Die gute Seele von Kirikiri

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Sam Olukoya

Chinenye Miriam Anyanwu hat ein gutes Verhältnis zu den Häftlingen: „Ich mache mir keine Sorgen um meine Sicherheit, denn ich bin nicht streng oder aggressiv zu ihnen.“

Vollzugsbeamtin in Nigeria
Chinenye Miriam Anyanwu hat sich einen Traum erfüllt: In einer Haftanstalt in Nigerias Wirtschaftsmetropole Lagos kümmert sie sich um junge Strafgefangene – und die beschützen umgekehrt manchmal auch sie.

An ihrem ersten Arbeitstag im Kirikiri-Gefängnis in Lagos wunderte sich Chinenye Miriam Anyanwu über die große Spannung beim Fußball-Pokalfinale zwischen den Kirikiri-Häftlingen, für die die mittlere Sicherheitsstufe gilt, und denen des Hochsicherheitsgefängnisses der Stadt. Ein Pokalfinale zwischen zwei Haftanstalten ist für nigerianische Häftlinge eine große Sache. Als aber die junge, gerade neu eingestellte und modisch gekleidete Gefängniswärterin mit energischen Schritten auf das Fußballfeld zuging, richteten die Häftlinge ihre Aufmerksamkeit sofort auf sie. „Sie sahen mich an und ich sie“, erinnert sie sich.

Anyanwu war gerührt, denn für sie erfüllte sich mit ihrem Arbeitsantritt ein Traum. „Jetzt war ich wirklich in dieses Milieu eingedrungen, jetzt war ich an Bord“, erzählt sie. Den Wunsch, in einem Gefängnis zu arbeiten, hegte Anyanwu, die einer katholischen Gemeinde angehört, schon seit Jahren. „Wir haben immer mal wieder Gefängnisse besucht, um mit den Häftlingen zu reden, sie zu ermutigen und ihnen Hoffnung zu geben“, sagt sie. „Das hat mich dazu inspiriert, dort arbeiten zu wollen.“

Ehrenamtliche Haftbesuche reichten ihr bald nicht mehr. Ihr war klar: Am meisten könnte sie bewirken, wenn sie direkt mit den Häftlingen arbeiten würde. „Ich glaube, zu diesem Job, den ich jetzt mache, hat mich Gott berufen. Ich kann das Leben der Häftlinge beeinflussen, kann ihnen dabei helfen, sich zu läutern, sich zu resozialisieren und wieder in die Gesellschaft zu integrieren.“

Als sie die Stelle im Gefängnis annahm, hätte sie auch bei der Polizei oder beim paramilitärischen Nigerianischen Zivilschutz anfangen können. Doch der Gefängnisdienst ermöglichte ihr den direkten Kontakt zu den Häftlingen. Dadurch kann sie deren Hintergrund, Familie und auch die Taten, die sie ins Gefängnis gebracht haben, besser verstehen, sagt sie. „Man merkt dabei, dass viele wegen sehr kleiner Delikte in Haft sitzen. Das widerspricht der gängigen Vorstellung, dass alle Häftlinge harte Kriminelle sind.“

Nigerias Haftanstalten sind stark überbelegt. Viele Insassen haben sich nur geringfügige Vergehen zuschulden kommen lassen. Dass zahlreiche Häftlinge scheinbar endlos auf ihr Verfahren warten müssen, verschärft die Situation zusätzlich. Einige Häftlinge warten schon länger auf eine Gerichtsverhandlung, als ihre Haftstrafe dauern würde, würden sie denn tatsächlich mal verurteilt.

Die hässliche Realität von Nigerias Haftanstalten

Als Vollzugsbeamtin hat Anyanwu immer wieder mit der hässlichen Realität von Nigerias überbelegten Haftanstalten zu tun. In der Wirtschaftsmetropole Lagos ist die Situation besonders schlimm. Die Polizei dort ist dafür bekannt, dass sie willkürlich Menschen festnimmt. Viele der Festgenommenen sind schutzlose Straßenhändler, arbeitslose Jugendliche und Obdachlose, die nach Lagos gekommen sind, um dort ein besseres Leben zu suchen. Häufig werden sie vor mobile Gerichte gestellt, vor denen sie sich wegen unerlaubten Straßenhandels oder anderer, oft falscher Anschuldigungen der Polizei verantworten müssen. Ohne ordentliches Gerichtsverfahren oder auch nur einen Anwalt werden sie zu Haftstrafen verurteilt, die zwar durch Geldbußen ersetzt werden könnten. Da viele Verurteilte aber zu arm sind, um die Bußgelder zu bezahlen, auch wenn diese manchmal umgerechnet nur 30 Euro betragen, gehen sie eher für sechs Monate ins Gefängnis.

Aus Sorge um diese vielen meist jungen Männer hat Tunde Ladipo von der Gefängnisaufsicht Lagos eine Kampagne gestartet, um Betroffene finanziell zu unterstützen – und die überfüllten Gefängnisse zu entlasten. Anyanwu wurde vor einem Jahr mit der Leitung dieses Projekts beauftragt. Das Geld, mit dem Häftlinge „freigekauft“ werden, stammt aus Spenden von Menschen, Organisationen, Kirchen, muslimischen Gruppierungen und nichtstaatlichen Organisationen, sagt sie. Sobald die erforderliche Summe für einen Häftling auf dem Konto der Regierung des Bundesstaats Lagos eingegangen ist, kümmert Anyanwu sich um die gerichtliche Entlassungsanordnung.

Autor

Sam Olukoya

ist freier Journalist im nigerianischen Lagos.
Der Moment, wenn solch ein Häftling dann entlassen wird, zählt zu den bedeutendsten für sie als Vollzugsbeamtin. „Sobald sie wissen, dass sie freikommen, kommen sie zu mir und beten dafür, dass ich befördert werde und mehr Kinder bekomme“, sagt sie. Die Gebete scheinen erhört worden zu sein, denn kürzlich wurde Anyanwu zur leitenden Gefängnisinspekteurin befördert. Gelegentlich sieht sie Menschen wieder, an deren Entlassung sie mitgewirkt hat. „Manchmal sind sie diejenigen, die einem helfen, wenn einem das Auto mitten auf der Straße stehen bleibt. Man kann nie wissen.“

Jugendliche Leibwächter

Ein solch überraschender Moment ereignete sich, als die junge Frau in einem verrufenen Viertel von Lagos mit einer hohen Kriminalitätsrate unterwegs war. „Ich bemerkte, dass mir vier Jugendliche folgten“, erinnert sie sich. Als die vier sie schließlich einholten, hielt sie ihnen ihre Tasche hin, weil sie annahm, dass sie sie ausrauben wollten. „Wir wollen dich nicht ausrauben, sondern dich beschützen“, sagten die Jugendlichen. Sie sprachen sie mit ihrem Gefängnis-spitznamen an und sagten, dass sie zu einer Gruppe von Häftlingen gehört hatten, an deren Entlassung Anyanwu mitgewirkt hatte. Die Gefängnisbeamtin sei nichtsahnend auf eine Stelle zugelaufen, an der sie wahrscheinlich überfallen worden wäre. Die Jugendlichen wollten sie warnen und eskortierten sie wie eine Gruppe Leibwächter aus der Gefahrenzone.

Einige derjenigen, die mit Hilfe der Kampagne aus dem Gefängnis kamen, seien nun produktive Mitglieder der Gesellschaft, berichtet Anyanwu. Sie hätten in Haft nützliche handwerkliche Fähigkeiten erworben, beispielsweise Schreinern, Schneidern oder das Herstellen von Seife. „Deshalb kommen sie nach ihrer Entlassung nicht mehr auf dumme Gedanken.“ Die UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation UNESCO hat dem nigerianischen Gefängnisdienst im September den Konfuzius-Preis 2018 für innovative Projekte zur Alphabetisierung verliehen. Der Dienst betreut momentan rund 465 Bachelor- und 23 Master-Studenten sowie zwei Doktoranden.

Angesichts solcher Zahlen betont Anyanwu, dass die Gesellschaft ihre Vorstellungen von Gefängnissen korrigieren müsse. „Die Menschen sehen Gefängnisse als Verliese, in denen man Delinquenten hält, um sie zu bestrafen. Für mich ist ein Gefängnis aber eine Besserungsanstalt.“ Die Beamtin, die seit 2012 im Gefängnisdienst ist, findet die weit verbreitete Annahme falsch, dass jeder, der einmal in Haft saß, ein harter Krimineller ist. „Das Stigma besteht, und es ist schlecht. Aber wir müssen den Menschen Liebe entgegenbringen, egal was sie getan haben.“

Als Frau findet sie ihre Arbeit nicht hart oder gar gefährlich. „Ich mache mir keine Sorgen um meine Sicherheit, denn ich bin nicht streng oder aggressiv zu ihnen. Sie sind Menschen, und wenn ich mit ihnen umgehe, bin ich ganz ich selbst.“ Sie tue den Häftlingen nichts, und diese täten ihr nichts. Auch arbeite sie nicht in erster Linie wegen des Geldes. „Es geht mir vor allem um den Dienst. Ich genieße die Arbeit, sie macht mich glücklich. Ich bin gerne Gefängnisbeamtin und stolz darauf.“ Zu den Dingen, die Anyanwu an ihrem Job besonders liebt, gehört nicht zuletzt auch ihre Uniform.

Rückblickend auf ihre bisherige Dienstzeit kann sie sich an keine einzige traurige Erfahrung erinnern. „Alles an meinem Job macht mich glücklich. Ich komme immer gern hierher.“ Anyanwu ist überzeugt, dass ihre Liebe und ihr Engagement für ein besseres Leben der Häftlinge nicht nachlassen werden, auch wenn sie einmal im Ruhestand ist.
 

Aus dem Englischen von Barbara Erbe.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2018: Eingebuchtet
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