„Wir fordern ein überparteiliches Schiedsgericht für Schuldenkrisen“

Ecuador ist es gelungen, einen Teil seiner Schulden zu begleichen oder nachzuweisen, dass Kreditverträge nicht legitim waren. Solche Fälle sollten nach Ansicht des Ökonomen Hugo Arias künftig mit einem internationalen Verfahren geregelt werden, das nicht von den Gläubigern dominiert wird. Weil die Kreditgeber sich darauf aber nicht einlassen, wollen Lateinamerikas Staaten eine Regionalbank und eine eigene Währung einführen.

Gibt es lateinamerikanische Staaten, die in Gefahr sind, sich erneut zu überschulden?

In den vergangenen Jahre haben einige Staaten wegen der hohen Rohstoffpreise ihre Währungsreserven erhöhen können, aber mit der Wirtschaftskrise und den fallenden Rohstoffpreisen hat sich die Lage wieder verschlechtert. Das gilt auch für Brasilien und Argentinien, wobei Argentinien aus meiner Sicht am Rande einer neuen Krise steht. Das hängt auch damit zusammen, dass Argentiniens Exporte abnehmen und Brasilien den Argentiniern Marktanteile abgräbt.

Wie steht es um Ecuador?

Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass Ecuador zwischen 1996 und 2006 zwei Drittel seiner Einnahmen aus Steuern oder Rohstoffverkäufen in den Schuldendienst investieren musste. In Gesundheit wurden hingegen nur vier Prozent investiert und in Bildung zwölf Prozent. Das ist inakzeptabel und eine klare Verletzung der Menschenrechte, denn die meisten Menschen in Ecuador erhalten keine angemessenen Gesundheits- und Bildungsangebote. Eine zweite Erkenntnis war, dass 85 Prozent der Kredite, die zwischen 1976 und 2006 aufgenommen wurden, für die Rückzahlung alter Schulden verwendet worden sind. Nur 14 Prozent wurden für entwicklungsrelevante Bereiche ausgegeben. Wir haben auch Kreditverträge analysiert, die von den Anwälten der Verleiher aufgesetzt wurden. Darin fanden sich illegale Klauseln, deren Bestimmungen die Verfassung von Ecuador verletzten und höhere Zinsen forderten als gewöhnlich. Man kann von Wucher sprechen.  

Können Sie ein Beispiel für illegale Klauseln nennen?

Es wurde quasi festgeschrieben, dass Ecuador auf sein Recht verzichtet, Verträge zu widerrufen. Zudem gibt es Verträge, die Zinseszins erheben, also Zinsen auf die Schulden plus die geschuldeten Zinsen. Das ist in den meisten Rechtsordnungen verboten, auch in Ecuador. Bei den bilateralen Schulden haben unsere Untersuchungen ergeben, dass illegitime Schulden auf Grundlage illegaler Kreditverträge festgelegt wurden.

Bei wem ist Ecuador heute verschuldet?

In den 1980er Jahren waren Handelsschulden bei Privatbanken der größte Teil. In den 1990er Jahren hat sich das gewandelt. Heute sind multilaterale Geber die größten Gläubiger Ecuadors, darunter die Interamerikanische Entwicklungsbank und eine andere, auf die Förderung der Andenpakt-Länder ausgerichtete Entwicklungsbank. Mit dem Internationalen Währungsfonds IWF und der Weltbank hat Ecuador gebrochen. Beim IWF hat es keine Schulden mehr, der Weltbank schulden wir noch etwas Geld von älteren Krediten. Die bilateralen Schulden bedient Ecuador weiterhin. Der Schuldendienst konnte durch Umschuldungen im Pariser Club verringert werden. Insgesamt sind Ecuadors bilaterale Schulden bei den Gläubigerländern zwischen 2003 und 2007 von 2,5 auf 1,7 Milliarden US-Dollar zurückgegangen.

Was haben Sie der Regierung von Ecuador empfohlen?

Wir haben empfohlen, vor allem die Schulden bei internationalen Privatbanken nicht zu begleichen, mit denen Anleihen bezahlt worden sind. Die Regierung ist unserem Vorschlag gefolgt und hat den Schuldendienst auf diese Anleihen eingestellt. Juristen haben empfohlen, ein internationales Gericht einzurichten, um diese Fragen zu klären. Da die Aussichten für Ecuador in einem solchen Tribunal aber schlecht wären und das Verfahren sehr langwierig wäre, hat unsere Regierung 2009 beschlossen, mit Einwilligung der Gläubiger rund 90 Prozent dieser Anleiheschulden zurückzukaufen. Sie beliefen sich auf rund drei Milliarden US-Dollar, die Regierung zahlte dafür aber nur 30 Prozent des Nominalwertes. Wir haben zudem die Vereinten Nationen um Stellungnahmen gebeten zu illegitimen Schulden, hohen Zinsen und den Folgen für die Menschenrechte.

Argentinien hat nach der Krise 2001/2002 den Schuldendienst eingestellt und sich inzwischen mit den meisten Gläubigern auf einen teilweisen Forderungsverzicht geeinigt. Ist das eine Alternative zu einem internationalen Insolvenzverfahren für Staaten?

Nein. Größere Staaten können es sich vielleicht leisten, ihren Schuldendienst auszusetzen. Ein Land wie Ecuador kann das nicht, weil es sonst keine neuen Kredite bekäme und die Investitionen ins Land zurückgehen würden. Ecuador kann sich ohne gerichtliche Klärung nicht von den Schulden befreien. Ein internationales Insolvenzverfahren sollte alle Gläubiger an einen Tisch bringen und entscheiden, was der Schuldner wirklich zahlen kann. Das würde den Schuldner eher entlasten als ihn zusätzlich zu belasten. Zudem kann im Rahmen des Insolvenzverfahrens die Frage illegitimer Schulden geklärt werden. Wir fordern ein überparteiliches Schiedsgericht. Die Regierungen Europas und der USA könnten so ein Gericht einberufen, haben aber bislang nicht eingelenkt. Die Regierungen Lateinamerikas haben deshalb begonnen, eine regionale Finanzarchitektur mit der Banco del Sur, der Bank des Südens, und ein regionales Währungssystem ins Leben zu rufen. An der Banco del Sur sind sieben Staaten beteiligt, darunter Brasilien und Argentinien. Die Parlamente müssen die Gründung noch ratifizieren. Die Kredite, die die Banco del Sur vergeben wird, sollen vor allem die Armutsbekämpfung, Nahrungssicherheit und Energieerzeugung finanzieren.

Es soll sich also um eine Entwicklungsbank handeln?

Genau. Bisher ist geplant, dass auch Privatunternehmen Kredite erhalten. Wir, die Zivilgesellschaft, sehen das aber sehr kritisch. In Brasilien und Argentinien haben weltweit tätige Unternehmen ihren Hauptsitz, diese Firmen sollten von der Bank keine Kredite bekommen, weil sie wirtschaften wie die Multis der Industrieländer.

Sie schlagen ein regionales Verfahren zur Entschuldung vor. Das könnte aber lediglich Schuldenfragen zwischen den Mitgliedsländern in Lateinamerika klären, nicht jedoch Schulden bei anderen Staaten oder Institutionen, oder?

Das Ziel dieser regionalen Initiative wäre ein international übertragbares Reglement zur Entschuldung. Ideal wäre, wenn es das erwähnte internationale Insolvenzverfahren gäbe. Aber es ist politisch leichter, ein regionales Reglement zur Entschuldung zu schaffen.

Auf mittlere Sicht planen einige lateinamerikanische Staaten die Einführung einer Regionalwährung, des „Sucre“. Wie schätzen Sie die Chancen dafür ein?

Die Mitgliedstaaten des Bündnisses „Bolivarische Allianz für Amerika“, kurz ALBA, wollen den Sucre einführen, aber auch andere Staaten sind interessiert. Argentinien und Brasilien benutzen beispielsweise schon nicht mehr den Dollar für Geschäfte untereinander, sondern kaufen und verkaufen jeweils in ihren eigenen Währungen und zahlen zum Ausgleich der Wechselkurse eine Kompensation. Diesem Beispiel wollen andere Staaten bis zur Einführung des Sucre folgen.

Aber eine Regionalwährung wie der Sucre wird nur für den Handel der beteiligten lateinamerikanischen Staaten untereinander Vorteile bringen, nicht für den Handel mit dem Rest der Welt.

In der vergangenen Dekade hat der Handel mit den USA, Europa und Japan stark zugenommen. Dennoch macht er nur 20 Prozent des Außenhandels der Staaten Lateinamerikas aus. Von einem lateinamerikanischen Euro zu sprechen, wäre im Fall des Sucre jedoch übertrieben, denn dafür müsste die Politik und insbesondere die Wirtschaftspolitik der einzelnen Staaten besser aufeinander abgestimmt werden.

Das Gespräch führten Bernd Ludermann und Felix Ehring.

 

Hugo Arias ist Wirtschaftswissenschaftler der Universität Guayaquil in Ecuador, Mitglied der ecuadorianischen Schuldenüberprüfungs­kommission und Vorsitzender von Latindadd, dem lateinamerikanischen Netzwerk zu Schulden, Entwicklung und Menschenrechten.

 

erschienen in Ausgabe 7 / 2010: Andenländer, alte Kulturen neue Politik
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