Die EU nimmt Ungleichheit ins Visier

REUTERS/Leonardo Fernandez Viloria
Der Rentner Arquimedes Marquez, 64, verkauft im Mai 2022 in Caracas am Straßenrand Feuerzeuge und Covid-Schutzmasken, weil er ansonsten finanziell nicht über die Runden kommt. In der Stadt im Norden von Venezuela ist die Ungleichheit extrem hoch.
Brüssel
Mit einem neuen Prüfverfahren will die Europäische Union herausfinden, ob ihre Entwicklungspolitik Ungleichheit reduzieren hilft. Aber ist das überhaupt das vorrangige Ziel ihrer Zusammenarbeit mit Ländern im globalen Süden?

Drei Jahre haben Entwicklungsökonomen an einem Verfahren gearbeitet, mit dem die EU prüfen soll, ob ihre Entwicklungspolitik besonders arme oder anderweitig benachteiligte Bevölkerungsgruppen erreicht und auf diese Weise hilft, Ungleichheit zu verringern. Die für Internationale Partnerschaften zuständige EU-Kommissarin Jutta Urpilainen stellte den sogenannten Inequality Marker Ende Juni auf einer Konferenz in Frankreich vor

Ungleichheit, so die EU-Kommission in einem Konzeptpapier zum Inequality Marker, sei wirtschaftlich schädlich und begünstige Vetternwirtschaft und Korruption. Zudem ist es nach Ansicht der Kommission sozialpolitisch geboten, Ungleichheit zu verringern: Fokussiere sich die Entwicklungszusammenarbeit auf arme und benachteiligte Bevölkerungsgruppen, dann erhöhe das deren Chancen auf gute soziale Dienste wie Gesundheitsversorgung und Bildung.

Im Rahmen des Inequality-Marker-Verfahrens soll jedes EU-Projekt vor der Durchführung künftig auf vier Bestandteile geprüft werden: Ist im Rahmen des Projekts vorgesehen, die ärmsten beziehungsweise am stärksten benachteiligten 40 Prozent der Bevölkerung im Projektgebiet zu identifizieren? Wie stark ist das Projekt gezielt auf diese 40 Prozent der Bevölkerung ausgerichtet? Sind aussagekräftige und messbare Indikatoren formuliert, mit dem das geprüft werden kann? Enthält das Projekt einen Plan zur Evaluierung nach der Durchführung? Je nachdem wie stark ein Projekt diese vier Kriterien erfüllt, erhält es eine Wertung: Ungleichheit zu reduzieren ist kein Ziel (I-0), ist ein wichtiges Ziel neben anderen (I-1), ist das herausragende Ziel des Projekts (I-2).

Gesundheit für alle reicht nicht

Die EU erläutert das in dem Konzeptpapier an Beispielen: Ein Vorhaben, das etwa in einem Land flächendeckend den Ausbau der Gesundheitsversorgung fördert, bekäme die Wertung I-1, da es voraussichtlich auch den ärmsten 40 Prozent zugutekommt. Für die bestmögliche Wertung I-2 hingegen müsste es zusätzlich mögliche Hürden beseitigen, die es den ärmsten oder benachteiligten Bevölkerungsgruppen – Menschen mit Behinderungen etwa – erschwert, Zugang zu der geförderten Gesundheitsversorgung zu erhalten. 

Ein Projekt zum Ausbau des Schienennetzes in einem Land bekäme die Wertung I-0. Würde zusätzlich berücksichtigt, wie sich der Ausbau auf die ärmsten 40 Prozent auswirkt, und das Vorhaben diesbezüglich in einigen Punkten angepasst, bekäme es die Wertung I-1. Für die Wertung I-2 müsste sich der Ausbau gezielt auf besonders abgelegene und benachteiligte Regionen konzentrieren und zudem mit Vorteilen für die ärmsten 40 Prozent verknüpft werden, etwa mit subventionierten Preisen für Zugtickets.

Ab Ende dieses Jahres soll der Inequality Marker in der Entwicklungszusammenarbeit der EU-Kommission eingesetzt werden, erklärte Jutta Urpilainen Ende Juni. Niels Keijzer vom German Institute of Development and Sustainability (IDOS) in Bonn begrüßt das neue Werkzeug grundsätzlich. „Die EU signalisiert damit, dass es wichtig ist, Ungleichheit anzugehen“, sagt Keijzer, der bei IDOS unter anderem für EU-Entwicklungspolitik zuständig ist. Als Herzstück des Inequality Marker sieht er das daran gekoppelte Verfahren, über die Auswertung von statistischen Daten und von Haushaltsbefragungen vor und während eines Projekts sowie danach die ärmsten Bevölkerungsgruppen zu ermitteln (Distributional Impact Assessment). So könne verifiziert werden, ob sich ein Projekt auf Ungleichheit auswirkt.

Nur eine bürokratische Übung?

Dafür müsse die EU ausreichend Finanzierung bereitstellen und sicherstellen, dass solche Prüfungen auch durchgeführt und berücksichtigt werden, sagt Keijzer. „Tut sie das nicht, dann könnte der Inequality Marker bloß eine bürokratische Übung mit beschränkter Auswirkung auf die Praxis bleiben.“ Keijzer weist in diesem Zusammenhang daraufhin, dass die Entwicklungspolitik – nicht nur der EU – in den vergangenen Jahren mit einer wachsenden Zahl von Zielen versehen worden sei, die mit ähnlichen Werkzeugen geprüft würden, etwa ob Projekte zur Geschlechtergerechtigkeit oder zum Klimaschutz beitragen. 

Im vergangenen Jahr hatte der Europäische Rechnungshof die EU-Kommission gerügt, ihre Angaben zur Klimaschutz-Relevanz der EU-Entwicklungspolitik seien unzuverlässig, weil sie lediglich auf den beabsichtigten Zielen der Projekte beruhten und nicht auf den tatsächlichen Wirkungen. Ähnliche Kritik könnte sich der Inequality Marker einhandeln, bleibt es bei der Bewertung von Projekten anhand der vier Kriterien ohne Praxisprüfung.

Darüber hinaus ist die Frage, wie ernst die EU es überhaupt mit der Bekämpfung von Ungleichheit meint. Das Flaggschiff der EU-Entwicklungspolitik ist seit zwei Jahren das Infrastrukturprogramm Global Gateway, mit dem Brüssel dem Vordringen Chinas in Afrika, Asien und Lateinamerika Paroli bieten will. „Dieses Ziel steht für die EU auf jeden Fall weiter oben als die Ungleichheit zu reduzieren“, sagt Keijzer. Und Global Gateway zielt eher auf wohlhabendere Entwicklungsländer und auf Schwellenländer statt auf die ärmsten Länder. Deren Anteil an der Entwicklungshilfe (ODA) der EU ist von 26,4 Prozent im Durchschnitt der Jahre 2009 bis 2013 auf 21,8 Prozent für die Jahre 2017 bis 2021 gefallen.

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