Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Religionen haben gerade in Entwicklungsländern großen Einfluss auf das soziale und politische Leben. Ihre Wirkung kann sehr unterschiedlich sein: Sie können zur Ursache für blutige Konflikte werden, aber auch Versöhnung und Frieden fördern. Im Namen von Religionen werden Menschen unterdrückt, aber auch im Kampf um ihre Rechte unterstützt. Im Zuge der Globalisierung ist die Rolle der Religionen noch vielschichtiger geworden. Neue Glaubensgemeinschaften haben sich entwickelt, charismatische Bewegungen wie die Pfingstkirchen sind auf dem Vormarsch. Viele verstehen sich als global – so wie die Weltreligionen das schon immer tun.

Auch die weltweite Kommunikation und die Folgen von Arbeitsmigration, Flucht und Vertreibung haben dazu beigetragen, dass heute in den meisten Gesellschaften mehrere Religionen und Konfessionen zusammenleben. Etablierte Religionen wie das Christentum und der Islam treten damit stärker in Konkurrenz zu anderen Religionsgemeinschaften. Ihr Anspruch auf die alleingültige Wahrheit gerät in Gefahr. Dies und der soziale Wandel begünstigen fundamentalistische Strömungen, Abgrenzung und Intoleranz.

In vielen Fällen ist jedoch nicht die Zugehörigkeit zu einer Religion die Ursache für Gewalt. Spannungen und Konflikte entstehen oft eher entlang ethnischer Trennlinien. Die Religion wird zusätzlich zu einem Identität stiftenden Merkmal, das die Konfliktparteien voneinander abgrenzt und hilft, Feindbilder aufzubauen. In multireligiösen Gesellschaften wie Nigeria und Indonesien lassen sich dafür zahlreiche Beispiele finden. Sie belegen zugleich, dass der Dialog zwischen den Religionen und die Zusammenarbeit von Menschen unterschiedlichen Glaubens unerlässlich sind, um diesen Sprengstoff zu entschärfen.

Oft scheitert das multireligiöse Zusammenleben daran, dass Religion politisch missbraucht wird. Der Libanon etwa hat in seiner Verfassung festgeschrieben, dass die Macht zwischen Konfessionsgruppen aufgeteilt wird. Ein fein austariertes System von Regeln und Vorschriften soll für das Gleichgewicht der Kräfte sorgen. Doch die libanesische Formel der Koexistenz verfestigt die Spaltung der Gesellschaft nach Konfessionen. Und sie kann nicht verhindern, dass das Land aufgrund seiner strategisch wichtigen Lage immer wieder in Konflikte verwickelt wird, in denen ausländische Mächte eine entscheidende Rolle spielen: Sie machen sich die Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der Christen und Muslime im Libanon zunutze.

Viele Gläubige sind jedoch an der dogmatischen Abgrenzung ihrer Religion wenig interessiert. Nicht selten vermischen sie Praktiken verschiedener Religionen. So vereint der Voodoo in Haiti religiöse Traditionen der aus Afrika stammenden Sklaven mit Elementen des Katholizismus. Lange Zeit stand der Voodoo im Ruf, Teufelswerk und Zauberei zu sein. Inzwischen ist er als Religion anerkannt, wobei es kein Voodoo-Anhänger als widersprüchlich empfindet, gleichzeitig Katholik zu sein. In Afrika haben das Christentum und der Islam Rituale und Vorstellungen traditioneller Religionen aufgenommen. Der undogmatische Umgang damit begünstigt religiöse Toleranz.

Vielerorts prägt der Glaube auch das Entwicklungsverständnis der Menschen. So gilt in Afrika spirituelles Wachstum als Voraussetzung für Gesundheit und finanziellen Erfolg. Die Kraft, die davon ausgeht, sollte in der Entwicklungszusammenarbeit mehr beachtet werden. Denn auch hier ist die Wirkung von Religion ambivalent: Sie kann Entwicklungsprojekte befördern oder behindern.

Gesine Wolfinger Redakteurin 

welt-sichten 8-2008

 

erschienen in Ausgabe 8 / 2008: Die Macht der Religionen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!