Die alten Rezepte wirken nicht mehr

In Malaysia überlagert die soziale Kluft zunehmend die ethnischen Spannungen

Von Anil Netto

Bei den malaysischen Parlamentswahlen im März hat die Regierungskoalition deutlich Stimmen verloren. Sowohl Angehörige der Malaien – sie stellen die Mehrheit der Bevölkerung – als auch der Minderheiten der Inder und Chinesen sind zur Opposition übergelaufen. Die ethnisch ausgerichteten Parteien verlieren an Rückhalt, und die wirtschaftspolitische Bevorzugung der Malaien stößt auch unter diesen auf Ablehnung, weil davon hauptsächlich eine kleine Elite profitiert.

Sandrakandam Kasuwallo, eine indischstämmige Malaysierin in den Fünfzigern, lebt in einer billigen Wohnung auf dem Festland von Penang. Sie hat sich bisher mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten. Doch zur Zeit ist sie arbeitslos und wegen Gesundheitsproblemen findet sie keinen passenden Job. Ihre Rücklagen fürs Alter sind fast aufgebraucht, ihre Zukunftsaussichten düster. Hunderttausende von Malaysiern sind in einer ähnlich üblen Lage und leben unter oder nur knapp über der Armutsgrenze.

Doch das andere Malaysia ist nicht fern. Die Reichen bummeln durch prächtige Einkaufsstraßen, essen in protzigen Restaurants und begutachten in Autohäusern teure Importlimousinen. Zwischen diesen Extremen gibt es eine malaysische Mittelschicht, die jedoch ebenfalls den Druck wachsender Lebenshaltungskosten zu spüren bekommt.

Die Malaysier mit niedrigem Einkommen werden seit langem an den Rand gedrängt. Priorität haben für die Regierung gewaltige Infrastrukturprojekte wie Autobahnen, Wolkenkratzer, Flugplätze und Häfen. Doch viele Arme haben inzwischen ihre Stimme wiedergefunden und verschaffen sich Gehör. Bei den Parlamentswahlen am 8. März brachen etliche von ihnen mit lebenslangen Gewohnheiten und stimmten für Oppositionsparteien. Dadurch gewannen diese in fünf der dreizehn malaysischen Bundesstaaten die Mehrheit; zuvor war nur im Bundesstaat Kelantan an der Ostküste die oppositionelle Islamistische Partei Malaysias an der Macht gewesen. Unter diesen fünf sind drei der wirtschaftlich stärksten Bundesstaaten – Selangor, Penang und Perak an der Westküste -, während Kelantan und Kedah im Norden zu den ärmsten gehören. Auch die Einwohner der Handelsmetropole Kuala Lumpur sind zur Opposition übergelaufen.

Landesweit ist der Stimmenanteil der regierenden Nationalen Front (BN), dem die United Malays National Organisation (UMNO), der Malaysian Indian Congress und die Malaysian Chinese Association angehören, von 63,8 Prozent auf 51,5 Prozent gesunken. Seit der Unabhängigkeit 1957 haben sich diese drei Parteien bis heute als Wächter ihrer jeweiligen Volksgruppen dargestellt. Malaien machen 55 Prozent der Bevölkerung aus, Chinesen etwa ein Viertel und Inder 7 Prozent; den Rest bilden andere Einheimische und Ausländer. Die malaiische UMNO bleibt zwar die stärkste Kraft in der malaysischen Politik, sie ist aber deutlich geschwächt.

Mit ihrem Votum haben die verärgerten Wähler die Frage wieder auf die Tagesordnung gesetzt, ob die Anti-Diskriminierungs-Politik der Regierung ihren Zweck noch erfüllt. Die Unzufriedenen kommen sowohl aus der malaiischen Bevölkerungsmehrheit, die eigentlich der Hauptnutznießer dieser Politik sein soll, als auch aus den Minderheitengruppen der Inder und Chinesen. Viele haben mit Proteststimmen von ethnischen Minderheiten gegen eine Politik gerechnet, die nach Rasse und Religion diskriminiert. Aber kaum jemand hat geglaubt, dass auch Angehörige der malaiischen Mehrheit zur Opposition überlaufen würden.

Dabei hat es Anzeichen dafür gegeben. Im August 2007 organisierte der Dachverband der malaysischen Gewerkschaften Demonstrationen in einigen größeren Städten mit der Forderung nach einem Mindestlohn von 900 Ringgit (180 Euro) und einer monatlichen Teuerungszulage von 300 Ringgit. Die Demonstranten waren vorwiegend Malaien, denen die steigenden Lebenshaltungskosten zu schaffen machen. Im November rief eine Koalition aus Oppositionsparteien und Repräsentanten der Zivilgesellschaft zu einer Kundgebung in Kuala Lumpur auf und forderte eine Wahlrechtsreform. 40.000 Menschen beteiligten sich, erneut mehrheitlich Malaien. Auch das war ein deutliches Zeichen, dass deren Unterstützung für die Regierung schwinden könnte.

Noch im selben Monat gingen auch die indischen Malaysier auf die Straße. Eine Gruppe engagierter Rechtsanwälte – die Hindu Rights Action Force (Hindraf) – mobilisierte 30.000 Menschen gegen eine Politik, die ihrer Ansicht nach nichts anderes als ethnische und religiöse Diskriminierung ist. Die Polizei löste die Demonstration gewaltsam auf, fünf Hindraf-Aktivisten wurden ohne Prozess ins Gefängnis geworfen, was die Inder noch wütender machte. Ursprünglich hatte zwar die Zerstörung eines Hindutempels im Bundesstaat Selangor den Zorn der indischen Malaysier entzündet, doch letztlich hat das Gefühl der wirtschaftlichen Marginalisierung viele dazu gebracht, sich aufzulehnen. Viele kehrten „ihrer“ Partei, dem Malaysian Indian Congress, den Rücken.

Das Wahlergebnis deutet darauf hin, dass das alte Rezept einer auf Rassekriterien beruhenden Politik und Wirtschaftsplanung immer weniger unterstützt wird. Große Teile der malaysischen Bevölkerung haben den ethnisch orientierten Parteien der BN eine Absage erteilt. Stattdessen haben sie ethnische Grenzen überwunden und für Parteien wie die Democratic Action Party oder die People’s Justice Party des früheren stellvertretenden Premierministers Anwar Ibrahim gestimmt, denen ein harmonischeres, weniger auf Ausgrenzung beruhendes multiethnisches Malaysia vorschwebt.

Viele Wähler haben zudem ihre Unzufriedenheit mit der so genannten Neuen Wirtschaftspolitik (New Economic Policy, NEP) geäußert, durch die sie sich diskriminiert fühlen. Dabei war diese Politik 1971 begonnen worden, um ethnische Spannungen und ethnisch bedingte Einkommensunterschiede zu reduzieren und die Armut auszumerzen. Sie wurde eingeführt als Reaktion auf politisch motivierte Unruhen nach den Wahlen von 1969. Die NEP sollte das Los der Malaien bessern, die den anderen Ethnien Malaysias wirtschaftlich hinterherhinkten. Sie sollte außerdem die soziale Struktur aufweichen, so dass bestimmte Berufe nicht mehr nur von Menschen einer Ethnie ausgeübt würden.

Eine Zeit lang hat das auch funktioniert: Die Neue Wirtschaftspolitik hat eine neue malaiische Mittelschicht geschaffen. Aber für viele andere hat der Entwicklungsschub wenig gebracht, weder für Malaien noch für Angehörige von Minderheiten. Stattdessen haben vor allem die politischen und wirtschaftlichen Eliten aller Volksgruppen von riesigen Privatisierungsprojekten profitiert. Aufträge wurden ohne offene Ausschreibung an Bekannte vergeben; Staatsland wurde billig an Individuen mit den richtigen politischen Beziehungen verkauft; höchst profitable private Elektrizitätswerke haben hohe Subventionen für Gas erhalten; Holzfirmen wurden großzügige Konzessionen gewährt, die es ihnen erlauben, den Regenwald abzuholzen. Aus anderen Ländern der Region wurden billige Arbeitskräfte geholt und dadurch die Löhne malaysischer Arbeiter niedrig gehalten.

Unterm Strich hat die NEP die Einkommensunterschiede innerhalb aller malaysischen Volksgruppen noch vergrößert. Die Kluft zwischen Reich und Arm in Malaysia gehört zu den größten in Ostasien. Das Gefühl ist weit verbreitet, in einem Land mit reichen natürlichen Ressourcen zu leben, aber doch nicht viel zu haben.

Anwar Ibrahim fand deshalb ein großes Publikum, als er ankündigte, er wolle mit der Neuen Wirtschaftspolitik Schluss machen und sie durch eine „Malaysische Wirtschaftsagenda“ ersetzen, die allen Notleidenden helfen solle, ohne Ansehen der ethnischen Herkunft. Anwar befürwortet eine wachstumsorientierte Marktwirtschaft, die er jedoch durch eine menschliche Politik und eine gerechte Verteilung ergänzen will. Der neue Ministerpräsident von Penang, Lim Guan Eng, hat als erster eine politische Wende verkündet: Seine Regierung werde die Neue Wirtschaftspolitik abschaffen, da sie Vetternwirtschaft, Korruption und Ineffizienz hervorgebracht habe. Premierminister Abdullah Badawi mischte sich ein und sagte, die Neue Wirtschaftspolitik könne gar nicht abgeschafft werden, da sie bereits 1991 beendet worden sei. Es stimmt zwar, dass die NEP nur auf zwanzig Jahre angelegt war. Aber die auf ihr beruhende Politik der Begünstigung einer kleinen Elite wurde weiter betrieben.

Jetzt kommt es darauf an, was die Oppositionsparteien aus ihren Wahlsiegen in den fünf Staaten machen. Ihnen sind teilweise die Hände gebunden, denn der Großteil der Budgets für Wirtschaftsentwicklung in den Bundesstaaten kommt von der Bundesregierung – und die wird weiterhin von der Nationalen Front BN gebildet. Manche Aktivisten befürchten, die Oppositionsparteien könnten das Votum der Wähler gegen eine Anti-Diskriminierungs-Politik nach rassischen Kriterien als Freibrief für eine zügellose Politik des „freien Marktes“ interpretieren. Das jedoch würde dem Willen vieler Menschen widersprechen, die in Wirklichkeit für mehr Subventionen gestimmt haben, die sie vor dem Anstieg der Lebenshaltungskosten schützen sollen.

 „Die naheliegende Lösung für dieses Problem ist gewöhnlich ein sozialdemokratischer Ansatz, in dem der Markt als treibende Kraft für binnenmarktorientierte Investitionen, Wachstum und zunehmende Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt dient und dadurch letztlich sozialen Fortschritt hervorbringt“, sagt der Politologe John Hilley aus Glasgow. Hilley äußert aber auch Zweifel, ob die Politik der neuen Regierungen wirklich eine Wende bringt. Seiner Ansicht nach muss die Opposition eine radikale politische Debatte starten, um zu einer Politik zu gelangen, die mehr den Interessen der kleinen Leute als denen der privilegierten Eliten dient.

Entscheidend wird sein, von der Basis aus die herrschenden Institutionen der kapitalistischen Entwicklung in Malaysia in Frage zu stellen, die die Spielregeln der Wirtschafts- und Sozialpolitik bestimmen. Leute wie Frau Kasunwallo aus Penang dürfen sich nicht länger benachteiligt fühlen.

Anil Netto arbeitet als freier Autor und lebt in Penang, Malaysia.

welt-sichten 4-2008

 

 

erschienen in Ausgabe 4 / 2008: Müllprobleme
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