Armut in neuem Gewand

In Brasilien, Indien und China wächst die Wirtschaft schnell. Entwicklungs­experten sehen eine Machtverschiebung von Nord nach Süd. Brauchen die Schwellenländer noch Hilfe im Kampf gegen die Armut? Kirchliche Hilfswerke suchen nach neuen Konzepten.

Die Vereinten Nationen (UN) sprechen vom „Aufstieg des Südens“. Dirk Messner, der Leiter des Deutschen Institutes für Entwicklungspolitik (DIE), nennt es eine „tektonische Machtverschiebung“ in Richtung Asien. Gemeint ist: Die Landkarte von Arm und Reich verändert sich. Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien sind zu Wachstumsmotoren der Weltwirtschaft geworden. Ihre jährlichen Wachstumsraten übertreffen die der Industrieländer bei weitem. In den 1970er Jahren machten Westeuropa und die USA noch die Hälfte der Weltwirtschaft aus, 2050 wird es nur noch ein Drittel sein.

Längst leisten Schwellenländer auch selbst Entwicklungshilfe – die Grenzen zwischen den Gebern und Nehmern lösen sich auf. Das zwingt die Regierungen der Industrieländer und die nichtstaatlichen Organisationen dazu, ihre Konzepte von Entwicklung und die Zusammenarbeit mit ihren Partnern zu überdenken. Brauchen Schwellenländer noch Hilfe im Kampf gegen die Armut – und wenn ja, wie sollte die aussehen? Die Diskussion ist in vollem Gang – auch bei der Entwicklungspolitischen Konferenz der Kirchen und Werke, zu der Anfang April rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Berlin zusammenkamen.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat sich bereits auf die Verschiebung der Machtverhältnisse eingestellt. „Wir sind dabei, unsere Kooperation mit den Schwellenländern zu transformieren“, sagte BMZ-Abteilungsleiter Manfred Konukiewitz bei der Konferenz. Die klassische Entwicklungshilfe sei nicht mehr gefragt; nun müsse man diese Länder beim Aufbau von Institutionen oder der Verwaltung unterstützen, gemeinsam mit lokalen Experten.

Das BMZ hat seine finanzielle und technische Hilfe für China 2009 eingestellt. 2011 hat das Ministerium für fünf seiner Partnerländer, aufstrebende Staaten wie Indien, Brasilien und Mexiko, eine neue Strategie aufgelegt. Schwerpunkte der Zusammenarbeit mit diesen „globalen Entwicklungspartnern“ sind unter anderem Umweltschutz und eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Hingegen gehe es nicht mehr um die Frage, „was wir tun, um die restlichen 300 bis 500 Millionen Armen in Indien oder China aus der Armut herauszuführen“, sagte Konukiewitz.

Bislang verschärft das dynamische Wachstum in China, Indien und Brasilien die Ungleichheit

Ist das dann Aufgabe der Zivilgesellschaft und damit auch der kirchlichen Hilfswerke? Die Präsidentin von „Brot für die Welt“, Cornelia Füllkrug-Weitzel, sieht zunächst die Regierungen der Schwellenländer in der Pflicht. „Sie müssen ihre Sozial- und Wirtschaftspolitik so gestalten, dass die Menschen ihre Rechte auf Nahrung, Wasser, Bildung und Gesundheitsdienste wahrnehmen können.“ Allerdings komme der Zivilgesellschaft eine Schlüsselrolle zu, auf diese Politik Einfluss zu nehmen.

DIE-Chef Dirk Messner setzt auf die nationalen Eliten. Die globale Mittelschicht werde bis 2030 auf knapp fünf Milliarden Menschen wachsen – und 80 Prozent von ihnen leben dann in Schwellenländern, erklärt er. Zugleich sind dort zwei Drittel der extrem Armen auf der Welt zuhause: 650 Millionen Kinder, Frauen und Männer, die mit weniger als 1,25 US-Dollar am Tag auskommen müssen. Eine Entwicklungspolitik, die Armut weiter reduzieren will, dürfe den Wohlhabenden im globalen Süden die Verantwortung nicht abnehmen, fordert Messner.

Internationale Zusammenarbeit müsse außerdem zum Ziel haben, Entwicklung nachhaltig zu gestalten. Denn bislang geht das dynamische Wachstum in China, Indien und Brasilien auf Kosten der Natur und verschärft die Ungleichheit: Die Umweltschäden sind riesig und die soziale Kluft wächst. Eine weitere Zerstörung der Umwelt etwa durch den Klimawandel berge das Risiko, dass „die Ärmsten noch ärmer“ werden, warnt Messner. Hier kommen für Füllkrug-Weitzel die Kirchen in den Schwellenländern ins Spiel: Sie könnten am Aufbau von Netzwerken mitwirken, um „Lösungen zu suchen für ressourcenarme Entwicklungspfade“. Ihre Präsenz in den Gemeinden vor Ort biete dafür gute Voraussetzungen.

 „China ist immer noch ein Entwicklungsland“

Der brasilianische Politologe Paulo Alfredo Schönardi gibt sich bei der Konferenz selbstbewusst. „Wir können den Norden bei der Lösung der globalen Probleme wie dem Kampf gegen den Klimawandel unterstützen“, sagt er. Sein Land habe es geschafft, mit Hilfe von Sozialprogrammen wie Bolsa Família die Armut in den vergangenen zehn Jahren zu halbieren – unter dem starken Druck der Zivilgesellschaft. Trotzdem hält er Unterstützung aus dem Norden weiter für sinnvoll, vor allem in der ökologischen Landwirtschaft. „Wir brauchen Entwicklungszusammenarbeit, keine Entwicklungshilfe“, betont Schönardi, der mit einem Stipendium von „Brot für die Welt“ in Hamburg studiert. Die könne auch dazu beitragen, der Mittelschicht klarzumachen, dass sie mehr Verantwortung für die Umwelt übernehmen muss. 

Die Direktorin des Third World Network, Yoke Ling Chee, mahnt zur Vorsicht: Zwar sei die Dynamik in Indien und China beeindruckend – doch die Volkswirtschaften hingen noch vom Export von Rohstoffen und Konsumgütern ab. Sie seien instabil und krisenanfällig. „China ist immer noch ein Entwicklungsland“, sagt Chee, die in Peking lebt. Den Chinesen sei bewusst, dass das schnelle Wirtschaftswachstum die sozialen Spannungen und die Umweltprobleme vergrößert hat. Gegenwärtig formten sich immer mehr Initiativen, die für das Recht auf Nahrung, Wasser, Bildung und medizinische Versorgung eintreten oder sich gegen die Umweltverschmutzung zur Wehr setzen. Mit ihnen sollten deutsche Kirchen und Hilfswerke zusammenarbeiten, um Solidarität und Menschenwürde zu stärken und Räume für einen Dialog zu eröffnen. Auch auf der internationalen Bühne sieht sie viele Möglichkeiten der Kooperation, um ungerechte Strukturen zu beseitigen. 

Autorin

Gesine Kauffmann

ist Redakteurin bei "welt-sichten".

Füllkrug-Weitzel sieht das ähnlich. „Wir haben noch eine ganze Reihe von Aufgaben in den Schwellenländern“, sagte sie. Trotz des hohen Wirtschaftswachstums bleibe eine gravierende soziale Ungerechtigkeit. „Wir planen keinen Rückzug aus Indien oder China.“ Im Gegenteil: Die Zivilgesellschaft werde weiter darin gestärkt, Einfluss auf die nationale Sozialpolitik zu nehmen. Gemeinsam mit Partnern aus dem Süden setze sich „Brot für die Welt“ zudem in internationalen Verhandlungen für die Interessen der Armen ein. Außerdem würden Projekte gefördert, die als Modell dienen könnten, sagt sie und verweist auf ein Programm zur lokalen Wasserversorgung im Norden Brasiliens, das nun vom Staat weitergeführt und ausgedehnt werde. Claudia Warning, Vorstand für internationale Programme, nennt als weiteres Vorhaben, die Partner in Ländern wie Mexiko, Südafrika und Indien stärker beim Fundraising zu unterstützen. Füllkrug-Weitzel: „Wir sind auf dem richtigen Weg, aber der ist noch nicht zu Ende.“

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erschienen in Ausgabe 5 / 2013: Wer spricht Recht?
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