. So suchen die Kanadier mit ihrem Punktesystem die Zuwanderer nach Kriterien wie Qualifikation, Sprachkenntnissen und Alter aus. Außerdem muss man die Anwerbepolitik für Arbeitnehmer auf Zeit und die Einwanderungspolitik für Menschen, die auf Dauer bleiben sollen, auseinander halten. Beides bezieht sich aber wohlgemerkt auf die Wirtschaftswanderung. Die Aufnahme von Flüchtlingen ist eine  humanitäre Pflicht, bei der es nichts zu steuern geben sollte. Europa betreibt hier eine harte Politik der Flüchtlingsabwehr, statt die Ursachen unfreiwilliger Abwanderung in den Ausgangsräumen, vor allem in Afrika, zu bekämpfen.

Missachtet die Steuerung der Zuwanderung nach den Bedürfnissen der Aufnahmeländer nicht die Belange der Herkunftsländer?

Man muß die Bedürfnisse beider Seiten sehen. Die Frage ist nicht, ob man Süd-Nord-Wanderungen will, denn der Migrationsdruck ist eine Tatsache. Man muss genau hinsehen, was Migration zu Entwicklung beiträgt. Treiben die Rücküberweisungen der Migranten den Entwicklungsprozess zu Hause weiter oder versacken sie im Konsum? Geht Abwanderung mit einem Abzug von Fachwissen einher, das vielleicht im Zielgebiet gar nicht eingesetzt werden kann? Nehmen wir die Folgen der Osterweiterung der Europäischen Union (EU): Einige Länder im europäischen Westen haben danach ihren Arbeitsmarkt geöffnet und Millionen von Zuwanderern angezogen – Polen gingen nach Skandinavien, England oder Irland, Rumänen nach Österreich oder Spanien. Als Folge wurden in den Herkunftsländern mit zunehmendem Wirtschaftswachstum Arbeitskräfte knapp und die Löhne stiegen. Deshalb ist etwa die Hälfte der Polen, die nach England gegangen waren, schon wieder zurückgewandert.

Sie halten einen ähnlichen von Wanderungen unterstützten Entwicklungsprozess auch in Afrika für realistisch?

Nicht in so kurzer Zeit. Hier sind die Entwicklungsunterschiede so gravierend, dass Migration zur Überlebenssicherung oft eine große Rolle spielt. Zum Teil treiben aber die Europäer diese Dynamik selbst an, zum Beispiel wenn sie mit billigen Agrarexporten die Landwirtschaft in Afrika bedrängen oder mit ihren schwimmenden Fischfabriken sogar die afrikanische Küstenfischerei ruinieren. Solange so etwas nicht aufhört und Europa sich nicht in Afrika konstruktiv engagiert, wird der Migrationsdruck weiter wachsen.

Aber man sollte Wirtschaftsflüchtlinge fernhalten, solange man dabei nicht aus Versehen politische Flüchtlinge mit zurückweist?

Ja, sofern man transparente Systeme für die Zulassung von Wirtschaftswanderern hat und Zuwanderungswillige überlegen können, ob sie den Kriterien entsprechen. Ich plädiere dafür, Zuwanderung mit einem Punktesystem wie dem kanadischen zu steuern – am besten EU-weit – und dies mit nationalen Engpassdiagnosen zu verbinden, nach denen dringend gesuchte Arbeitskräfte bevorzugt werden.

Die meisten afrikanischen Flüchtlinge hätten dann aber kaum Chancen auf legale Zuwanderung, oder?

Da muss man über Lösungen reden, die oft verteufelt werden – nur zum Teil zu Recht. Eine ist die so genannte zirkuläre Migration: Man schließt Entsendeverträge zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland, nach denen Menschen auf Zeit, vielleicht für zwei oder drei Jahre, und ohne ihre Familien als Arbeitskräfte ins Land kommen können, um mit ihren Verdiensten den Aufbau einer Existenz zu Hause zu fördern – vorausgesetzt sie sind nicht vorher beim Versuch der illegalen Zuwanderung aufgegriffen worden. Das ist zweifellos eine Art Gastarbeitersystem mit Zwangsrotation für Bereiche, in denen Einheimische nicht oder nicht mehr tätig sein wollen. Aber es ist immerhin noch besser als was wir jetzt haben: Illegale Zuwanderung wird bekämpft, am schwarzen Arbeitsmarkt aber stillschweigend toleriert. Wenn wir in Deutschland keine illegalen Arbeitskräfte hätten, würde zum Beispiel die Altenpflege glatt zusammenbrechen. Wir dürfen zugewanderte Arbeitskräfte nicht aus unseren Sozialsystemen ausgrenzen.

Kann man gerade für Afrika wirtschaftlich und humanitär begründete Flucht klar unterscheiden?

Ein Flüchtling ist ein ganz normales menschliches Wesen, das versucht, aus wirtschaftlichen, politischen oder anderen existenziellen Gründen aus einem Land herauszukommen. Wenn es dann eine Tür sieht, an der steht „Wirtschaftswanderer unerwünscht“ und „Asyl für Flüchtlinge“, dann wird es natürlich nicht als Wirtschaftswanderer, sondern als Asylbewerber anklopfen. Das Problem ist, dass die Europäische Union in internationalen Gewässern Boote abfängt und Menschen wieder in die Ausgangsländer zurückfliegen lässt, ohne zu wissen, ob sie nicht vielleicht doch im engeren Sinne Flüchtlinge sind. Man muss das genau prüfen. Das kann auch in Auffanglagern in Afrika geschehen, wenn das keine Gefangenenlager sind und sie auf dem Boden von Ländern liegen, die die Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen einhalten, zu denen der UN-Flüchtlingskommissar uneingeschränkt Zugang hat und in denen die Asylverfahren nach europäischen Standards durchgeführt werden.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.

Klaus J. Bade war bis 2007 Professor für Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück. Er hat das Osnabrücker „Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien“ (IMIS) sowie den bundesweiten „Rat für Migration“ (RfM) gegründet.

erschienen in Ausgabe 2 / 2009: Migration: Zum Schuften in die Fremde
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