Christen in Aufruhr

Christoph Eibach

Straßengottesdienst und Protest: In der chilenischen Hauptstadt Santiago gedenkt das christliche Aktionsbündnis Paz y Justicia im Januar eines Demonstranten, der bei Protesten gestorben ist.

Chile
Massenproteste haben seit 2019 Chile erschüttert. Christliche Basisgemeinden tragen den Protest gegen die neoliberale Politik mit, ringen aber um eine Haltung zu den gewaltsamen Auswüchsen.

Ein beißender Geruch wabert an diesem Sommerabend im Januar 2020 über die Plaza Italia im Zentrum Santiagos, die von den meisten nur noch Plaza de la Dignidad (Platz der Würde) genannt wird. Das Tränengas der Polizei brennt in den Augen und macht das Atmen schwer. Aber die Mitglieder des Aktionsbündnisses Paz y Justicia (Frieden und Gerechtigkeit) sind darauf vorbereitet: Sie drehen sich mit dem Rücken zum Wind und ziehen Halstücher über Mund und Nase. Es ist eine bunt gemischte Gruppe von engagierten Christen: Ordensleute, die in Armenvierteln (poblaciones) wohnen, Studierende, Mitglieder der Basisgemeinden aus den poblaciones, einige Pfarrer und viele mehr. „Der Friede ist die Frucht der Gerechtigkeit“ ist eine ihrer Parolen, ein Zitat aus dem Buch Jesaja. Die Botschaft lautet: Anders als es die rechtsliberale Regierung gerne hätte, wird ohne strukturelle Veränderungen kein gesellschaftlicher Friede einkehren. 

Das Aktionsbündnis ist nicht allein. Der Platz ist voll von Chilenen, die aus unterschiedlichen Gründen gegen das neoliberale System protestieren: Schülerinnen wehren sich gegen die horrenden Schul- und Studiengebühren, Großeltern wollen, dass wenigstens ihre Enkel einmal eine „würdige Rente“ erhalten, Gewerkschaftsgruppen fordern ein Ende von Dumpinglöhnen, Mapuche klagen dagegen, dass Großunternehmen ihre Landrechte missachten, Feministinnen kämpfen gegen den Machismo. Zu Beginn der Proteste im Oktober 2019 haben Woche für Woche über eine Millionen Demonstranten das Zentrum Santiagos geflutet, im Sommermonat Januar sind es noch einige Zehntausend; im März wird dann die Corona-Pandemie die Proteste im Zentrum zum Erliegen bringen.

Ihr Auslöser war ursprünglich die Erhöhung der Metropreise. Die Fahrkarten für dieses Transportmittel, auf das Millionen in Santiago täglich angewiesen sind, sollten um 30 Pesos, umgerechnet 3 Euro-Cent, teurer werden. „Das ist auch für chilenische Verhältnisse wenig Geld“, versichert der Journalist Jorge Molina, der selbst in einer población aufgewachsen ist. „Aber es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.“ Ein Blick auf die Reichtumsverteilung erklärt das: Die reichsten 10 Prozent in Chile besitzen 32 Mal mehr als die ärmsten 50 Prozent der Bevölkerung zusammen. Und obwohl die Wirtschaft seit Jahrzehnten hohe Wachstumszahlen verzeichnet, verdient die Hälfte der Chilenen weniger oder nur etwas mehr als den niedrigen Mindestlohn

.Jahre auf wichtige Operationen warten

„Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre“ heißt ein Leitspruch der Demonstranten. Er ist Ausdruck der Enttäuschung über die Politik seit der Rückkehr Chiles zur Demokratie im Jahr 1990. Auch linksgerichtete Regierungen haben seitdem wenig an dem neoliberalen System zu verändern versucht, das während der Militärdiktatur geschaffen und mit der 1980 „von oben“ erlassenen Verfassung zementiert worden war. Im Gegenteil, die Privatisierungs- und Deregulierungspolitik wurde weiter vorangetrieben. Heute ist fast alles privatisiert, was in Europa oder auch in Chiles Nachbarländern wie Argentinien oder Bolivien großenteils in öffentlicher Hand ist: das Rentensystem, die Wasserversorgung, große Teile des Bildungs- und Gesundheitswesens. Weit über die Hälfte der Bevölkerung lernt in maroden staatlichen Schulen in Klassen mit über 40 Schülerinnen und Schülern, verschuldet sich für die Ausbildung an einer Universität oder Berufsschule, muss Jahre auf wichtige Operationen warten und erhält eine Rente, die kaum das Überleben sichert.

Dies muss man wissen, will man die Größe und die Wucht der Proteste verstehen. Nicht umsonst redet man in Chile von der „sozialen Explosion“. Spontane Demonstrationen entstanden im Oktober 2019 im Zentrum Santiagos, in deren Folge es zu gewaltsamen Auswüchsen kam: Supermärkte wurden geplündert und Metrostationen in Brand gesetzt. Präsident Sebastián Piñera sprach von einem Krieg und verhängte den Ausnahmezustand. In den folgenden Monaten starben mehr als 40 Personen bei Auseinandersetzungen mit der Polizei und dem Militär, über 400 wurden verletzt. Ein Untersuchungsbericht der Menschenrechtskommission der UN konstatierte zahlreiche Fälle von Folter und sexuellem Missbrauch durch die Polizei. Auch auf der Seite der Polizei gab es Verletzte. 

Doch die Gewaltexzesse, die die Bilder in der Presse dominierten, sind nur eine Seite dieser „sozialen Explosion“. Das ganze Land befindet sich in einem Erneuerungs- und Umwälzungsprozess, dem sich auch ein Teil der Kirche nicht verschließen will. Der Slogan „Chile ist erwacht“ ist in dem Andenland in aller Munde. Gemeint ist ein Erwachen der durch die Pinochet-Diktatur traumatisierten Zivilgesellschaft nach drei Jahrzehnten politischer Apathie. Diesen Prozess zu unterstützen, auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen, präsent zu sein in einer vielleicht historischen Zeit, ist das Ziel von Paz y Justicia. Das Bündnis steht der Befreiungstheologie nahe und ist eng mit den Basisgemeinden in den poblaciones verbunden.

Autor

Christoph Eibach

ist Theologe und promoviert an der Universität Mainz über die Entwicklung der basiskirchlich-sozialen Bewegung „Cristo Vive“ in Chile und Bolivien. Bis Februar hat er in diesen Ländern geforscht.
Diese kleinen katholischen Gemeinschaften, die sich unter anderem durch eine hohe Partizipation der Laien sowie ihr politisches Engagement auszeichnen, sind in Chile längst nicht mehr so zahlreich wie in den 1970er oder 1980er Jahren. Doch in den Monaten der sozialen Explosion boten sie in Zusammenarbeit mit der lokalen Politik den Menschen in den poblaciones eine wichtige Möglichkeit, sich über die Ereignisse im Land auszutauschen. „Wir haben mehrere Treffen mit 30 bis 50 Leuten veranstaltet“, sagt der 26-jährige Elías Meza, Religionslehrer und Bruder in der kleinen Comunidad de Jesús. „Da saßen Menschen unterschiedlicher politischer und religiöser Überzeugungen aus dem Viertel zusammen und gemeinsam haben wir überlegt: Von welcher Gesellschaft träumen wir, in welchem Chile möchten wir leben? Und wie lässt sich das verwirklichen?“ 

„Kirche an der Seite der Armen“

Solche Initiativen trugen dazu bei, das politische Bewusstsein in der Bevölkerung zu wecken, und erhöhten den Druck auf die Regierung. Schnell wurde jedoch klar, dass substanzielle Veränderungen auf der Basis der derzeitigen Verfassung nicht durchsetzbar sind. Die anhaltenden Proteste und sozialen Unruhen führten schließlich dazu, dass die rechtsliberale Regierung mit der Opposition die Durchführung eines Plebiszits beschloss: Das Volk soll darüber abstimmen, ob eine neue Verfassung ausgearbeitet werden und wie sich eine verfassunggebende Versammlung zusammensetzen soll. Das war für viele ein Hoffnungszeichen. Für diejenigen, die sich wie Elías als „Kirche an der Seite der Armen“ verstehen, war es Anlass, sich verstärkt in der Gemeinde und auf den Straßen für die Transformation der Gesellschaft einzusetzen. 

Gleichzeitig kritisierten sie das Verhalten der Bischöfe als zu zögerlich. „Wo seid ihr als unsere Hirten?“, fragten Autoren des studentischen Magazins der „Katholischen Aktion“ in einem offenen Brief die Bischofskonferenz. Sie wollten die Bischöfe „auch auf den Straßen“ sehen und dass sie die „prophetische Stimme erheben sollen, in Namen all derer, die unterdrückt werden“. Dabei verwiesen sie auf die Zeit der Diktatur, in der die katholische Kirche unter Kardinal Silva Henríquez eine herausragende Rolle bei der Verteidigung der Menschenrechte gespielt hatte. 

Die Bischöfe hätten sich doch zu Wort gemeldet, relativiert Jorge Costadoat, Jesuit und Theologieprofessor an der Universität Alberto Hurtado. „Sie verurteilen die Polizeirepression, sprechen sich für einen gesamtgesellschaftlichen Dialogprozess und eine neue Verfassung aus.“ Das Problem sei, dass die Bischöfe auch in Chile durch schwere Skandale wegen sexuellen Missbrauchs gesellschaftlich stark an Ansehen verloren hätten.

Elías von der Comunidad de Jesús will das in dem Land, in dem trotz Mitgliederschwunds noch über die Hälfte der Einwohner Katholiken sind, nicht gelten lassen. Schon zwei Tage nach Beginn der Unruhen seien kirchliche und andere Vertreter der Zivilgesellschaft beim Präsidenten Piñera gewesen, um mit ihm über notwendige soziale Veränderungen zu diskutieren. „Warum“, fragt er, „war dort nicht der Erzbischof?“

Ein moralisches Dilemma

Allerdings schockte Bischöfe wie katholische Laien, dass die vandalistischen Auswüchse der Proteste sich in wenigen Einzelfällen auch gegen Kirchen richteten. Besonders viel Aufmerksamkeit erregte ein Brandanschlag Anfang Januar in der zentral gelegenen Kirche San Francisco de Borja. Vermutlich galt er weniger der Kirche als der Polizei, da das Gebäude seit der Diktatur von der Polizei für Gottesdienste genutzt wurde und ein Mahnmal für die „Märtyrer der Polizei“ beherbergte.

Die Gewaltbereitschaft unter Demonstranten stellt gerade den befreiungstheologischen Teil der Kirche vor ein moralisches Dilemma. Man sieht sich der christlichen Friedensethik verpflichtet und sympathisiert doch mit denen, die sich in der „vordersten Linie“ Straßenschlachten mit der Polizei liefern. „Dieses Volk hat das Recht, alles zu zerstören, denn alles hat man ihm zerstört“, schrieb im Oktober vergangenen Jahres der bekannte Arbeiterpriester Mariano Puga. Es gehe dabei, so meint Elías, nicht um eine allgemeine Rechtfertigung von Gewalt. Vielmehr habe Puga darauf aufmerksam gemacht, dass die Jugendlichen der „vordersten Linie“ häufig aus den poblaciones kommen und Opfer struktureller Gewalt seien. Sie hätten wenig zu verlieren. Für ihn sei dieses Verhalten nicht gutzuheißen, aber aus der Perspektive der Jugendlichen sei es nachvollziehbar. Elías betont, dass die Gruppe Paz y Justicia auf den Demonstrationen immer gewaltfrei protestiert habe. Auch hätten sie öfter versucht, sowohl auf die „vorderste Linie“ als auch auf die Polizei befriedend einzuwirken. 

Vom Ausgang des Referndums wird viel abhängen

Ganz anders positionieren sich die evangelischen Kirchen – mehrheitlich Pfingstkirchen, zu denen sich in Chile mittlerweile 16 Prozent der Bevölkerung bekennen. Sie versuchen mehr Einfluss auf die Politik auszuüben und vertreten dabei meist wirtschaftsliberale und konservative Positionen. In einer gemeinsamen Erklärung haben sie sich gegen die Einführung einer neuen Verfassung ausgesprochen und wollen ihren Gemeindemitgliedern empfehlen, bei dem Referendum auch so zu stimmen. 

Im breitgefächerten evangelischen Spektrum gibt es aber auch andere Meinungen. So zeigt sich die Iglesia Metodista in einer Erklärung über die von staatlichen Institutionen verübten Gewalttaten „erschrocken“ und sieht die Krise „als Ausdruck einer individualistischen und materialistischen Gesellschaft“; deren Ergebnis sei ein zutiefst ungerechtes Gesellschaftssystem. Neben sozialer Gerechtigkeit fordern sie eine Anerkennung der Rechte der indigenen Völker, eine Gleichstellung der Frauen und eine Berücksichtigung ökologischer Fragen. Daher wollen sie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung unterstützen.

Auf dem Plaza de Dignidad hat die Gruppe Paz y Justicia das Kreuz einer Basiskirche aus einem Armenviertel hochgehalten, auf dem „Cristo Liberador“ steht – Christus, der befreien will, auch aus den ungerechten Strukturen im Hier und Jetzt. Ob die in naher Zukunft zumindest gerechter gestaltet werden können, hängt maßgeblich vom Ob und Wie einer neuen Verfassung ab. Das Referendum wurde wegen der Pandemie von April auf den 25. Oktober verschoben. Von seinem Ausgang wird viel abhängen.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2020: Idealismus und Karriere
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