Vereinter Kampf für Mutter Erde

Andressa Anholete/Getty Images
Gemeinschaftsküche in einem Protestcamp indigener Gruppen in Brasilia. Im August 2021 haben sich dort 6000 Indigene versammelt, um ihr Recht auf Land in Brasilien einzufordern.
Lateinamerika
Protestbewegungen sind in Lateinamerika nicht ohne den Beitrag kleinbäuerlicher Familien und indigener Völker denkbar. Zu ihren historischen Forderungen nach Land­reform und Zugang zu Märkten kommen heute Umwelt- und Ernährungsthemen hinzu. 

Unterschiedlichste Protestbewegungen ließen sich in den vergangenen Jahren im ländlichen Lateinamerika beobachten: Indigene kämpfen gegen den Bau von Staudämmen wie etwa gegen den von HidroAysén im südlichen Chile, gegen das Kraftwerk Agua Zarca in Honduras oder das Wasserkraftwerk Belo Monte in Brasilien. Kleinbauern und Indigene in Peru und Kolumbien widersetzen sich Bergbauprojekten und Zwangsumsiedlungen durch Bergbauunternehmen. In Brasilien und Paraguay richtet sich der Protest auch gegen Landgrabbing und Vertreibung. In Argentinien haben sich Grundschullehrerinnen zu einem breiten Bündnis zusammengeschlossen, um ländliche Schulen zu schützen, die regelmäßig von den Pestizidsprühungen der angrenzenden Sojafelder betroffen sind. 

Die wachsende internationale Nachfrage nach Soja und Palmöl, aber auch nach Kupfer, Lithium, Eisen, Silber und Zinn für die Energiewende hat in den letzten zwanzig Jahren die Abschöpfung natürlicher Ressourcen in Lateinamerika verschärft. Gleichzeitig wurden Straßen, Häfen und Brücken gebaut, Flüsse begradigt und Pipelines und Kanäle angelegt. Diese großflächigen Infrastrukturprojekte haben die Abholzung großer Waldgebiete, Versalzung und Desertifikation der Böden, Verschmutzung durch Pestizide und Chemikalien und einen dramatischen Verlust an Artenvielfalt mit sich gebracht. So gehören Brasilien, Bolivien, Paraguay und Argentinien zurzeit zu den 15 Ländern der Welt mit dem größten Verlust an Waldfläche. Als Folge hat der gesamte südamerikanische Kontinent 2021 die schlimmste Dürre seit Beginn der Aufzeichnungen vor fast hundert Jahren und verheerende Waldbrände erlebt. 

Da ist es nicht verwunderlich, dass die sozialen Konflikte in ganz Lateinamerika förmlich explodiert sind. Ausgangspunkt sind oft spontane Aktionen der betroffenen Dörfer, die sich gegen Landgrabbing und Umweltzerstörung zur Wehr setzen. Daraus sind im Laufe der Zeit regional übergreifende Organisationen und Bündnisse entstanden, die auf kommunaler, nationaler und internationaler Ebene arbeiten und ebenso in Gerichtssälen, vor dem Europäischen Parlament und den Vereinten Nationen. In Chile etwa haben sich Menschen aus den verschiedensten Bereichen der chilenischen Gesellschaft der Bewegung „Patagonia sin Represas“ („Patagonien ohne Staudämme“) zusammengeschlossen. In Ecuador haben Umweltgruppen, Indigene und nichtstaatliche Organisationen zum Schutz des Yasuní-Nationalparks aufgerufen, die Grundschullehrerinnen in Argentinien arbeiten mit Ärztevereinigungen und universitären Forschungseinrichtungen zusammen wie der „Ärztevereinigung der pestizidbesprühten Dörfer“ („médicos de pueblos fumigados“) und der Abteilung Umweltgesundheit der Universität von Rosario.

Aus vielen Protesten sind übergreifende Bündnisse erwachsen

Diese wiederum vernetzen sich mit Engagierten aus anderen lateinamerikanischen Ländern. Aus vielen dieser Proteste sind im Laufe der Zeit übergreifende Organisationen und Bündnisse entstanden, die auf kommunaler, nationaler und internationaler Ebene arbeiten wie in Gerichtssälen, vor dem Europäischen Parlament und den Vereinten Nationen. Die betroffenen Gemeinden arbeiten auch intensiv mit der Zivilgesellschaft in Deutschland zusammen, vor allem wenn deutsche Unternehmen Mitverantwortung bei der Verletzung von Menschenrechten tragen. Internationale Klagen erhalten aufgrund der globalen Klimakrise einen immer höheren Stellenwert.

Kampagnenplakat von La Via Campesina, eines internationalen Bündnisses von Kleinbauern mit Ursprung in Lateinamerika: „Ernährungssouveränität ist Land, Wasser, Saatgut, Brot und Solidarität!“

„Por la Vida“ („Für das Leben“) und „Por la Madre Tierra“ („Für unsere Mutter Erde“) sind zentrale Leitsprüche, die man bei diesen Protesten von Mexiko bis Argentinien hören kann. Damit wenden sich Gemeinschaften gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Die Slogans wirken ungemein mobilisierend: Sie sprechen Menschen an, die von und mit der Natur leben. In ihrem kollektiven Bewusstsein werden Land, Wasser, Wälder als Gemeingüter wahrgenommen, während Unternehmen sie lapidar als Ressource klassifizieren. Im Gegensatz zu der westlich-christlichen Auffassung einer Trennung und Entgegensetzung von Mensch und Natur begreifen kleinbäuerliche, indigene und traditionelle Gesellschaften den Komplex Land-Umwelt-Mensch als Einheit. Aus dieser Weltanschauung entsteht deren Kraft, sich mächtigen Großgrundbesitzern und Konzernen zu widersetzen.

Autorin

Regine Kretschmer

hat an der Universität von Córdoba, Argentinien, zu sozialen Agrarwissenschaften promoviert und ist Referentin für ländliche Entwicklung in der Lateinamerika-Abteilung von Misereor.
Bei diesen Konflikten geht es um Zugang zu und Kontrolle über Land und Gemeingüter, aber auch um den Schutz der Umwelt. Territoriale Konflikte sind heute auch Umweltkonflikte. Die Aufwertung eigener Kulturen und der Beziehung Mensch-Umwelt begründet Kritik am westlichen Entwicklungsmodell. Die kollektive und vernetzte Arbeit von Menschen aus Stadt und Land, von Indigenen, kleinbäuerlichen Familien, Feministinnen und Umweltaktivistinnen verleiht diesen Bewegungen Kreativität und Vitalität. Neu ist dabei die hervorgehobene Rolle der Frauen: Sie vor allem organisieren sich, protestieren und bringen damit auch neue feministische Perspektiven in die Debatten ein.

Kleinbäuerliche Betriebe an den Rand gedrängt

Waren die kleinbäuerlichen Betriebe bis Ende der 1980er Jahre zentral für die Ernährung der wachsenden Städte und Pfeiler für die Industrialisierungsprozesse auf dem Kontinent, so stehen sie heute sowohl wirtschaftlich als auch sozial am Rand. Im Gegensatz zu den 1960er und 1970er Jahren, als Agrarreformen durchgeführt wurden, wird ihnen heute das Recht auf Land verwehrt. Im Sinne des dominierenden wirtschaftlichen Neoliberalismus gehört Land in die Hände derer, die in intensiver Landwirtschaft hohe Renditen erzielen, also in die Hände des Agrobusiness. Der Anbau der Kleinbauern ist demnach unrentabel, da sie keine intensive Landwirtschaft betreiben und weniger Rendite erzeugen. 

Kartoffelbauer bei der Ernte in ­Kolumbien. Wenig später wird er seine Ware selbst an der Straße feilbieten, weil die Zwischenhändler zu niedrige Preise zahlen.

Entsprechend werden Landbesetzungen und andere Protestformen von den Regierungen zunehmend kriminalisiert und juristisch verfolgt. Internationale Bekanntheit erlangte dabei die „Bewegung der Landarbeiter ohne Boden“ (MST oder Movimento Sem Terra) in Brasilien. Die Umverteilung von Land sowie Rechtssicherheit für teilweise seit Jahrhunderten bestehende Gemeinden oder indigene Territorien gehören nach wie vor zu den wichtigsten Forderungen der ländlichen Bevölkerung. So kehren die Mapuche in Argentinien und Chile sowie die Guaranis in Brasilien und Paraguay in ihre traditionellen Territorien zurück, von denen sie vertrieben wurden, und nehmen dafür Gewalt in Kauf.

Die Landkonzentration in Lateinamerika nimmt immer weiter zu

Die steigende internationale Nachfrage nach Rohstoffen und Agrarprodukten hat indes in den letzten zwanzig Jahren die Landkonzentration in Lateinamerika zugespitzt. Eine immer kleiner werdende Gruppe von Großgrundbesitzern oder Unternehmen – in Verbindung mit internationalen Banken, Finanzinvestoren, Hedgefonds und Pensionskassen – kontrolliert immer größere Flächen, während die ländliche Bevölkerung Territorium verliert. In Paraguay beispielsweise haben allein die kleinbäuerlichen Betriebe zwischen 1991 und 2008 fast ein Drittel ihres Territoriums an das Agrobusiness verloren. Damit geht auch Anbaufläche für Nahrungsmittel wie Maniok, Mais, Bohnen, Süßkartoffeln und Obst verloren. Vier Produkte, nämlich Soja, Mais, Getreide und Vieh, sind laut einer Studie der Welternährungsorganisation (FAO) maßgeblich für die Landkonzentration verantwortlich. Lateinamerika ist heute nach Informationen der weltweiten Hilfsorganisation Oxfam der Kontinent mit der größten Ungleichheit in Bezug auf Landverteilung. 

Bäuerliche Bewegungen und allen voran die Via Campesina haben angesichts dieser Machtkonzentration und Monopolstellung einiger weniger Konzerne eine tiefgreifende Kritik am bestehenden internationalen Ernährungs- und Handelssystem entwickelt. Im Mittelpunkt steht dabei, dass Nahrung und Gemeingüter zum Gegenstand von Profiten einiger weniger Unternehmen werden. Darüber hinaus geht es aber auch um die fatalen ökologischen Konsequenzen dieser Art der Landwirtschaft, die für viele Treib­hausgasemissionen verantwortlich ist. 

Die sozialen Bewegungen Lateinamerikas propagieren und praktizieren Agrarökologie und Ernährungssouveränität als Alternativen. Die Wirtschaftsweise soll sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung, den örtlichen Ökosystemen sowie ökologischen Prinzipien ausrichten und angepasste Wissenssysteme nutzen. Erklärtes Ziel ist, die Selbstbestimmung über den Anbau der Lebensmittel sowie die Kontrolle über die Gemeingüter wiederzugewinnen. Im Unterschied zur industriellen Landwirtschaft gibt es hier keine allgemeingültigen Rezepte und Modelle; jede Erfahrung ist je nach Ökosystem, Kultur und Organisationsprozess einzigartig. Dies ist der Grund, warum Agrarökologie auch eine dekoloniale Praxis ist, in der es um die Wertschätzung von Kulturen und eigenen Wissenssystemen geht.

„Ohne Feminismus keine Agrarökologie“

Agrarökologie ist ein emanzipatorischer Prozess, der Selbstorganisation und Autonomie fördert und in dem sich die Menschen als Subjekte und Protagonisten des eigenen Wandels begreifen können. Auch hierbei ist die Genderperspektive ein wesentlicher Bestandteil – wie es Frauenorganisationen ausdrücken: „Ohne Feminismus gibt es keine Agrarökologie“.

Die Versorgung der städtischen Bevölkerung mit gesunden Lebensmitteln ist ebenfalls Teil dieses Projektes zur Selbstbestimmung. In Brasilien etwa haben bäuerliche Organisationen und Genossenschaften Wege zur Vermarktung ihrer Produkte eingerichtet. In allen lateinamerikanischen Ländern gibt es ähnliche Initiativen von Direktvermarktung. Auch in Großstädten wie Rio de Janeiro oder Buenos Aires kann man in Läden von bäuerlichen Kooperativen oder Organisationen agrarökologische Produkte einkaufen. 

Bäuerliche Organisationen und Genossenschaften haben angesichts der pandemiebedingten Hun-gerkrisen Lebensmittel gespendet oder zu erschwinglichen Preisen an die arme städtische Bevölkerung und Gemeinschaftsküchen verteilt. Diese von Frauen initiierten Küchen finden sich in den Armenvierteln von Lima, Buenos Aires, Florianópolis, Sao Paulo und vielen anderen Städten Lateinamerikas. Diese gelebte solidarische Ökonomie hat Agrarökologie und Ernährungssouveränität einer breiteren Öffentlichkeit nähergebracht und neue gesellschaftliche Perspektiven eröffnet.

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erschienen in Ausgabe 1 / 2023: Im Protest vereint
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