Der Drang zum eigenen Staat

Thomas Mukoya/REUTERS
Geburt eines neuen Staates: Südsudanesen feiern, als im Juli 2011 ihr Land nach langem ­Krieg vom Sudan unabhängig wird. 
Separatisten
Dreimal sind im 20. Jahrhundert in kurzer Zeit viele neue Staaten entstanden: nach den beiden Weltkriegen und gleich nach dem Ost-West-Konflikt. Die Zahl der Separatistenbewegungen ist deshalb aber nicht gesunken.

Abspaltungen eines neuen Staates aus einem bestehenden, sogenannte Sezessionen, sind Akte von großer Tragweite. Sie zwingen nicht nur Kartografen immer wieder, die Weltkarte neu zu zeichnen, sie führen auch häufig zu Gewalt und Aufruhr. Für viele Separatisten ist die Sezession ein nationales Anliegen ersten Ranges, für das sie zu sterben bereit sind. Für Regierungen aber, die mit separatistischen Bestrebungen zu tun haben, sind diese ein Hemmnis des nationalen Zusammenhalts und ein Problem für die staatliche Souveränität. Die Dynamik des Separatismus hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts das gesamte Staatensystem verändert und bleibt ein wichtiger Faktor der Weltpolitik. Welches sind ihre historischen Muster und was können wir für die Zukunft erwarten?

Beginnen wir mit einigen Begriffsklärungen. Separatismus ist das Streben nach staatlicher Unabhängigkeit: Eine separatistische Bewegung ist eine selbst erklärte Nation innerhalb eines souveränen Staates, die anstrebt, sich abzuspalten und einen neuen souveränen Staat zu gründen. Solche Bewegungen findet man heute zum Beispiel in Schottland, Katalonien oder West-Papua (einem Teil der Republik Indonesien). Hat eine separatistische Bewegung Erfolg, dann entsteht ein neuer, unabhängiger Staat, und wir sprechen von einer Sezession. Seit 1945 gilt die Vollmitgliedschaft in den Vereinten Nationen (UN) als Prüfsiegel staatlicher Souveränität.

Nun werden aber sämtliche Landgebiete außerhalb der Antarktis rechtmäßig von Staaten beansprucht und sind ins Staatssystem eingegliedert. Wenn also nicht neues Land im Meer geschaffen oder im Weltraum reklamiert wird, geht die Gründung eines neuen Staates zwangsläufig auf Kosten des Territoriums von mindestens einem anderen Staat. Und Staaten sind offensichtlich in der Regel nicht bereit, Gebiete aufzugeben.

Wie sich die Zahl der separatistischen Bewegungen und der Staaten seit dem Jahr 1816 verändert hat, zeigt die erste Grafik. Hier fällt besonders die starke Zunahme der Anzahl souveräner Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg ins Auge: Sie hat sich von 65 im Jahr 1945 bis heute verdreifacht.

Nicht minder bemerkenswert ist der entgegengesetzte Trend in der Zeit davor. Im Jahr 1816 – nach den Napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress – gab es 135 Staaten, und das änderte sich 45 Jahre lang nicht wesentlich. Dann aber setze ein Ausleseprozess ein, der diese Zahl um mehr als 60 Prozent verringerte. Das halbe Jahrhundert von ungefähr 1860 bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs war davon geprägt, dass Staaten sich ausdehnten (zum Beispiel das russische Zarenreich) und sich vereinigten (beispielsweise Deutschland) sowie vom Imperialismus (beispielsweise in Südasien). Dieser historisch beispiellose Prozess der politischen Zusammenballung erreichte 1912 seinen Höhepunkt, als das Staatensystem nur noch aus 51 Staaten bestand – so wenigen wie nie zuvor. Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war eine der Instabilität in Hinsicht auf Bildung und Auflösung von Staaten.

Dagegen herrschte seit 1945 die Geburt neuer Staaten vor. Die gestrichelte Kurve der oberen Grafik zeigt die Zahl der separatistischen Bewegungen für jedes Jahr, im Durchschnitt 25. Anders als die Anzahl der souveränen Staaten fällt diese Kurve nicht in der mittleren Periode deutlich ab, sondern zeigt eine fast durchweg ansteigende Tendenz.

Im 19. Jahrhundert und bis ins zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gab es relativ wenige separatistische Bewegungen. Ein Grund dafür ist, dass die Ideen und Begriffe von nationaler Selbstbestimmung und Sezession weniger verbreitet waren. Hinzu kommt, dass dies eine Epoche der Eroberungskriege war. Das mag dazu geführt haben, dass aufstrebende Nationen, insbesondere wenn sie mit einer der europäischen Imperialmächte verbunden waren, mit Unabhängigkeitsbestrebungen eher vorsichtig waren – die Gefahr, von expansionistischen Staaten geschluckt zu werden, war groß und nicht leicht abzuwehren.

Drei Wellen von Separatismus und Staatsneugründungen

Im 20. Jahrhundert lassen sich deutlich drei Wellen von Separatismus und Staatsneugründungen ausmachen. Die erste war der schnelle, aber kurze Anstieg nach dem Ersten Weltkrieg; auf ihrem Höhepunkt 1920 gab es 37 Separatistenbewegungen. Mit Bezug auf den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der sich am Ende des Weltkriegs für die Selbstbestimmung der Völker ausgesprochen hatte, spricht man vom “Wilsonian Moment”. Damals reisten Separatistenführer von den Donkosaken bis zu den Vietnamesen nach Versailles, um bei den Friedensverhandlungen unter Berufung auf Wilson für ihre Sache zu werben.

Autor

Ryan D. Griffiths

ist Professor für Politikwissenschaft an der Syracuse University in New York. Sein jüngstes Buch ist „Secession and the Sovereignty Game: Strategy and Tactics for Aspiring Nations“ (Cornell University Press 2021).
Die meisten dieser Unabhängigkeitsbewegungen kamen aus multinationalen Reichen: dem zaristischen Russland, dem Osmanischen Reich und Österreich-Ungarn. Einige wie Lettland und die Tschechoslowakei erreichten die Staatsgründung, anderen wurde die Unabhängigkeit verweigert – ­insbesondere auf dem Territorium, auf dem nach der Oktoberrevolution die Sowjetunion entstand. Diese erste Welle des Separatismus klang in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ab. 

Die zweite Welle setzte gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ein. Anders als nach 1918 blieb die Zahl der Separatistenbewegungen in den Jahren nach 1945 mit durchschnittlich 52 beständig hoch. Unabhängigkeitsbewegungen sind damals ein wahrhaft globales Phänomen geworden, besonders traten sie in überseeischen Kolonien auf. Die untere Grafik  zeigt für jedes Jahr die Zahl dieser Bewegungen und welchen Teil davon antikoloniale ausmachten. Die Jahre von 1945 bis 1975 waren die große Zeit der Entkolonialisierung. Von Nigeria bis Laos erklärten viele Kolonien ihre Unabhängigkeit und wurden souveräne Staaten. Danach ist die Zahl der im klassischen Sinne kolonialen Unabhängigkeitsbewegungen stark zurückgegangen.

Ein faszinierender Aspekt des Separatismus ist, dass er immer neue Bewegungen hervorbringt. Betrachtet man beide Grafiken zusammen, sieht man, dass die Separatistenbewegungen zugenommen haben, obwohl sich auch die Zahl der Staaten verdreifacht hat. Das liegt daran, dass sich oft eine neue Abspaltungsbewegung bildet, wo gerade eine alte Erfolg hatte, so wie die abchasische im jungen Staat Georgien oder Biafra im gerade unabhängigen Nigeria. Es gibt ständig genug neue Bewegungen, um die erfolgreichen zu ersetzen und dazu die gescheiterten. Einige separatistische Bewegungen haben ja zumindest zeitweilig aufgegeben; auch sie verschwinden von der Liste, etwa die Separatisten auf der zu den Komoren gehörenden Insel Mohéli und die Volksbefreiungsfront von Tigray in Äthiopien.

Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge lassen sich auf der Welt 8000 Nationen identifizieren. Nationale Identitäten verändern sich freilich mit der Zeit; sie können sich verstärken oder abschwächen, und nach und nach können auch neue Nationen entstehen. Ein gewisser Prozentsatz von ihnen wird irgendwann staatliche Unabhängigkeit anstreben, daher gibt es ein großes Reservoir für Separatismus.

Die dritte Welle des Separatismus setzte mit dem Ende des Kalten Krieges ein. Im Jahr 1991 gab es 81 Separatistenbewegungen, mehr als irgendwann sonst während der 200 Jahre seit 1816. Zwar wurden auch andere Weltregionen damals vom Sezessionsfieber erfasst, aber ein großer Teil dieser Bewegungen entstand in der ehemaligen Sowjetunion und im zerfallenden Jugoslawien. Nicht alle davon erreichten ihr Ziel. So mussten die Tschetschenen, Abchasen und die Bevölkerung von Transnistrien erfahren, dass die Staatengemeinschaft nicht bereit war, alle Rufe nach einem eigenen Staat zu akzeptieren.

Separatismus gibt es nicht nur im Umfeld von Imperien

Es heißt manchmal, Sezessionen seien das Erbe großer Reiche. Versteht man unter Reichen ausgedehnte Staaten, die einst Bevölkerungsgruppen erobert und ihnen ihren Willen aufgezwungen haben, dann kann man Separatismus gewissermaßen als Rückabwicklung dieses Prozesses ansehen: Unterdrückte schütteln das Joch ab und fordern Unabhängigkeit zurück. Das ist im Allgemeinen richtig; man sieht das an der Rolle, die die Auflösung von Reichen für die drei großen Sezessionswellen des 20. Jahrhunderts gespielt hat. Tatsächlich hatte die Konsolidierung und Expansion von Staaten im 19. Jahrhundert schon den Keim für den Separatismus des 20. Jahrhundert gelegt.

Aber Separatismus gibt es nicht nur im Umfeld von Reichen. Viele Staaten, von Marokko und Indonesien bis zum Irak und Spanien, weisen den Vorwurf des Imperialismus weit von sich, den Minderheiten wie die Sahrauis, die West-Papua, die Kurden oder Katalanen ihnen machen. Imperialismus ist bis zu einem gewissen Grad Auslegungssache. Separatismus gibt es häufiger, aber nicht nur im Umfeld von Imperien.

Im Jahr 2016 gab es 60 aktive separatistische Bewegungen. Sie traten in fast allen Erdteilen auf, allerdings in Europa, Asien und im Westpazifik gehäuft – weniger in Süd- und Nordamerika sowie Afrika. Dafür gibt es je nach Region verschiedene Erklärungen. Aus nicht ganz geklärten Gründen ist in Südamerika die Neigung zum Separatismus gering. Die Staatsgrenzen sind hier während der vergangenen zwei Jahrhunderte weitgehend stabil geblieben, und selten wollten innerstaatliche Gruppen daran etwas ändern. Die USA waren bekanntlich in den 1860er Jahren Schauplatz eines langen und blutigen Sezessionskriegs. Doch seit dem frühen 20. Jahrhundert gab es hier wie auch in Kanada wenig separatistische Bestrebungen – und wo es welche gab, etwa in Hawaii, Puerto Rico und Québec, da trugen ihn stark institutionalisierte Gruppen, die Gewalt vermieden und demokratische Spielregeln und das Recht achteten.

Aktivisten fordern Ende 2020 in Indonesiens Hauptstadt Jakarta ­Unabhängigkeit für West-Papua – und der Staat lässt die Polizei dagegen vorgehen.

Ein faszinierender Fall ist Afrika. Angesichts der hohen Zahl an Ländern dort, der großen ethnischen Vielfalt und der Tatsache, dass die Staatsgrenzen weitgehend willkürlich während der Kolonialzeit gezogen wurden, könnte man dort sehr viele Separatistenbewegungen erwarten. Es gab und gibt auch welche, von Biafra über den Südsudan bis zu zahlreichen in Äthiopien. Doch insgesamt sind sie vergleichsweise selten.

Ein Teil der Erklärung ist, dass afrikanische Staatsführer und mit ihnen die Regionalorganisation Afrikanische Union (AU) eine kompromisslose Haltung gegen Separatisten einnehmen. Viele Fachleute für die Region sehen dies als Ausdruck des bloßen Eigeninteresses: Afrikanische Staatenlenker müssten, um der Gefahr der Zersplitterung des eigenen Staates vorzubeugen, eine abschreckende Haltung gegenüber separatistischen Bestrebungen insgesamt einnehmen. Daher betonen Vertreter von Somaliland, einem der derzeit prominentesten Separatistengebiete in Afrika, immer wieder, dass die Lage dort einzigartig sei und sich mit der Anerkennung ihrer Unabhängigkeit keineswegs die Büchse der Pandora öffnen würde.

 Solidaritätskundgebung für die Uiguren im März 2021 in Paris. In China werden solche Stimmen der muslimischen Minderheit sofort zum Schweigen gebracht.

Die meisten Separatistenbewegungen finden sich heute in Eurasien, von Europa über Südostasien bis in den westlichen Pazifik. Auch die Europäische Union hat ihre Separatisten, etwa Katalanen und Flamen. Zahlreiche Bewegungen halten sich im Nahen Osten, innerhalb und an den Grenzen der Russischen Föderation sowie in Zentralasien. China ist mit separatistischen Bewegungen in der Region Xinjiang, in Tibet und in jüngster Zeit auch in Hongkong konfrontiert. Schließlich gibt es zahlreiche Sezessionsbestrebungen vom Nordosten Indiens über die Randgebiete von Myanmar bis in den Süden der Philippinen. Alle haben jeweils besondere Ursachen und Motive.

Ist in den kommenden Jahren eine vierte Welle von Separatismus wahrscheinlich? Oder wird er ganz im Gegenteil zurückgehen? Das ist sehr schwer zu prognostizieren. Viel hängt hier von kaum vorhersehbaren Ereignissen ab, die Kettenreaktionen auslösen können, und vom Wandel der Normen und Prinzipien der Weltpolitik.

Demokratische Seperatisten haben selten Erfolg

Wir können aber derzeit zwei große Klassen separatistischer Bewegungen ausmachen. Eine sind Ablösungsbestrebungen, die sich in einem demokratischen, von starken Institutionen bestimmtem Umfeld entwickeln. Schottland und Katalonien sind hierfür Paradebeispiele. Hier ist der Separatismus stark und anhaltend, bleibt aber gewaltlos und will innerhalb des offiziellen Systems zum Ziel kommen. Solche demokratisch orientierten Bewegungen sind zwar weit verbreitet, aber sie gelangen eher selten ans Ziel. Das liegt zum Teil daran, dass es ihnen nicht leichtfällt, die Bevölkerung zu überzeugen, dass es ihr in einem unabhängigen Staat besser ginge. Dennoch kann durchaus einigen dieser Nationen in den kommenden Jahren eine Sezession gelingen; manche erwarten, dass das in Großbritannien passiert.

Die andere Klasse von Separatisten formiert sich in weniger demokratisch verfassten Gesellschaften, in denen die Regierung schneller zu Repression greift. Hier stehen Nationen wie die Karen in Myanmar, die Uiguren in China und die Einwohner West-Papuas in Indonesien vor der schwierigen Entscheidung, ob sie zu den Waffen greifen oder ihre Ziele gewaltfrei verfolgen. Beide Optionen haben aus Sicht der Separatisten Nachteile. Ein militärischer Erfolg gegen eine Zentralregierung ist schwer zu erringen, aber es ist kaum einfacher, einem repressiven Staat mit gewaltfreien Methoden Zugeständnisse abzuringen.

Der nächste souveräne Staat wird sehr wahrscheinlich Bougainville sein. Auf der Insel im pazifischen Ozean, einer autonomen Region von Papua-Neuguinea, hat Ende 2019 ein Referendum stattgefunden, in dem sich die Bevölkerung mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit ausgesprochen hat. Die Abstimmung war das Ergebnis eines Friedensabkommens aus dem Jahr 2001, das einen blutigen Bürgerkrieg beendete. Damit hat die Nation Bougainville einen Sieg errungen, für den sie einen hohen Preis zu zahlen hatte. Es ist in jedem Fall das Beste für alle Beteiligten, wenn eine Sezession sich möglichst gewaltfrei vollzieht und so, dass ein Ausgleich gefunden wird zwischen den Ansprüchen der Minderheitsnationen und der Stabilität der bestehenden Staaten. Man kann nur hoffen, dass die Geburt neuer Staaten in Zukunft friedlich verläuft.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 6 / 2021: Selbst bestimmen!
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