Überleben in den Fluten

Toni Keppeler
Im Oktober 2011 steht das Dorf San Pedro unter Wasser.
Heftige Sturmfluten haben im Dorf San Pedro Masahuat in El Salvador immer wieder Menschen in den Tod gerissen und die Ernten vernichtet. Statt auf Hilfe von außen zu warten, werden die Bewohner selbst aktiv. Sie haben ein effektives Frühwarnsystem auf­gebaut. Und sie sind gut vorbereitet, wenn das Wetter in Zukunft noch bedrohlicher wird.

Wenn es regnet in San Pedro Masahuat, dann richtig. Es fühlt sich fast so an, als stehe man unter einem Wasserfall. Fünf Minuten lang ist das angenehm nach einem tropischen schwül-heißen Tag. Danach wird es gefährlich und Ovidio Rivera wird nervös. Er stellt das knackende Funkgerät vor sich auf den Tisch. Rivera wohnt in Tierras de Israel, einem Ortsteil des Städtchens San Pedro Masahuat in der Küstenebene von El Salvador,  ganz nahe an der Mündung des Río Jiboa in den pazifischen Ozean. Weiter oben im Tal gehen Männer im strömenden Regen hinaus an den Fluss, zu den Pegeln am Rand seines Betts. Die Säulen aus Stahlbeton sind gut zwei Meter hoch. Das untere Drittel ist grün angestrichen, danach kommt ein Drittel gelb und oben sind sie rot. 

Autoren

Cecibel Romero

ist freie Journalistin in San Salvador.

Toni Keppeler

ist freier Journalist und berichtet für mehrere deutschsprachige Zeitungen und Magazine aus Lateinamerika.

In der Trockenzeit, wenn der Jiboa zu einem Rinnsal verkümmert, stehen die Pegel fast hundert Meter vom Flusslauf entfernt und einige Meter über dem Wasserspiegel. Jetzt knackt es in Riveras Funkgerät: „Gerade noch im grünen Bereich.“ Zehn Minuten später: „Gelb und steigend.“ Rivera geht hinüber zur Hütte des lokalen Notstandskomitees. Das auf Stelzen gezimmerte Gebäude ist Einsatzzentrale und Notaufnahmelager in einem. „Wenn in der Regenzeit der Fluss vollgelaufen ist und es oben am Ilopango-See eine Stunde lang schüttet, saufen wir hier unten ab“, sagt er. „Da braucht bei uns kein Tropfen zu fallen.“ In diesem Fall hat er fast zwei Stunden Vorwarnzeit. Der Ilopango-See liegt 70 Kilometer flussaufwärts. Wenn es aber oben regnet und unten in San Pedro Masahuat auch, dann schmilzt die Vorwarnzeit auf weniger als eine Stunde und Rivera greift zum Mikrofon.

„Achtung! Achtung!“, krächzt es dann aus den Lautsprechern, die in jedem größeren Weiler der weit verstreuten Gemeinde auf hohen Gerüsten aus Eisen stehen. „Der Jiboa nähert sich der Alarmstufe rot! In zehn Minuten leiten wir die Evakuierung ein!“ In den Streusiedlungen draußen, wo keine Lautsprecher installiert sind, gehen Männer und Frauen von Hütte zu Hütte und klopfen an die Türen. „Es ist wie beim Pokern“, sagt Rivera. „Kommt das Wasser oder kommt es nicht? Wenn man zu oft warnt, gehen die Leute nicht mehr aus dem Haus.“

In den vergangenen Jahren wurden die tiefer gelegenen Gegenden von San Pedro Masahuat mindestens je einmal überflutet. Jedes Mal blieben ein paar wenige in ihren Hütten, weil sie fürchteten, die würden während ihrer Abwesenheit geplündert. Rivera stieg nachts in den Fluss und holte die Zurückgebliebenen von Dächern und Bäumen. Der Mann ist groß und stark und wirkt mit seinem schwarzen Schnauzer und dem Drei-Tage-Bart fast ein bisschen gefährlich. Früher, im Bürgerkrieg, war er bei der Guerilla. Man denkt sich: So einen kann nichts mehr schrecken. Aber nachts in einen tosenden Fluss zu steigen, sagt er, „das ist unheimlich“. Der sonst so friedliche Jiboa sei dann so laut, dass man sich selbst schreiend kaum verständigen könne. „Ein rollendes dunkles Geräusch, da friert es dich.“

Erdbeben und ein Vulkan bedrohen San Pedro zusätzlich

Überschwemmungen, meist ausgelöst von tagelangen Sturzregen, die karibische Hurrikane begleiten, sind nur eine Naturgewalt, die San Pedro Masahuat bedroht. Im Süden, vor der pazifischen Küste stoßen die Karibische Platte und die Cocosplatte aufeinander. Wenn sie sich aneinander reiben, kommt es zu schweren Erdbeben, bisweilen auch zu einem Tsunami. Und nördlich der Gemeinde steht der Chinchontepeque, ein aktiver Vulkan.

Als ob das nicht genug wäre, hat der Mensch das Gefahrenpotenzial noch erhöht. Außer Haiti ist kein Land in der westlichen Hemisphäre mehr entwaldet als El Salvador. Kaum zwei Prozent des ursprünglichen Baumbestands sind übrig geblieben. Der Rest ist Monokulturen zum Opfer gefallen: erst Indigo, dann Kaffee und schließlich Baumwolle und Zuckerrohr. Der nackte und der monokulturell bebaute Boden schluckt viel weniger Wasser als natürlicher Wald. Die Fluten schwemmen die Krume weg. In manchen Gegenden ist in den vergangenen 40 Jahren eine Humusschicht von mehr als einem Meter verloren gegangen. Die Ernten gehen zurück.

El Salvador ist nach einer Studie des UN-Büros zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) weltweit das Land mit dem höchsten Anteil an Risiko-Zonen: 88,7 Prozent der Gesamtfläche sind als solche eingestuft. 95,4 Prozent der Bevölkerung leben dort und erwirtschaften 96,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts. In den vergangenen 100 Jahren erlebte das Land, das etwa so groß ist wie das Bundesland Hessen, zwölf schwere Erdbeben, zwei Tsunamis, acht Vulkanausbrüche und unzählige Überschwemmungen nach tropischen Wirbelstürmen. San Pedro Masahuat hat unter fast all diesen Katastrophen gelitten.

Trotzdem wohnen dort noch immer Menschen und in den vergangenen zwei Jahrzehnten kamen sogar noch mehr. „Wo sollen wir sonst hingehen?“, fragt Ovidio Rivera, der selbst vor 18 Jahren hierher gezogen ist. Zusammen mit anderen ehemaligen Guerilleros und Vertriebenen aus der Zeit des Bürgerkriegs hat er damals das Stück Land besetzt,  die Tierras de Israel. Der Name zeigt, wie hoffnungsfroh die Besetzer waren: ihr gelobtes Land.  Damals dachte Rivera, es sei bequem, so nahe am Fluss zu wohnen. „Wir glaubten, wir hätten dann nie Probleme mit dem Wasser.“

Dass das Problem nicht Mangel, sondern Überfluss ist, hatte niemand im Blick. Zwar war der Fluss bereits zuvor wiederholt über die Ufer getreten, aber es kam so gut wie niemand dabei ums Leben. „Als das hier noch alles Großgrundbesitzern gehörte, standen die Unterkünfte der Landarbeiter weit weg vom Fluss“, erinnert sich Santos Rodas, der Katastrophenschutzbeauftragte im Rathaus von San Pedro Masahuat.

Zentralamerika wird vom Klimawandel hart getroffen

In den vergangenen Jahren wurden die Fluten häufiger und es wird noch schlimmer kommen. Eine Studie von Cepal, der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika, geht davon aus, dass der Klimawandel die zentralamerikanischen Länder stärker treffen wird als die meisten anderen Weltgegenden. Im besten Fall werde die Durchschnittstemperatur bis zur nächsten Jahrhundertwende um 1,8 Grad steigen, im schlechtesten um 6,5 Grad. Es werde weniger, dafür aber immer heftiger regnen. Übers Jahr verteilt aber würden die Niederschläge um 5 bis 30 Prozent abnehmen und damit gehe auch die Produktion von Grundnahrungsmitteln zurück.

Am härtesten wird es El Salvador treffen. Die Nachbarländer sind lange nicht so dicht bevölkert und haben zum Teil noch große Regenwälder, die für Ausgleich sorgen. Alle haben ein Überangebot an Wasser, in El Salvador aber wird es jetzt schon knapp. „Auf einer so wackeligen Basis wird der Klimawandel für uns sofort zur Katastrophe“, sagt Umweltminister Herman Rosa Chávez. Treffe die günstigste Prognose ein, könne das Land sich vielleicht noch anpassen. Bei der schlimmsten Projektion aber „sind wir hoffnungslos verloren“.

Vor seiner Zeit als Minister hat Rosa Chávez als Angestellter eines Umweltverbandes die Politik der Regierung kritisiert. Nach gut drei Jahren im Amt backt er lieber kleine Brötchen. Sein bislang konkretester Vorschlag: die großen Schulferien von der Trockenzeit in die Hurrikan-Saison zu verlegen. Dann nämlich könnten die Schulen bei Überflutungen als Notunterkünfte genutzt werden. Man brauche sie nur mit Kochstellen und Waschsälen ausstatten und das schaffe man mit eigenen Mitteln. Für weitergehende Schutz- und Anpassungsmaßnahmen aber sei Hilfe von außen nötig.

Der Hurrikan Stan wurde 2005 zum ersten Test

In San Pedro Masahuat warten die Menschen darauf nicht mehr. 2003 wurde zum ersten Mal ein Bürgermeister der FMLN gewählt. Er schuf die Stelle eines Katastrophenschutzbeauftragten. „Wir haben zunächst nur improvisiert“, erzählt Amtsinhaber Santos Rodas. In jedem Weiler wurde ein kleines Komitee gegründet, man arbeitete Evakuierungspläne aus, verhandelte mit Kirchen und Schulen, um ihre Räume als Notunterkunft nutzen zu können. Dann kam der erste Test.

Im Oktober 2005 raste der Hurrikan Stan über den Süden Mexikos und über Guatemala und El Salvador. Nicht der Sturm selbst, sondern die vom Regen ausgelösten Erdrutsche und Überschwemmungen töteten weit über 700 Menschen. Auch San Pedro Masahuat stand wieder einmal unter Wasser, ein Mensch kam zu Tode. „Da merkten wir, was uns alles noch fehlt“, sagt Rodas im Rückblick. Heute gibt es in jedem Weiler ein offizielles Notstandskomitee mit gewählten Sprechern und regelmäßige Katastrophenschutzübungen. In einem Raumordnungsplan für die Gemeinde sind die Hochrisikozonen rot eingezeichnet. Dort darf nicht mehr gebaut werden.

Es gibt ein Frühwarnsystem mit Pegeln im ganzen Tal, mit Beobachtern, die mit Funkgeräten ausgestattet sind, und Lautsprechermasten zur Warnung in jedem Weiler der Gemeinde. Zehn Kilometer Damm wurden in Eigenarbeit gebaut, hinzu kamen unzählige Stützmauern aus Altreifen, die Erdrutsche verhindern. Die wichtigste Neuerung aber, sagt Rodas, war gar nicht materiell: „Wir haben gelernt, dass die Natur nicht böse ist, sondern dass wir verletzbar sind, weil wir mit ihr nicht umgehen können.“ Gegen die mit dem Klimawandel verbundenen Sturzregen kann man in San Pedro Masahuat nichts unternehmen. Aber man kann versuchen, sich anzupassen – auch in der Landwirtschaft.

Die Bauern verlassen sich auf traditionelle Maissorten

Viele Kleinbauern im Jiboa-Tal haben den traditionellen Maisanbau eingestellt. „Warum sollten wir uns abrackern, wenn nach der nächsten Überschwemmung die ganze Ernte weg war?“, fragt Ovidio Rivera. „Und wenn sich die Fluten in einem Jahr in Grenzen hielten, kam mitten in der Regenzeit eine zehntägige Trockenperiode und alles war verdorrt.“ Eine verlorene Ernte bedeutet Schulden, denn der Saatgutmarkt wird von den großen Agrochemie-Konzernen beherrscht. Sie vertreiben Hybridsamen, die selbst kein Saatgut reproduzieren. Kleinbauern müssen sie Jahr für Jahr zusammen mit den nötigen Düngern und Pestiziden kaufen. Dafür nehmen sie in der Regel Kredite auf. Geht die Ernte verloren, können sie diese nicht bedienen.

„Wir dachten zuerst daran, am Beginn der Trockenzeit auszusäen und nicht in der Regenzeit, wie wir es gewohnt waren“, sagt Rivera. „Aber dann müssten wir unsere Felder bewässern und das kann sich niemand leisten.“ Als Ausweg suchten die Bauern anderes Saatgut und fanden es im Norden von Guatemala. In dieser fast ausschließlich von Maya bewohnten Gegend haben über 30 alte Sorten den Druck der Saatgutkonzerne überlebt; nicht nur die bekannten mit den weißen oder gelben Kolben, sondern auch solche mit blauen und schwarzen Körnern und sogar bunt gescheckte. Die haben nicht nur den Vorteil, dass sie sich reproduzieren. Es stellte sich heraus, dass die meisten viel widerstandsfähiger sind gegen Überschwemmungen und Dürren. Wenn dann noch die Wucht der Fluten mit Barrieren aus Bambus abgebremst wird, gibt es wenigsten immer etwas zu essen.

Den zweiten Test hat San Pedro Masahuat überstanden. Anfang November 2009, als sich der Hurrikan Ida über El Salvador ausregnete, stand das untere Jiboa-Tal wieder einmal tief unter Wasser. Aber in San Pedro Masahuat ist kein Mensch ertrunken, keiner fiel einem Erdrutsch zum Opfer. Tote gab es nur in den weniger vorbereiteten Nachbargemeinden.

Trotzdem musste Ovidio Rivera wieder hinein in den grollenden Fluss. „Es gibt da ein altes Paar“, erzählt er fast belustigt. „Die sind beide schon mehr als achtzig Jahre alt und wohnen direkt unten am Wasser.“ Nie wollten sie ihre Hütte verlassen, wenn evakuiert wird. Es werde schon nicht so schlimm kommen, sagten sie. „Ich weiß nicht, wie oft ich die alte Frau schon vom Dach geholt oder von einem Baum gepflückt habe.“ Er habe ihr schon gedroht, das nächste Mal werde er nicht mehr kommen, sagt Rivera. „Aber ich will nicht, dass sie ertrinken. Vielleicht kaufe ich ihnen ein Boot.“

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erschienen in Ausgabe 12 / 2012: Leben mit dem Klimawandel
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