„Kirchliche Entwicklungszusammenarbeit ist politischer geworden“

Misereor setzt auf eine enge Abstimmung mit seinen Partnern im Süden

Mit einem Festakt im Hohen Dom zu Aachen hat das katholische Hilfswerk Misereor im August den 50. Jahrestag seiner Gründung 1958 begangen (siehe Kasten). Misereor-Geschäftsführer Martin Bröckelmann-Simon erläutert, was die Stärken kirchlicher Hilfswerke sind, wie sich die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit im Laufe der Zeit verändert hat und warum Entwicklung heute neu gedacht werden muss.

Was unterscheidet die kirchliche von der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit beziehungsweise von der nichtkirchlicher Hilfsorganisationen?

Ein zentraler Unterschied ist das weitgefächerte Netz von Partnern, das uns in die hintersten Winkel der Welt an die Seite der Armen bringt. Das ist ein bisschen wie beim Wettlauf von Hase und Igel: Wir sind, wie der Igel, gut vernetzt immer schon da. Ein zweiter Punkt ist die besondere Kraftquelle unserer Spiritualität, die uns und unsere Partner verbindet und uns gemeinsam auch in schweren Zeiten nicht entmutigen lässt: Wir sind sozusagen das Institution gewordene Prinzip Hoffnung. Der dritte Unterschied vor allem zur staatlichen Entwicklungszusammenarbeit ist, dass wir selbst keine Projekte durchführen, sondern die Verantwortung in den Händen unserer rund 2500 Partner belassen. Mit ihnen sind wir in einem permanenten Dialog über die Ziele unserer Zusammenarbeit.

Läuft das in der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit nicht ähnlich?

Natürlich setzen auch die staatlichen Organisationen darauf, die Kapazitäten vor Ort zu stärken. Dennoch verbleiben Planung und Umsetzung von Projekten maßgeblich bei den Durchführungsorganisationen – deshalb heißen sie ja auch so. Das ist bei uns anders: Wenn unsere Partner nicht mitspielen, dann können wir noch so gute Pläne haben, die werden trotzdem nicht verwirklicht. Wir müssen es aushalten, dass Projekte anders laufen, als wir uns das vorgestellt haben. Das ist ein entscheidender Unterschied, der Dialog und wechselseitiges Verständnis so wichtig macht. Entwicklung kann man nicht kaufen – man kann nur an das anknüpfen, was vor Ort schon da ist.

Aber auch die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit kann doch nicht alles den Partnern überlassen?

Das tun wir ja auch nicht. Es gibt immer eine Vereinbarung, in der die beabsichtigten Wirkungen festgehalten sind. Das ist die Grundlage der Kooperation. Aber eine Evaluierung unseres Partnerschaftsprinzips in Afrika, Asien und Lateinamerika hat jetzt noch einmal bestätigt, dass wir aus der Sicht unserer einheimischen Partner in der Anpassung eines solchen Rahmens an veränderte Umstände sehr flexibel sind, flexibler wahrscheinlich, als andere sein können. Natürlich müssen wir in den Fällen, in denen wir mit öffentlichen Mitteln arbeiten, unsere Geldgeber informieren und bei größeren Änderungen auch deren Zustimmung einholen. Aber es gibt da eigentlich keine grundlegenden Probleme.

Laut einer Untersuchung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft gibt es inhaltlich kaum Unterschiede zwischen der Arbeit nichtstaatlicher Hilfsorganisationen und der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit. Was sagen Sie dazu?

Ich glaube, dass diese Studie zu kurz greift. Sie prüft die Armutsorientierung kirchlicher Entwicklungszusammenarbeit nur daran, in welchen Ländern wir welche Summen einsetzen. Zum einen würde ich für uns behaupten, dass wir sehr wohl in den ärmsten Ländern vertreten sind: Wir haben derzeit 96 Partnerländer und decken alle Armutsregionen der Welt ab. Zum anderen bedeutet ein Engagement in Ländern wie Brasilien, China oder Indien ja nicht zwangsläufig, dass die Armutsorientierung fehlt. Entscheidend ist doch, mit wem man arbeitet und was man dort tut. Uns geht es nicht darum, Länder zu entwickeln. Wir sind an der Seite der Menschen, die Armut und Ungerechtigkeit überwinden wollen – egal ob in einem Schwellenland oder einem der ärmsten Länder. Die Kieler Untersuchung ignoriert die Inhalte der Entwicklungszusammenarbeit, aber genau auf die kommt es an: Es wäre absolut unsinnig, von hier aus in Brasilien den Aufbau von Schulen zu finanzieren. Aber es macht viel Sinn, dort Elterngruppen in ihrem Engagement zu unterstützen, dass der kommunale Bildungsetat armenorientiert verwendet wird.

Wie hat sich kirchliche Entwicklungszusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten verändert?

Sie ist politischer geworden. In den Anfangsjahren haben wir sehr optimistisch darauf gesetzt, dass der Aufbau von Schulen, Hochschulen und Gesundheitssystemen den Durchbruch bringt. Wir mussten aber feststellen, dass das nicht reicht. Es genügt eben nicht, das Fischen zu lehren, statt Fische zu verteilen. Man hat dann zwar gut ausgebildete Fischer, aber die stoßen schnell an Grenzen, weil ihnen der Zugang zu den Fischgründen verwehrt wird, sie von den Marktpreisen nicht leben können und sie keinen Einfluss auf die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse haben. Diese Erkenntnis hat sich auf die Projekt­arbeit niedergeschlagen. Der Anteil des Förderbereichs Gesellschaftspolitik, politische Rahmenbedingungen und Menschenrechte zum Beispiel hat sich seit den Anfangsjahren von Misereor exakt verdoppelt. Das Bewusstsein, dass es keine Entwicklung ohne Gerechtigkeit und politisches Engagement gibt, ist bei uns und zugleich bei unseren Partnern im Süden gewachsen.

Sind dadurch neue Probleme entstanden?

Die Arbeit ist konfliktträchtiger geworden. Bei uns werden wir gefragt, warum wir uns in Dinge wie die EU-Agrarpolitik einmischen oder um Menschenrechtsfragen und den Lebensstil in Deutschland kümmern. Unsere Partner haben natürlich noch viel eher Probleme, weil es bei ihnen unmittelbar um Macht,  um Ressourcen- und Verteilungskonflikte geht.

Ist die Kirche diesen Weg der Politisierung mitgegangen?

Im Großen und Ganzen ja. Wir stützen uns ja auf Grundsatzdokumente der Weltkirche, die genau diesen Auftrag bekräftigt haben. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, hat uns anlässlich des 50. Jubiläums von Misereor noch einmal ausdrücklich dazu aufgerufen, den Mächtigen ins Gewissen zu reden und unbequem zu sein.

Ist die Entwicklungspolitik nicht überfordert damit, politische und ökonomische Strukturen zu verändern?

Natürlich kann die Entwicklungspolitik isoliert nicht funktionieren. Deshalb sage ich, dass die Forderung nach einer Steigerung der Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts zwar richtig ist, dass man aber gleichzeitig danach fragen muss, was mit den restlichen 99,3 Prozent passiert. Es ist ein grundlegender Reflexionsprozess über die Welt als globale Risikogemeinschaft nötig, auch bei uns in Deutschland. Wir müssen Entwicklung neu denken, vielleicht sogar losgelöst von einem ressourcenverschlingenden Wirtschaftswachstum. Wir brauchen eine offene Diskussion darüber, welche Art von Konsum und welchen Lebensstil wir uns in Zukunft noch leisten können. Eine solche Debatte wird unbequem sein und bei vielen auf Ablehnung stoßen. Aber wer sonst, wenn nicht die Kirchen, sollte zur Sprache bringen, dass es hier auch um Werte geht und dass der Einzelne sich nicht alleine denken kann? Das stand schon am Anfang unserer Arbeit: Misereor ist vor 50 Jahren mit dem Hinweis von Kardinal Joseph Frings gegründet worden, wer mittlerweile so viel Geld verdiene, dass er sich einen Mercedes leisten könne, solle sich doch vielleicht nur einen VW kaufen und den Rest für die Bekämpfung des Hungers spenden.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

Martin Bröckelmann-Simon ist Geschäftsführer des katholischen Hilfswerks Misereor in Aachen.

„Eine der ersten entwicklungspolitischen Institutionen überhaupt“

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Erzbischof Robert Zollitsch hat Misereor als eine der ersten Institutionen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit überhaupt gewürdigt. Selbst bei der Gründung des „Ministeriums für Entwicklungshilfe“ 1961 habe sich die Bundesregierung an Misereor orientiert, sagte Zollitsch auf einem Festakt zum 50-jährigen Bestehen des katholischen Hilfswerks am 17. August in Aachen. Als Interessenvertretung für die Armen sei die entwicklungspolitische Bildungs-, Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit des Hilfswerks unverzichtbar.

Der Kontakt zu den Ländern des Südens sei eine Wechselbeziehung, von der beide Seiten lernen und profitieren könnten, sagte Zollitsch und lobte zugleich die Kooperation mit den evangelischen Hilfswerken „Brot für die Welt“ und Evangelischer Entwicklungsdienst. Die ökumenische Zusammenarbeit sei ein Grundpfeiler der entwicklungspolitischen Szene in Deutschland.  Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) forderte in seinem Grußwort wirksame Strategien zur Durchsetzung der Menschenrechte und zur Schaffung leistungsfähiger Institutionen in Entwicklungsländern. Misereor habe sich seit seiner Gründung 1958 „zu einem Markenzeichen für Mitmenschlichkeit und Solidarität“ entwickelt.

Nach eigenen Angaben hat Misereor seit 1958 insgesamt 5,5 Milliarden Euro Spenden gesammelt und etwa 95.000 Entwicklungsprojekte unterstützt. Jährlich würden 6000 Projektanträge geprüft. Das Hilfswerk lädt am 20. September zu einem Tag der offenen Tür in die Geschäftsstelle nach Aachen ein.

(fe)

welt-sichten 9-2008

 

erschienen in Ausgabe 9 / 2008: Sudan: Krieg an vielen Fronten
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