Lechzen nach Wissen

Zum Thema
Von Süd- nach Nordamerika
Vera Hölzl

Im improvisierten Klassenraum lernen die Rohingya-Kinder jeden Tag bei Amir Hossain. Die Regierung von Bangladesch macht es Hilfsorganisationen schwer, ein gutes Bildungs­angebot zu schaffen.

Bildung im Flüchtlingslager
Rund eine Million aus Myanmar vertriebene Rohingya leben in Flüchtlingslagern in Bangladesch. Um den Kindern wenigstens etwas Bildung zu geben, unterrichten Lehrer sie ehrenamtlich – unter strenger Kontrolle der Regierung.

Als die Sonne in den engen Gängen des staubigen Flüchtlingslagers im Osten Bangladeschs aufgeht, hat Lehrer Amir Hossain seine ersten Unterrichtsstunden schon absolviert. Der Mann vom Volk der Rohingya hat die Bambushütte, in der er mit seiner Familie lebt, in eine Schule mit drei winzigen Klassenräumen umfunktioniert. Der Andrang war so groß, dass er im Laufe der Jahre sogar Nachbarn bitten musste, Räume an ihn zu vermieten. Die Wände seiner Schule sind mit Kinderzeichnungen und motivierenden Sprüchen verziert, von der Decke hängen bunte Tücher.

Es ist eng. Überall liegen Schuhe, auf dem Betonboden sind Decken und Matten ausgelegt, auf denen sich dicht aneinander gedrängt mehrere Schüler über ihre Hefte beugen. Viele tragen Mützen, es ist kalt an diesem Wintermorgen in Bangladesch. Nebenan scheppern die blechernen Türen der Nachbarn. Babys schreien.

„Wer kann den Dialog beim Arzt auf Englisch aufsagen, den wir gestern gelernt haben? Hebt die Hand!“ Mehrere Hände schießen in die Höhe. „Sehr gut, sehr gut“, ruft Amir. „Applaus für euch alle!“ Amir hat den Kindern beigebracht, wie man auf Englisch beim Arzt zurechtkommt.

Seit mehr als zehn Jahren unterrichtet der Mann mit der durchdringenden Stimme Rohingya-Kinder in diesem Lager, jeden Tag von neun Uhr morgens bis drei Uhr.  Danach ist er Lehrer im Auftrag der Vereinten Nationen. Doch was ihm tatsächlich am Herzen liegt, ist sein eigener Unterricht. Denn den kann er so gestalten wie er möchte – zumindest im Geheimen. „Die Vereinten Nationen und die NGOs müssen sich an strikte Vorgaben der Regierung halten“, sagt Amir. So ist es nicht erlaubt in der Sprache Bangla zu unterrichten, die in Bangladesch gesprochen wird. Schließlich sollen die Flüchtlinge sich nicht unter das Volk mischen. Vor allem nicht, seitdem mehr als eine Million von ihnen in Bangladesch leben.

Seit den 1980er-Jahren staatenlos

Im Jahr 2017 erreichte das Schicksal der Rohingya in Myanmar die Weltöffentlichkeit, als mehr als 700.000 von ihnen vor einer brutalen Militäroperation nach Bangladesch flohen. Das Militär in Myanmar verfolgt die muslimische Minderheit seit Jahrzehnten; immer wieder flohen Rohingya über die Grenze nach Bangladesch, vor allem nachdem die Militärregierung von Myanmar ihnen in den 1980er-Jahren ihre Staatsbürgerschaft genommen hatte. Seitdem sind die Rohingya staatenlos.

Der heute 34-jährige Amir war sechs, als seine Eltern mit ihm aus Myanmar flohen. „Die erste Generation der Rohingya-Flüchtlinge liegt schon auf dem Friedhof. Ich habe auch schon ganz graue Haare. Wir haben nirgends eine Zukunft“, sagt er. Obwohl er selbst Lehrer ist, sorgt er sich um seine eigenen drei Kinder. „Wie sollen sie ohne Zertifikat jemals irgendetwas werden?“

Die Bildung jüngerer Generationen ist eine der größten Sorgen der Rohingya. Viele treibt die Angst um die Zukunft ihrer Kinder jedes Jahr in die Hände von Schleppern, die ihnen ein besseres Leben in reicheren Ländern mit mehr Rechten versprechen. In überfüllten Booten geht es nach Malaysia, Indonesien oder Thailand. Nicht selten enden die Reisen tödlich.

„Im Ausland sind Rohingya Piloten und Kernphysiker geworden“, sagt Mohammed Eleyas, ein Vertreter der Rohingya im Camp. Diese Repräsentanten vertreten die Flüchtlinge gegenüber der Regierung von Bangladesch und den NGOs. „Wir wollen dabei helfen, unser Land zu entwickeln.“ Doch in Myanmar will man die Rohingya nicht. Seit Jahrzehnten trichtert die Militärpropaganda der Bevölkerung ein, die Rohingya seien Störenfriede, die illegal aus Bangladesch nach Myanmar gekommen seien.

Im Camp klopft Amir seinen jüngeren Schülern an diesem Morgen auf den Kopf, wenn er über sie erzählt. Da ist die achtjährige Mariam, die jeden Tag im Morgengrauen eine halbe Stunde Fußweg auf sich nimmt, um bei Amir zu lernen. Nachdem sie dort war, geht sie in eines der rund 3000 Lernzentren, die Hilfsorganisationen aus Bangladesch und internationale NGOs unter strengen Auflagen der Regierung in den Camps betreiben dürfen. Aber das sei mehr eine „Spiel-Schule“, sagt das Flüchtlingsmädchen.

Die Lehrer werden als Assistenten bezeichnet

Autorin

Verena Hölzl

ist freie Journalistin und berichtet aus Myanmar unter anderem für die „tageszeitung“.
Die Frustration vieler Eltern ist groß. In diesen Lernzentren dürfen die Lehrer nur als Assistenten bezeichnet werden. Es gibt weder einen richtigen Lehrplan, noch Prüfungen oder Zertifikate. Auch wenn niemand wirklich glaubt, dass die Flüchtlinge in naher Zukunft zurück nach Myanmar gehen werden: Die Regierung von Bangladesch will keinesfalls den Eindruck erwecken, sie stelle sich darauf ein, dass die mehr als eine Million Flüchtlinge auf längere Zeit im Land bleibt.

Bangladesch hat die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet, nach der jedes Kind ein Recht auf Bildung hat. Der im Jahr 2018 beschlossene und von Bangladesch unterstützte UN-Flüchtlingspakt sieht eine Integration von Flüchtlingskindern in Schulen des Aufnahmelandes vor. Menschenrechtsgruppen beklagen aber die Einschränkungen der Regierung, die es den NGOs schwer machen, ein Bildungsangebot zu schaffen, dass die Rohingya-Kinder nicht nur beschäftigt, sondern tatsächlich bildet.

Vor kurzem hat die Regierung in einer überraschenden Wendung endlich angekündigt, dass die Hilfsorganisationen zunächst für 11- bis 13-jährige Kinder reguläre Lehrpläne anbieten dürfen. Doch bis diese Entscheidung umgesetzt ist und alle Kinder erreicht, wird Zeit vergehen. Amir und viele andere Rohingya-Lehrer, die seit Jahrzehnten als Flüchtlinge in Bangladesch leben, sind skeptisch, ob sich überhaupt etwas ändern wird. Stattdessen verlassen sie sich lieber auf sich selbst.

Lehrer wie Amir, die in Eigenregie Schulen betreiben, gibt es überall in den insgesamt mehr als zwei Dutzend Flüchtlingslagern für Rohingya in Bangladesch. Auf den Märkten werden über die Grenze geschmuggelte Kopien von Schulbüchern aus Myanmar verkauft. Wer es sich leisten kann, engagiert einen Privatlehrer für seine Kinder. Erlaubt ist das nicht, sagt Amir. Zwei seiner Kollegen mussten im vergangenen Jahr ihre Schulen auf Anordnung der bangladeschischen Behörden hin schließen.

Und nicht nur die Kinder lechzen nach Wissen. Weil Generationen von Rohingya in Myanmar weitgehend isoliert waren, haben auch viele Erwachsene Bildung nachzuholen. Der Weltbank zufolge haben 62 Prozent aller Erwachsenen in den Camps nie eine Schule besucht, nur 23 Prozent können lesen. Seitdem im Jahr 2012 in Rakhine, dem Heimatstaat der Rohingya, Unruhen zwischen den muslimischen Rohingya und den buddhistischen Rakhine ausbrachen, bei denen mehrere Hundert Menschen ums Leben kamen, war es den Rohingya untersagt, Universitäten zu besuchen.

Shawfique und seine Freunde etwa haben sich in den Camps organisiert und unterrichten dort täglich Flüchtlinge in Bürgerkunde und Recht. „In Myanmar hatten wir keine Ahnung davon, was Menschenrechte waren“, sagt Shawfique. Heute kann er aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder der Frauenrechtskonvention zitieren. Was er weiß, hat er in NGO-Workshops gehört oder sich im Internet angeeignet. In Myanmar war das gefährlich: Wer mit einem Smartphone erwischt wurde, konnte dafür ins Gefängnis kommen – das galt allerdings nur für Rohingya.

„Rumsitzen und nichts tun führt zu nichts Gutem“

Überall in den Lagern stellen Flüchtlinge den Jungs von der „Rohingya-Jugend für Gerechtigkeit“ ihre Hütten zur Verfügung, um dort Workshops abzuhalten. Willkommen sind vor allem Jugendliche und Erwachsene, für die es in den Lagern so gut wie keine Bildungsmöglichkeiten gibt. „Wir müssen unsere jungen Menschen vor Extremisten bewahren. Bildung ist die mächtigste Waffe überhaupt“, sagt der 22-jährige Shawfique.

Vor ihm sitzt eine Gruppe junger Frauen im Kreis. Heute geht es um Frauenrechte und die Verfahren vor internationalen Gerichten gegen Myanmar wegen der Vertreibung der Rohingya. „In Myanmar waren wir von allem ausgeschlossen, das ist jetzt anders“, sagt Shawfique, der den Frauen erklärt, was genau in Den Haag verhandelt wurde und wie es weitergehen wird. So ganz genau weiß er das alles auch nicht. Aber es ist immerhin mehr als die meisten im Camp wissen. Die Frauen hängen gebannt an seinen Lippen. „Wir jungen Leute können viel tun“, sagt Shawfique.

„Wir müssen den Rohingya „etwas beibringen“. Rumsitzen und nichts tun führt zu nichts Gutem“, sagt Abu Murshed Chowdhury, der die bangladeschische NGO Phals leitet, die in den Flüchtlingslagern fünf Lernzentren betreibt. „Wenn jemand deine Schwester vor deinen Augen vergewaltigt, so wie viele Rohingya es erleben mussten, dann hätte jeder von uns Rachegelüste“, sagt er. Das auszublenden sei töricht.

Phals setzt sich dafür ein, auch die Jugendlichen im Lager auszubilden. Über das Grundschulniveau hinaus gibt es kein Angebot, dass die Jungen und Mädchen nutzen könnten. „Wir hoffen, dass die Regierung langfristig Berufstrainings zulassen wird.“

Das wünscht sich auch Nur Alom. „Ich will meinen Leuten helfen, deshalb unterrichte ich“, sagt der junge Rohingya und nestelt an einem abgegriffenen Schulbuch herum. Seine Schüler sind zwischen 8 und 15, kaum jünger als er selbst. „Wir müssen mit allen Mitteln verhindern, dass die Generation unserer Kinder verloren geht“, sagt er. Deshalb unterrichtet er immer noch, obwohl er von der Hilfsorganisation aus Malaysia, die ihn einst engagiert hat, schon seit sechs Monaten kein Geld mehr bekommt, wie er sagt. Man habe ihm erzählt, die Organisation arbeite nicht mehr im Camp. Mitgeteilt hat ihm das keiner. „Die sind einfach nicht mehr gekommen“, erzählt er.

Nur Alom kommt in Amirs Schule, um sein Englisch zu verbessern, seitdem er vergangenes Jahr einer bangladeschischen Schule verwiesen wurde. Flüchtlinge wurden dort lange Zeit geduldet, viele schmuggelten sich in den Unterricht, indem sie vorgaben Bangladeschis zu sein. Nur Alom saß immer nur in der letzten Reihe, seine Klassenkameraden mied er, aus Angst davor, als Flüchtling enttarnt zu werden. Die Behörden fanden dennoch heraus, dass er Rohingya ist. „Ich dachte, jetzt ist mein Leben zu Ende“, sagt er.

Vieles hat er sich danach mithilfe von Videos aus dem Internet beigebracht. Doch vor einigen Monaten hat Bangladeschs Regierung den Internetzugang in den Camps kappen lassen. „Mein Telefon war mein Lehrer“, sagt er. „Jetzt sind wir wieder von der Welt abgeschnitten.“

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erschienen in Ausgabe 4 / 2020: Willkommen – oder nicht?
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