Nutznießer des Terrors

Die islamistische Sekte Boko Haram überzieht den Norden Nigerias mit einer Welle von Gewalt. Die Regierung unter Goodluck Jonathan bekämpft sie mit militärischen Spezialkommandos. Das hat führende Militärs reich gemacht und ihnen zurück ins Zentrum der Macht verholfen.

Der vierte Versuch, Nigeria zu demokratisieren, geht bereits in das fünfzehnte Jahr, und die Erinnerung an die lange Phase der Militärregime verblasst. 1999 kehrte die diskreditierte Armee in die Kasernen zurück, und die Generäle tauschten ihre Uniform gegen landesübliche Kleidung wie Agbada oder Riga – in der Gewissheit, dass sie für ihre Taten wohl niemals zur Rechenschaft gezogen würden. Diese Sicherheit vermittelte ihnen einer der Ihren: der einstige Juntachef Olusegun Obasanjo. Die auf Abruf stehenden oberen Ränge der Militärkaste, die sich über viele Jahre ungeniert bereichert und effiziente Netzwerke für die Zeit nach dem aktiven Dienst aufgebaut hatten, sicherten den Wahlsieg Obasanjos zum Präsidenten und bauten ihre Beziehungen im Ruhestand weiter aus.

Tausende pensionierte Offiziere spielen heute als Geschäftsleute, Politiker, Berater und Grundbesitzer, aber auch als traditionelle Herrscher (Könige, Chiefs) und als Mitglieder staatlicher Gremien und halbstaatlicher Unternehmen wichtige Rollen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ihr landesweit tätiger Verband RANAO (Retired Army, Navy and Airforce Officers’s Club) unterhält darüber hinaus feste Beziehungen zur aktiven Truppe. Wie man die beiden Amtszeiten Obasanjos auch bewertet: Für eine überschaubare Zeit hat er die Militärs in die Schranken gewiesen und nach Bedarf instrumentalisiert. Hingegen blieb die Professionalisierung der Streitkräfte trotz US-amerikanischer Trainer und Berater nur Stückwerk.

Autor

Alhaji Dan Nijeriya

Der Autor schreibt unter Pseudonym. Sein wahrer Name ist der Redaktion bekannt.

Vor diesem Hintergrund muss der Aufstieg von Boko Haram gesehen werden. Die nigerianische Regierung hat das Schicksal des Nordens in die Hände der Sicherheitskräfte gelegt, angeführt von den Obristen und Generälen des Militärapparates. Sie haben angesichts der Bedrohung durch Boko Haram die einmalige Chance ergriffen, wieder aus dem Schatten der Politik herauszutreten und ins Machtzentrum mit seinen enormen Finanzressourcen zurückzukehren. Die militärische und politisch-ideologische Aufrüstung gegen Boko Haram hat staatliche Ressourcen mobilisiert, die die Einsätze im Nigerdelta zum Schutz der Ölförderung weit in den Schatten stellen und Erinnerungen an den Bürgerkrieg um das abtrünnige Biafra Ende der 1960er Jahre wachrufen. Fast ein Fünftel des Staatshaushaltes fließt nun in den Sicherheitsbereich; das sind etwa sechs Milliarden US-Dollar im Jahr.

Der Hass der Islamisten auf alles Staatliche, die Ausweitung des Terrors auf Kirchen, öffentliche Plätze und Ausländer, der Schwur frustrierter Politiker im besonders vom Terror heimgesuchten Norden des Landes, dem amtierenden Staatschef Goodluck Jonathan so viel Steine wie möglich in den Weg zu legen, und die Arroganz der Zentralregierung, dem nördlichen Armenhaus des Landes endlich seine Bedeutungslosigkeit und Unregierbarkeit vorzuführen, haben diesem Konflikt seinen hochexplosiven Charakter verliehen.

Politiker schoben der Gruppe Gelder zu, um potenzielle Anschläge zu unterbinden

Der Name der Sekte Boko Haram bezog sich ursprünglich darauf, dass Betrug und Korruption Sünde und Auswuchs westlichen Lebensstils sind. Die Übersetzung „westliche Bildung ist verboten“ ist ein Produkt der nigerianischen Medien. Denn „Boko“ kann seit der Kolonialzeit auch säkulare Bildung bedeuten.

Die geistigen Wurzeln von Boko Haram gehen auf die in den späten 1970er Jahren gegründete puristische islamische Reformbewegung der Izala zurück. Doch in ihrer heutigen Gestalt ist die Terrorgruppe das politische Produkt der heiß umkämpften Lokalpolitik im Bundesstaat Borno, wo die All Nigeria People’s Party (ANPP) seit 1999 die Gouverneure stellt. Ali Modu Sheriff, der einstige „Pate“ des später in Ungnade gefallenen ersten Gouverneurs von Borno, Mala Kachalla, instrumentalisierte Boko Haram und ihren Führer Mohammed Yusuf im politischen Macht- und Ränkespiel und setzte damit eine Entwicklung in Gang, die wenige Jahre später Tod und Verderben über Borno und die benachbarten Bundesstaaten bringen sollte. Mit dem Versprechen, den Scharia-Staat Borno in ein wahrhaft islamisches Gemeinwesen zu verwandeln, sicherte sich Ali Modu Sheriff die Kandidatur für die Gouverneurswahlen 2003. Er ernannte mit Buji Foi einen engen Weggefährten des Sektenführers zum Religionsbeauftragten und übergab Boko Haram 20 Millionen Naira (gut 90.000 Euro), um Jugendliche für Lobbyarbeit zugunsten des Kandidaten zu bezahlen.

Doch Ali Modu Sheriff brach sein Versprechen, den ultimativen islamischen Staat in Borno zu errichten. Wie in allen anderen Bundesstaaten landete ein beträchtlicher Teil der Finanzzuweisungen des Bundes in der Privatschatulle des Gouverneurs. Boko Haram und Mohammed Yusuf hatten ihre Schuldigkeit getan, und die vormals engen Beziehungen schlugen schnell in scharfe verbale Angriffe der Islamisten auf den ihrer Meinung nach gottlosen und korrupten Gouverneur um, die dieser mit dem brutalen Einsatz staatlicher Sicherheitskräfte beantwortete. Es gab erste Opfer auf beiden Seiten. Mohammed Yusuf flüchtete 2004, kehrte aber schon bald nach Vermittlung durch Bornos Vizegouverneur Adamu Dibal aus dem saudi-arabischen Exil nach Borno zurück.

Im Sommer 2009 eskalierte der Konflikt zwischen Boko Haram und staatlichen Sicherheitskräften und endete in einem Blutbad. Mehr als 700 Leichen lagen auf den Straßen Maiduguris. Dutzende Inhaftierte starben, und Boko Haram beschuldigte die Polizei, sie habe mehrere Sektenmitglieder im Gefängnis vergiftet. Die überlebenden Sektenmitglieder verschwanden, kehrten aber bald unter neuer Führung, organisiert in kleinen weitgehend autonomen Einheiten, hasserfüllter als zuvor zurück.

Fast unbemerkt blieb, dass kriminelle Banden im Umfeld der Boko Haram ungestraft ihr tödliches Geschäft betreiben

Als die Polizei Mohammed Yusuf, Buji Foi und weitere Mitglieder von Boko Haram vor den Augen und Handys Unbeteiligter hinrichtete, tauchten die Aufnahmen binnen weniger Stunden auf YouTube auf. Das Debakel nahm seinen Lauf, und Boko Haram konnte nach Attacken in sichere Rückzugsgebiete in Jigawa und Katsina ausweichen, wo sich führende Politiker für inhaftierte Mitglieder einsetzten und die Sekte als Zeichen unterschwelliger Sympathie finanziell unterstützten. Finanzzuweisungen, Schutzgeld- und Kautionszahlungen galten auch im Bundesstaat Kano zeitweise als geeignetes Mittel, potenzielle Anschläge zu unterbinden.

Erste selbstgefertigte Bomben sowie Heckenschützen zielten auf die verhassten Sicherheitskräfte. Boko-Haram-Mitglieder überfielen Gefängnisse und befreiten inhaftierte Mitstreiter. Dabei kamen auch unbeteiligte Zivilisten ums Leben. Bornos Gouverneur Sheriff und die Zentralregierung in Abuja unter dem neuen Staatspräsidenten Goodluck Jonathan setzten nun gezielt Spezialkommandos des Militärs ein, die mit einer bis dahin nicht vorstellbaren Brutalität gegen alles vorgingen, was nach Boko Haram klang.

Weitgehend unbemerkt blieb, dass auch gut organisierte kriminelle Banden im Umfeld der Boko Haram ungestraft ihr tödliches Geschäft betreiben, das dann häufig Boko Haram zugeschrieben wird. Unbemerkt blieb auch, dass Heranwachsende die meisten Selbstmordattentate unwissentlich verüben. Sie werden mit viel Geld geködert, ein Fahrzeug an diesen oder jenen Ort zu fahren, ohne zu ahnen, was sie transportieren. Die jungen Männer schöpfen in der Regel keinen Verdacht, denn fremde Fahrzeuge von einem Ort zum anderen zu überführen, ist in Nordnigeria ein weit verbreitetes informelles Geschäft.

Unterdessen stieg der Blutzoll: Auch führende Politiker der ANPP aus Borno sowie islamische Geistliche, die gegenüber Boko Haram kritisch eingestellt waren, wurden ermordet. Die allgemeinen Wahlen 2011 fanden dennoch statt, und Boko Haram erklärte den Sieg des ANPP-Kandidaten für das Gouverneursamt in Borno als Wahlfälschung, was der Gruppierung erstmals nationale Aufmerksamkeit verlieh. Als dann bei den Präsidentschaftswahlen der Amtsinhaber Goodluck Jonathan klar gewann, fühlten sich viele Bewohner des Nordens betrogen. Denn sie vertrauten dem alten, ungeschriebenen Statut der landesweit dominierenden Partei PDP, dass der Präsident nach jeweils zwei Amtszeiten aus dem Norden beziehungsweise dem Süden kommen müsse. Demnach hätte die laufende Legislaturperiode bis 2015 einem Vertreter des Nordens zugestanden. Jonathan aus dem Nigerdelta aber blieb im Amt, was schließlich zur politischen und kulturellen Spaltung des Landes führte, die zwar unterschwellig immer bestand, nun aber erstmals offen zutage trat.

Die nigerianische Variante des Krieges gegen den Terror hat die Hauptakteure in diesem grausamen Spiel reich werden lassen

Der Dollarsegen, der sich dank Boko Haram über das Militär ergoss, mobilisierte fast über Nacht hunderte von Sicherheitsberatern aus den  militärisch-politischen Netzwerken, die sich für ihre Beraterdienste fürstlich entlohnen ließen. Die Beschaffung von sicherheitsrelevantem Material wie Anlagen zur Videoüberwachung, die aber niemals zum Einsatz kamen, oder Hubschrauber zur Terrorbekämpfung im Wert von mehreren hundert Millionen US-Dollar sicherten Auftraggebern aus Militär und Politik üppige Vermittlungshonorare. So galt General a.D. Andrew Azazi, ein ehemaliger Sicherheitsberater von Präsident Jonathan und vehementer Verfechter einer militärischen Strategie gegen Boko Haram, als Prototyp des modernen, von Gier und Macht getriebenen Managers. Kommandanten vor Ort organisierten fingierte Bombenanschläge, um sie Boko Haram anzulasten: Wie von Geisterhand gesteuert, explodierten die am Straßenrand deponierten Bomben bereits kurz vor dem Eintreffen von Militärfahrzeugen. Die Militärführung schreckte auch nicht davor zurück, dialog- und vermittlungsbereite Politiker in der Krisenregion der Komplizenschaft mit Boko Haram zu bezichtigen, wenn es ihrer auf Gier und Zerstörung basierenden Strategie nutzte.

Dass General Azazi bei einem Hubschrauberabsturz zu Tode kam, entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Bestenfalls ein Fünftel des Sicherheitsbudgets des Bundes fließen tatsächlich in den Kampf gegen den Terror. Der größte Teil des Geldes verschwindet in den Taschen der beteiligten Gouverneure, Senatoren, Geschäftsleute und führenden Sicherheitskräfte; für Wartung, Instandhaltung und Training bleibt deshalb kaum etwas übrig. Wer je eine Polizei- oder Militärkaserne in Nigeria von innen gesehen hat, kann erahnen, wie erbärmlich es um den Zustand der kämpfenden Truppe bestellt sein muss. Die Soldaten beherrschen zwar das pure Tötungshandwerk, haben aber keinerlei Vorstellung von alternativen Konfliktlösungen und sind ebenso korruptionsanfällig und inkompetent wie viele ihrer Vorgesetzten. Die kämpfenden Einheiten vor Ort werden in der Regel von den Regierungen der betroffenen Bundesstaaten finanziert, wobei die Zulagen für die unteren Ränge teilweise in den Taschen der vorgesetzten Hauptleute und Majore landen.

Die nigerianische Variante des Krieges gegen den Terror hat die drei Hauptakteure in diesem grausamen Spiel reich werden lassen. Die Topmilitärs können sich nun mit den Profiteuren der früheren Militärregime messen und agieren dank Boko Haram auf Augenhöhe mit der politischen Klasse. Die Politiker richten ihre Blicke bereits auf die Wahlkampagnen für den Urnengang 2015, die finanziert sein wollen. Die Anti-Terrorkampagne liefert das notwenige Grundkapital. Schließlich profitieren auch die Sekte und ihre kriminellen Ableger, die sich gewalttätig ihren Teil des Kuchens sichern und Verluste in den eigenen Reihen billigend in Kauf nehmen, ohne ernsthaft befürchten zu müssen, dass führende Mitglieder jemals zur Rechenschaft gezogen werden. Zu den Verlierern zählt die Zivilbevölkerung im Armenhaus des Nordens, auf deren Rücken dieser Krieg ausgetragen wird. Es ist nicht mehr undenkbar, dass Nigeria zum „Somalia“ Westafrikas wird.

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Vielen Dank an den Autor, der dem Namen nach aus Afrika und vielleicht aus Nigeria (?) stammt! Es wäre so wichtig und wünschenswert, wenn die deutsche "Qualitätspresse" mehr afrikanischen Journalisten und Experten Platz einräumen würde für diese Berichterstattungen, die ein weitaus höheres Niveau aufweisen als dies von Texten von dt. Autoren gegeben ist, die oft nicht die Landesprachen sprechen und die gesamte Historie nicht von innen her kennen. Ich habe viel gelernt beim Lesen! Gerne viel mehr davon :-)

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Vielen Dank für Ihr Lob! Das ist für uns ein weiterer Ansporn, afrikanischen Kolleginnen und Kollegen auch künftig Platz einzuräumen. Diesem Anspruch verpflichtet ist übrigens auch die Online-Plattform Journafrica.

 

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erschienen in Ausgabe 8 / 2013: Zentralasien – Als Partner umworben
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