Aufschwung mit begrenzter Wirkung

Informelle Kreis­läufe bilden einen erheblichen Teil der pakistanischen Volkswirtschaft

Von Christoph Burgmer

Pakistans Wirtschaft weist offiziell hohe Wachstumsraten auf. Doch nach wie vor lebt fast die Hälfte der Bevölkerung von der Landwirtschaft, und viele besser Ausgebildete sind in die Golfstaaten abgewandert. Statt in die Infrastruktur und die Sozialdienste zu investieren, füllt ein großer Teil der herrschende Elite die eigenen Taschen.

Glaubt man den offiziellen Statistiken, dann gehört Pakistan seit einigen Jahren zu den boomenden Wirtschaftsregionen der Erde mit Wachstumsraten von 6 bis 8 Prozent pro Jahr. Das Pro-Kopf Einkommen ist demnach zum Beispiel von 2006 auf 2007 um real 9 Prozent gewachsen – von 847 auf heute 925 US-Dollar. Wer aber die Wirtschaftsentwicklung beurteilen will, muss wissen, dass solche Zahlen nicht mehr sind als das, was der pakistanische Staat veröffentlicht haben will. Sie zeigen nur einen Teil der Wirklichkeit.

Richtig ist zwar auch die Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes, dass in Pakistan „eine Reihe – auch deutsch basierter – multinationaler Unternehmen seit vielen Jahren gute Geschäfte“ machen und „bisher nicht, wie zum Beispiel in Indien, auf Ablehnung“ stoßen. Mac Donald, Kentucky Fried Chicken, Coca Cola, die Citibank, Siemens und Nestlé breiten sich in den Stadtzentren oder in den von privaten Wachdiensten gesicherten Ansiedlungszonen wie selbstverständlich aus. Dies ist aber schon seit Ende der 1980er Jahre so – trotz aller Krisen und politischen Turbulenzen mit Regierungswechseln, einem Militärputsch und anschließender Militärdiktatur und trotz ethnisch oder religiös begründeter Kämpfe mit zahlreichen Toten zum Beispiel in Karatschi.

Außerdem sollte man sich vor Augen führen, dass nur ein gutes Drittel der 166 Millionen Pakistaner, von denen fast 40 Prozent unter 15 Jahre alt sind, in Städten lebt. Die Mehrheit in dem sechstbevölkerungsreichsten Staat der Erde lebt noch auf dem Land, und fast die Hälfte aller Erwerbstätigen erzielen ihre Einkünfte in der Landwirtschaft. Vielerorts sind die Abhängigkeitsverhältnisse der Landarbeiter von den Großgrundbesitzern noch feudal geprägt. Der Lohn für die Erntearbeit wird in Naturalien gezahlt, Kinderarbeit gehört zur Tagesordnung, die Großgrundbesitzer herrschen als „Paten“ über „ihre“ Arbeiter und deren Familien. So gilt, ähnlich wie in Indien, auch in Pakistan immer noch, dass die Kontrolle über die Landbevölkerung der Schlüssel zur Macht im Lande ist.

Dennoch hat sich die Situation in Pakistan, auch auf dem Land, in den vergangenen zwanzig Jahren dramatisch verändert. Hierzu hat insbesondere die Abwanderung in die Städte und die Arbeitsmigration ins Ausland beigetragen. Zudem hat die Verbreitung elektronischer Medien – Radio und vor allem Fernsehen – gerade in ländlich geprägten und insbesondere in ehemals rückständigen Landesteilen, wie beispielsweise in der Provinz Belutschistan, den Wahrnehmungshorizont stark erweitert. Jeder weiß hier etwas von den globalen Vorgängen, jeder kennt jemanden, der in einem Golfstaat arbeiten war und von den dortigen Bedingungen berichtet hat.

Der Beginn der Arbeitsmigration in die Golfstaaten hängt mit den Wirtschaftskrisen seit Ende der 1980er Jahre zusammen. Damals wurden die Binnenmärkte für westliche Importe geöffnet und die Privatisierung von Schlüsselindustrien begann. Zur gleichen Zeit begann in den Golfstaaten und Saudi-Arabien ein Wirtschaftboom. Arbeiter aller Berufsrichtungen, vor allem auch Ärzte und Lehrer waren und sind dort bis heute stark nachgefragt.

Zur gleichen Zeit litt die Bevölkerung Pakistans unter den Folgen von Massenarbeitslosigkeit und Korruption. Das Land vereinbarte mehrere Strukturanpassungsprogramme mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), ohne sie konsequent in die Praxis umzusetzen. So einfach ließ sich die jahrelange Verstaatlichungspolitik, die Zulfikar Ali Bhutto in den 1970er Jahren unter dem Banner „Islamischer Sozialismus“ begonnen hatte, nicht umkehren. „Wir hatten zwei hauptsächliche Probleme: Erstens ein großes Haushaltsdefizit seit den 1980er Jahren und zweitens die Unberechenbarkeit des Weltmarktes“, erklärt Shaukat Tarin, der Vorsitzende der Union Bank, einer erfolgreichen Privatbank in Karatschi. „So kam nach 1993 die Privatisierung ins Stocken, nachdem zwei Banken und zwischen 60 und 70 Produktionsbetriebe – darunter zwei große Zementfabriken – privatisiert worden waren. 1994 wurden zehn Prozent der pakistanischen Telekom-Aktien verkauft. Danach aber gab es keine ernsthaften Privatisierungen mehr – abgesehen von dem Versuch, in Karatschi die Stromversorgung zu privatisieren.“

Dieser Versuch hatte verheerende Folgen. Mehr als je zuvor gehören heute Stromausfälle, insbesondere in den Wohnvierteln der Unter- und Mittelschicht, zum Alltag der Millionenmetropole. Die damaligen politischen Protagonisten – insbesondere der ehemalige Ministerpräsident Nawaz Sharif als Vertreter der Großindustrie sowie Benazir Bhutto, die von Großgrundbesitzern unterstützt wird – mussten wegen Korruptionsvorwürfen nach Saudi-Arabien und Europa fliehen. Die Wirtschaftsprogramme ihrer Parteien haben sich seitdem kaum verändert: Bis heute gehören die vom IWF und der Weltbank geforderten Privatisierungen zu den zentralen Bestandteilen dieser Programme.

Den Atomtests folgte ein Wirtschaftsembargo

Ende der 1990er Jahre verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage weiter. Nachdem Pakistan im Mai 1998 Atomwaffen getestet hatte, verhängten die Vereinten Nationen ein Wirtschaftsembargo; als Folge litt der Außenhandel unter zahlreichen Einschränkungen, die exportorientierte Krabbenindustrie brach zusammen und auch landwirtschaftliche Produkte wie Mangos, die in die USA exportiert wurden, verfaulten auf den Feldern. Viele westliche Geberländer, darunter Deutschland, stellten ihre Entwicklungshilfe ein oder kürzten sie. Insbesondere die Wirtschaftssanktionen der USA trafen die Bevölkerung, weil sie Geldüberweisungen pakistanischer Migranten nach Hause erschwerten und verteuerten.

Nun trat deutlich zu Tage, dass die Wirtschaft Pakistans von Exporten abhängig ist. Infolge der Sanktionen brach der private Sektor ein. 1999 musste Pakistan den Pariser Club, dem die großen Gläubigerstaaten angehören, um eine Umschuldung bitten. Nur so erhielt das Land Zugang zu neuen Krediten des IWF. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts stand Pakistan nahe am Bankrott. In dieser Situation putschte Pervez Musharraf mit Hilfe des Militärs und riss die Macht an sich.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 haben die USA bis auf wenige Ausnahmen alle Importverbote für Pakistan aufgehoben. Auch wenn sich die wirtschaftliche Situation seitdem zunehmend normalisiert hat, hat sich der Außenhandel erst langsam erholt. Zwar verzeichnen die Ausfuhren von wichtigen Produkten wie Textilien und Reis sprunghafte Anstiege, doch ist gerade auch in Pakistan die Billigkonkurrenz aus dem Nachbarland China deutlich spürbar, insbesondere in der Schuhindustrie und bei industriell gefertigten Massenwaren. Hinzu kommt die sprunghafte Verteuerung der Rohstoffe, die dazu beiträgt, dass viele Pakistaner kaum über die Runden kommen.

Das Embargo und Musharrafs Putsch haben die Abwanderung ins Ausland beschleunigt. Besonders die von den Wirtschaftssanktionen betroffene, zahlenmäßig kleine Mittelschicht versuchte seit den 1990er Jahren das Land zu verlassen. Zehntausende, vom Lehrer bis zum Handwerker, suchten Beschäftigung und Lohn im Ausland. Wer es sich leisten konnte, ging nach Großbritannien oder träumte von politischem Asyl in Europa. Die Eliten schickten ihre Kinder auf Privatschulen und Universitäten im Westen. Bis heute ist kaum einer der gut ausgebildeten Ärzte, Anwälte und Ingenieure in seine Heimat zurückgekehrt.

Die Überweisungen der Auslandspakistaner, insbesondere aus den Golfstaaten, tragen heute erheblich zum Volkseinkommen bei. Offiziell wird ihre Höhe mit 1,2 Milliarden Euro pro Jahr angegeben, doch das dürfte eine Unterschätzung sein. Denn gerade in und nach Pakistan wird bis heute Geld mittels des traditionellen Hawala-Systems transferiert. Unter diesem weltweit funktionierenden Überweisungssystem zahlt jemand zum Beispiel an einen Hawaladar in New York 10.000 Dollar, und ein Hawaladar in Karatschi zahlt den Gegenwert an den Empfänger. Der Hawaladar in New York schuldet dann dem in Karatschi 10.000 Dollar, die mit den nächsten Transaktionen beglichen oder im Rahmen von Warenlieferungen, Dienstleistungen oder mit Wertgegenständen getilgt werden. Das System ist für die Kunden erheblich günstiger als das offizielle, da keine Bankgebühren oder Steuern anfallen und die Händlerkommission laut Studien der Vereinten Nationen gering ist. Die auf diese Art an staatlichen Institutionen vorbei geschleusten Beträge dürften die offiziellen Überweisungen bei weitem übertreffen. Man schätzt, dass das transferierte Finanzvolumen rund fünf bis sechs Milliarden US-Dollar jährlich beträgt.

Auch die Landflucht hat bedrohliche Ausmaße angenommen. Das Embargo von Ende der 1990er Jahre, zu dem ein Exportverbot landwirtschaftlicher Erzeugnisse gehörte, beschleunigte – verschärft durch einige Dürrejahre – die Abwanderung in die Randgebiete der Städte Lahore, Karatschi, Rawalpindi, Islamabad und Peschawar. Hier suchen die Landflüchtlinge nach Möglichkeiten, an Jobs, Bildung und Gesundheitsvorsorge zu gelangen. Die Städte platzen aus allen Nähten, für Infrastruktur wie Straßen fehlt das Geld.

Auch öffentliche soziale Dienste fehlen in Pakistan weitgehend. Eine kostengünstige staatliche Kranken- und Unfallversorgung existiert kaum. Die Sozial- und Altersvorsorge ist, wenn überhaupt vorhanden, ineffizient oder nur privat gegen Bares zu haben. An ihre Stelle treten informelle Organisationen und Gruppen. Zum einen unterhalten Moscheen, Koranschulen und islamistische Organisationen Strukturen für Bedürftige. So gewann die islamistische Ideologie, verbreitet in den tausenden Moscheen und Religionsschulen, zunehmend an Einfluss. Zum anderen sind selbst in der größten pakistanischen Stadt Karatschi bis heute die Stadtviertel in Einflusssphären krimineller, radikal-religiöser oder ethnisch definierter mafiöser Organisationen aufgeteilt. Diese Mafia-Clans ersetzen Steuerbehörde und Bank, Arbeitsvermittlung, Kranken- und Altenversorgung. In vielen ländlichen Regionen der Provinzen Belutschistan oder der North Western Frontier Province wiederum organisieren Familienclans Transferleistungen; in den feudal geprägten landwirtschaftlichen Regionen tun das die Großgrundbesitzer, die traditionell einer paternalistischen Ordnung verpflichtet sind.

Die große Bedeutung informeller Wirtschaftskreisläufe ist bezeichnend für die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft in Pakistan. Der Staat ist für die Pakistaner eine korrupte und autoritäre Institution, der man erfahrungsgemäß nicht vertrauen kann. Wie berechtigt die weit verbreitete Einschätzung ist, dass die politischen, militärischen und privatwirtschaftlichen Eliten Pakistans allesamt korrupt sind, belegen die Zahlen der nichtstaatlichen Organisation Transparency International. Sie veröffentlicht jedes Jahr den Corruption Perceptions Index, der misst, als wie korrupt Länder unter anderem in der Geschäftswelt wahrgenommen werden. Pakistan findet sich dort auf Rang 138 von 179 Ländern; sein Index hat einen Wert von 2,4 auf der Skala von 0 bis 10, wobei 10 völlig korruptionsfrei bedeutet (der Wert für Deutschland ist 7,8 und der des Siegers Dänemark 9,4). Nicht zuletzt die geringe Beteiligung an der jüngsten Wahl – der ersten relativ freien seit 1997 – belegt, dass die Pakistaner kaum darauf hoffen, dass der Staat Verbesserungen herbeiführt.

Christoph Burgmer ist freier Journalist und Islam­wissenschaftler. Zuletzt erschien 2007 sein Buch „Streit um den Koran“.

welt-sichten 2/3-2008

 

 

 

erschienen in Ausgabe 2 / 2008: Pakistan - Staat in der Dauerkrise
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