Wenn der Anschlag zum Alltag wird

Die USA haben ihre letzten Truppen aus dem Irak längst abgezogen. Seitdem hat die Zahl der Terroranschläge wieder zugenommen. Bagdad ist nach jahrelangem Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten tief gespalten. Die Einwohner der Hauptstadt arrangieren sich mit der jederzeit drohenden Gewalt und klammern sich an alles, was Normalität verspricht.

Was hat dieses Viertel nicht alles erleiden müssen. Nicht lange nach der Invasion der amerikanischen und britischen Truppen explodierten die ersten Bomben auf dem Firdous-Platz. Dort, wo am 9. April 2003 die Bronzestatue Saddam Husseins vom Sockel gestürzt wurde und  die Diktatur im Irak auch symbolisch ihr Ende fand. Seitdem sind in Karrada Tausende Sprengsätze gezündet, Tausende Menschen getötet und Tausende Häuser in Brand gesteckt und zerschossen worden. Unzählige Entführungen hatten vor allem Ausländer zum Ziel, die in den internationalen Hotels in Karrada lebten oder ihre Büros in dem Bezirk hatten. Mit ihnen wurde Lösegeld für den Aufstand erpresst und politischer Druck auf die Besatzer ausgeübt.

Autorin

Birgit Svensson

ist freie Journalistin und berichtet seit 2004 aus dem Irak. Sie lebt in Bagdad im Stadtviertel Karrada.

Autobomben explodierten vor Kirchen und Moscheen. Als Ende Oktober 2010 die syrisch-katholische Sayidat-al-Najat-Kirche gestürmt und fast hundert Gläubige als Geiseln genommen wurden, stand Karrada das letzte Mal im Zentrum der Weltöffentlichkeit. Zu dem Anschlag bekannte sich die Organisation „Islamischer Staat Irak“, eine Dachorganisation von insgesamt 28 Gruppen, eine davon Al-Qaida. Die Befreiung der Geiseln durch die irakische Armee kostete fast fünfzig Menschen das Leben. Seitdem ist es ruhiger geworden um das Viertel am östlichen Tigrisufer.

Die ausländischen Truppen sind abgezogen und mit ihnen die zivilen Aufbauhelfer und die Medien. Das öffentliche Interesse am Schicksal des Bezirks und der sechs Millionen Einwohner Bagdads tendiert inzwischen gegen Null. „Das ist nicht fair“, klagen deshalb  viele Einwohner der Stadt. „Jetzt, nachdem die Amerikaner weg sind, interessieren wir niemanden mehr.“

Nur einen Steinwurf vom Firdous-Platz entfernt wohnt und arbeitet der Bildhauer Taha. Seine Kunstgalerie hat er zum privaten Wohnzimmer umgestaltet. „Saddam hat uns entmündigt“, sagt Said, ein Kunstmaler, der zu Besuch  kommt: „Und jetzt sollen wir schnell erwachsen werden.“ Der 54-Jährige hat wie  viele anderen unter dem Gewaltherrscher gelitten. Ende der 1980er Jahre machte er sich dem Druck, der auf Künstlern mit einem kritischen Bewusstsein lastete, Luft und malte eine elegante Dame, deren Kopf abgeschnitten neben ihrem Körper auf dem Tisch liegt. „So habe ich uns damals gesehen“, kommentiert der kleine, hagere Mann sein Werk. „Saddam duldete keinen Widerspruch.“ Fortan lebte und malte Said im Untergrund.

Als Saddam gestürzt wurde, traute sich Said wieder aus seinem Versteck. Seine erste Ausstellung seit über zwanzig Jahren fand im Hauptquartier der kommunistischen Partei am Andalus-Platz in Karrada statt. Er verkaufte gut. Die Kommunisten entwickelten sich zu einer aufstrebenden Bewegung und besetzten Posten in der von US-Administrator Paul Bremer installierten Übergangsregierung wie auch  unter dem vorübergehend eingesetzten Premierminister Iyad Allawi.

Doch die Vergangenheit holte die Kommunistische Partei schnell ein. Die Spannungen zwischen den ehemaligen Saddam-Loyalisten unter ihnen und den Saddam-Gegnern nahmen zu. Anschläge auf ihre Büros und führenden Mitglieder machten die politische Arbeit fast unmöglich. Einige wurden getötet, viele gingen ins Ausland. Auch Said musste wieder in den Untergrund, denn inzwischen hatte die religiöse schiitische Allianz die Wahlen gewonnen und drückte der Stadt ihren Stempel auf. „Plötzlich waren Koran-Verse und Kalligrafen als Kunst angesagt“, berichtet Said, „allerhöchstens Bilder von verschleierten Frauen“ waren erlaubt.

Seinem Freund, dem Bildhauer Taha, erging es nicht besser, obwohl dieser in der Saddam-Ära unbehelligt arbeiten konnte. Einer seiner Frauenakte schaffte es damals sogar in den Palast von Saddam-Sohn Udai. Jetzt aber ist Nacktheit ein absolutes Tabu und Taha musste seine Galerie schließen. Ein Sprengsatz zerstörte den Ausstellungsraum, nur das Atelier im hinteren Teil blieb verschont. Plastiken und Bilder hat der Künstler vorsichtshalber ausgelagert. „Wir sitzen und warten, bis die fundamentalistische Welle wieder umschlägt“, sagt Taha und grinst sarkastisch. Die Kollegen nehmen den Hintereingang, wenn sie ihn besuchen wollen. Manchmal bringt einer ein paar Bier mit.

Karrada, das Viertel, in dem die Künstler arbeiten, ist wohl der lebendigste Stadtteil Bagdads.  In keinem anderen Viertel gibt es so viele Läden, Geschäfte und Firmenniederlassungen wie hier. Auch die Universität hat ihren Hauptsitz in Karrada. Als in den 1940er Jahren im Irak die Landflucht begann, zogen viele Schiiten aus den südlichen Gegenden Iraks in die boomende Hauptstadt und siedelten sich zunächst im südöstlichen Karrada an, wo mehrheitlich Christen und Juden wohnten. Nach der Gründung Israels und den darauffolgenden Kriegen um Palästina verließen viele Juden ihre irakische Heimat. Heute leben nur noch fünf jüdische Familien in Bagdad – alle in Karrada. Die zugezogenen Schiiten waren Händler und Handwerker. Karrada wurde zum Geschäftsviertel.

Auch wenn die Wunden, die der Terror der letzten Jahre dem Viertel zugefügt hat, nicht vernarben wollen und immer wieder durch neue Anschläge aufbrechen: Der Optimismus der Einwohner von Karrada und die leisen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft entfalten eine Geschäftigkeit, die ohne Beispiel ist im Rest Bagdads.

Wie in Karrada erobern sich die Menschen überall in Bagdad beharrlich und geduldig ihre Freiräume zurück – selbst auf die Gefahr hin, dass sie dabei Rückschläge erleiden. Nirgendwo sonst im Mittleren Osten leben so viele unterschiedliche ethnische und religiöse Gruppen zusammen wie in Bagdad: Araber, Kurden, Turkmenen, Assyrer, Armenier, Mandäer, Jesiden, Sunniten, Schiiten, Christen. Und nirgendwo sonst sind die Menschen so erschüttert, verzweifelt und ratlos darüber, was in den letzten Jahren geschah. Zwar habe es auch unter Saddam Hussein Konflikte zwischen ihnen gegeben, die der Diktator mit Gewalt unterdrückt habe.  Doch das Gemetzel, das nach der Bombardierung der für Schiiten heiligen Moschee in Samarra im Februar 2006 zwischen Sunniten und Schiiten entbrannte, kann sich keiner erklären. Sogar  von einem lokalen Bürgerkrieg war die Rede. Erst der „surge“, wie die Amerikaner ihren militärischen Plan zur Rettung Bagdads nannten, zeigte schließlich Erfolg und die Anschläge gingen zurück.

Der Konflikt hat die Stadt verändert, Tausende sind von einem Viertel ins andere gezogen oder haben die Stadt verlassen. In Rusafa, am Ostufer des Tigris, wohnen jetzt zumeist Schiiten, die Sunniten auf der anderen Seite in Karkh. Um die Konfliktpartien zu trennen, wurden kilometerlange Betonmauern zwischen den Bezirken und sogar innerhalb einzelner Viertel errichtet. „Wir waren wie gelähmt vor Angst“, erzählen Jafaar und seine Frau Hala, Dozenten an der Bagdad-Universität. Er ist Schiit, sie Sunnitin. „Das war normal in Bagdad, seit Jahrzehnten.“ Die Religionszugehörigkeit habe nie eine Rolle gespielt. Als dann immer mehr Leichen von ermordeten Nachbarn auf dem Bürgersteig lagen, ist das Paar Ende 2007 in eines der wenigen noch gemischten Viertel wie Karrada gezogen.

Die Besatzer werden für das Chaos verantwortlich gemacht 

Die platzen jetzt aus allen Nähten, denn vielen erging es wie den beiden Akademikern. Jafaar ist sich sicher, dass die Brutalität mit der Iraker andere Iraker umbrachten, von außen gesteuert war. „In unser Viertel zogen plötzlich Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.“ Auch die Amerikaner werden von vielen Bagdadern beschuldigt, direkt an den Morden beteiligt gewesen zu sein. Unterstützung erhält diese These durch eine Studie des Zentrums für Globalisierungsrecherchen im kanadischen Montreal: Die Autoren vergleichen die Verhältnisse im Irak mit der Situation in Lateinamerika, als der US-Geheimdienst CIA unterschiedliche konterrevolutionäre Gruppen unterstützte, um das Prinzip „Teile und Herrsche“ durchzusetzen.

Die Geschichte hat es nicht gut gemeint mit Bagdad. Unzählige Male wurde die Stadt erobert, besetzt, befreit und zerstört. Es scheint, als wollten alle neuen Herrscher das Erbe der alten ausmerzen. Es gibt kaum ein Monument, das die Zeiten überdauert hat. Auch von Saddam Hussein fehlt heute nahezu jede Spur in Bagdad, obwohl der Personenkult des ehemaligen Diktators legendär war. Überall prangten seine Konterfeis, waren übergroße Statuen aufgestellt, Straßen, Plätze, Gebäude, sogar ganze Stadtteile nach ihm benannt. Nichts dergleichen mehr. Seine Ära ist im Stadtbild ausradiert.

An seine Stelle trat jedoch nicht etwa George W. Bush als neuer Herrscher, sondern die religiösen islamischen Führer. Graue Eminenzen mit weißen Bärten blicken die Passanten mal auf Augenhöhe, mal von oben herab an. Oft hängen sie an denselben Stellen wie früher Saddam Hussein. Es sind die schiitischen Großajatollahs der Sadr-Familie, die von Saddam ermordet wurden und nun zu späten Ehren gelangen.

Von Saddam selbst spricht fast sechs Jahre nach seiner Exekution fast niemand mehr. Die Erinnerungen verblassen schnell in einer Stadt, deren Bewohner gejagt werden von Ereignissen, denen sie nicht gewachsen sind. Bagdad findet keine Zeit, die Vergangenheit aufzuarbeiten, solange seine Einwohner mit dem Überleben beschäftigt sind. Zwar ist die Zahl der Anschläge seit 2008 drastisch zurückgegangen. Doch seit dem Abzug der US-Truppen Ende letzten Jahres haben sie wieder zugenommen. Der Juli war mit 325 Toten der blutigste Monat seit über zwei Jahren.

Beobachter machen die irakische Politik für die wieder zunehmenden Anschläge verantwortlich. Die mehrheitlich schiitisch geprägte Regierung befindet sich in einer Dauerkrise. Das Machtvakuum bietet Raum für radikale Kräfte, die ihre Unzufriedenheit mit Bomben artikulieren. „Der Terror im Irak ist politisch motiviert“, behauptet Yonadem Kanna, einer der fünf christlichen Abgeordneten im irakischen Parlament. Sunniten und Schiiten buhlen um die Macht im Lande. Die Kurden stehen zwischendrin.

Seit Wochen wird versucht, ein Misstrauensvotum gegen Premierminister Nuri al-Maliki durch das Parlament zu bringen. Ohne Erfolg. Die dafür notwendige Stimmenzahl kommt nicht zusammen. Kanna befürchtet, dass seine Landsleute mit dieser Hängepartie bis zu den nächsten Wahlen 2014 leben müssen. Die Händler am Alibaba-Platz in Karrada zucken darüber nur mit den Schultern. „Wir hatten unter Saddam nichts zu sagen und jetzt auch nicht“, ist die einhellige Antwort.

Doch die Menschen geben nicht auf und üben sich in der ureigenen irakischen Überlebenskunst. Manch einer besorgte sich zwei Identitätsnachweise: einen mit einem schiitischen und einen mit einem sunnitischen Namen. Kaum war eine Bombe an einem belebten Marktplatz explodiert, standen eine halbe Stunde später die Händler an derselben Stelle und verkauften ihre Waren, so als sei nichts geschehen.

In Karrada ist der alte Glanz der zentralen Einkaufsstraßen zwar noch nicht vollends zurückgekehrt, aber erahnen lässt sich die Zukunft bereits. Die Eröffnung von zwei schicken Boutiquen eines türkischen Modehauses zeugt davon, wie auch die Renovierung beschädigter Häuser oder die Instandsetzung des legendären Alibaba-Brunnens. An der Uferstraße Abu Nawas sind die Gärten und Fischrestaurants wieder geöffnet.Und auch die Mauern, die immer noch ganze Stadtviertel trennen, werden Stück für Stück wieder abgetragen.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2012: Spuren des Terrors
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