Machtspiel in der Kirche

Der Streit um Homosexualität stellt die Anglikaner vor eine Zerreißprobe

Von Jürgen Wandel

Als in den USA ein schwuler Pfarrer zum anglikanischen Bischof gewählt wurde, war in Afrika die Empörung groß. Eine Spaltung der anglikanischen Weltgemeinschaft konnte bei der jüngsten Zusammenkunft ihrer Bischöfe, der Lambeth-Konferenz in Canterbury im Juli, gerade noch abgewendet werden. Aber die Fronten bleiben verhärtet und der Grundkonflikt zwischen den konservativen Bischöfen in Afrika, Lateinamerika und Australien und den liberalen Kirchenführern in England und den USA ist ungelöst.

Eine gespenstische Szene war am 4. August 1998 in der Tagesschau der BBC zu sehen: Emmanuel Chukwuma, ein anglikanischer Bischof aus Nigeria, versuchte dem englischen Diakon Richard Kirker die Hand aufzulegen und rief dabei: „Im Namen Jesu, ich befreie dich von deiner Homosexualität.“ Kirker, Vorsitzender der „Christlichen Lesben- und Schwulenbewegung“ Großbritanniens, hatte zuvor Flugblätter am Rande der Lambeth-Konferenz verteilt, dem Treffen der anglikanischen Bischöfe aus aller Welt, das alle zehn Jahre im englischen Canterbury stattfindet.

Chukwama schleuderte Kirker entgegen, das Dritte Buch Mose aus dem Alten Testament sehe für Homosexuelle die Todesstrafe vor. Im Laufe des Disputs brüllte der Bischof: „Gott hat dich nicht als Homosexuellen geschaffen.“ Und: „Eure Kirche in Europa stirbt, weil sie Unmoral vergibt.“ Als sich ein südafrikanischer Bischof einmischte und darauf hinwies, dass auch der Alt-Erzbischof von Kapstadt, Desmond Tutu, für die Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben in der Kirche eintrete, wurde er von seinem nigerianischen Kollegen belehrt: „Desmond Tutu ist geistlich tot.“

Seitdem sind zehn Jahre vergangen. Aber die Fronten in der 77 Millionen Mitglieder umfassenden Anglikanischen Weltgemeinschaft bleiben verhärtet. Im Vordergrund steht die Frage, ob Schwule und Lesben ins geistliche Amt berufen und gleichgeschlechtliche Paare im Gottesdienst gesegnet werden dürfen. Doch im Grunde genommen ist die Auseinandersetzung darüber ein Stellvertreterkrieg. Letztlich geht es um Grundsätzliches: Soll die anglikanische Kirche eine Volkskirche bleiben, die sehr unterschiedliche, auch gegensätzliche Formen der Frömmigkeit und Theologie umfasst („comprehensive church“) und damit auch aufgeklärte Zeitgenossen anspricht? Oder soll sie eine Bekenntniskirche werden, die nur ein bestimmtes Bibelverständnis erlaubt?

In einem Klima, das den englischen Bischof Peter Selby an einen Reichsparteitag („Nuremberg Rally“) erinnerte, beschloss die Lambeth-Konferenz 1998 mit 526 gegen 70 Stimmen bei 45 Enthaltungen, dass gelebte Homosexualität „unvereinbar mit der Heiligen Schrift“ sei. „Sieg“, schrien viele afrikanische Bischöfe und schlugen einander auf die Schulter. Was sie dabei übersahen oder nicht wahrhaben wollten: Lambeth-Konferenzen können allenfalls Empfehlungen aussprechen. Sie bestehen nur aus Bischöfinnen und Bischöfen. Doch in der anglikanischen Kirche haben Laien immer ein entscheidendes Wort mitgeredet, vom englischen Monarchen über das Parlament in Westminster bis zu regionalen und nationalen Synoden. Außerdem sind die 38 anglikanischen Landeskirchen selbstständig – wie bei den anderen Konfessionen, die sich in der Reformationszeit vom Papst gelöst haben.

Vor allem die Anglikaner in den Vereinigten Staaten legen auf ihre Autonomie und die Leitung durch demokratisch gewählte Synoden, Bischöfinnen und Bischöfe großen Wert. Schließlich hatten sie nach der Amerikanischen Revolution von 1776 die Kirchenleitung in der Hand des König im fernen London abgeschüttelt. Besonders ausgeprägt ist der Wille, über die eigenen Angelegenheiten selbst zu bestimmen, in dem kleinen Neuenglandstaat New Hampshire. Vor fünf Jahren wählten die  Anglikaner dort unter drei Bewerbern einen Pfarrer zum Bischof, den sie lange kannten und schätzten und – der schwul ist und mit einem Mann zusammenlebt. In der aus zwei Kammern bestehenden Diözesansynode erhielt Gene Robinson bei den Geistlichen 58 von 77 und bei den Laien 96 von 105 Stimmen. Die Nationalsynode der USA setzte die Entscheidung New Hampshires mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit in Kraft.

Konservative Anglikaner in und außerhalb der USA empörten sich, vor allem in der Dritten Welt. Dabei spielten die Anglikaner in Afrika wegen ihrer großen Zahl eine gewichtige Rolle. Allein die anglikanische Kirche Nigerias zählt 17 Millionen Mitglieder. Allerdings ist die Zahl mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Denn Nigeria kennt kein Meldewesen wie Deutschland. Peter Akinola, der Erzbischof des Landes und starke Mann der Anglikaner in Afrika, nannte die Bischofswahl von New Hampshire einen „satanischen Anschlag“ auf die Kirche. Und in einem Interview mit der Londoner „Times“ stellte er die Frage, ob Schwule und Lesben, die eine Partnerschaft eingehen, „normaler heterosexueller Beziehungen überdrüssig“ seien.

In dieser Frage schwingt die in Afrika verbreitete Überzeugung mit, Homosexualität sei ein Ausdruck westlicher Dekadenz. So lobte Ugandas Präsident Yoweri Museveni den anglikanischen Erzbischof seines Landes, Henry Luke Orombi, dafür, dass er „einer dekadenten Kultur“ widerstehe, die „von westlichen Nationen“ an Afrika „weitergegeben“ werde. Nigerias Erzbischof Akinola unterstützt die Einführung eines Gesetzes, das schon diejenigen mit fünf Jahren Gefängnis bedroht, die Homosexuelle unterstützen. In seinem Kampf gegen Schwule und Lesben beruft er sich auf die Bibel. Homosexualität bezeichnet der Erzbischof immer wieder mit einem Begriff des Dritten Buch Mose als „Gräuel“.

Das dürfte kein Zufall sein. Denn viele Afrikaner denken wie die alten Israeliten: Homosexualität ist keine Veranlagung. Homosexuelle sind vielmehr Heterosexuelle, die sich unter dem Einfluss von Fremden – damals der Heiden, heute der Westeuropäer und Nordamerikaner – entscheiden, mit Angehörigen des eigenen Geschlechts zu schlafen. Damit gefährden sie den Fortbestand ihrer Familie und des eigenen Volkes. Denn viele Kinder sind für die Versorgung bei Krankheit und im Alter notwendig, wenn es keinen Sozialstaat gibt.

Die „Gegnerschaft zur Homosexualität vereint in Afrika politische Führer, Atheisten und Geistliche“ in ihrem Kampf gegen das, was als „Kulturimperialismus“ des Westens gesehen werde, schreibt Tabu Butagira, leitender Redakteur der ugandischen Zeitung „Daily Monitor“. So wandte sich Ugandas anglikanischer Erzbischof Orombi gegen das Ehrenoberhaupt der Anglikanischen Weltgemeinschaft, den Erzbischof von Canterbury Rowan Williams, weil dieser „ein Überbleibsel des britischen Kolonialismus“ sei. Dabei übersieht Orombi allerdings, dass  auch sein Amt und seine Kirche Überbleibsel des britischen Empire sind —  wie alle anglikanischen Kirchen außerhalb der britischen Inseln. Dass die meisten Anglikaner in Afrika vehement an einer unhistorischen Auslegung der Bibel und der Verurteilung von Homosexualität festhalten, ist auch eine Folge der Missionsgeschichte. In vielen britischen Kolonien war die evangelikale „Church Mission Society“ tätig.

In der anglikanischen Kirche Südafrikas dagegen wirkt nach, dass sie von Theologen geprägt wurde, die der liberalen anglokatholischen „Community of the Resurrection“ im englischen Mirfield angehörten. Kapstadts Alt-Erzbischof Tutu beklagte die Homophobie in der anglikanischen Kirche. Und sein Nachfolger Njongo Ndungane kritisierte, die anglikanische Weltgemeinschaft sei „auf ein Thema fixiert“. Dabei gehe es doch nur „um Machtspiele“.Ähnlich sieht das der Londoner Pfarrer und Publizist Giles Fraser. Im britischen „Independent“ warf er den konservativen Anglikanern des Westens vor, „die tief verwurzelte Homophobie vieler afrikanischer Christen“ auszunutzen.

Die Globalisierung durch Internet und Flugzeug hat es der wohlhabenden evangelikalen Minderheit in der anglikanischen Kirche der USA ermöglicht, sich mit der armen evangelikalen Mehrheit in Afrika zu vernetzen. Dazu gestoßen ist neben englischen Traditionalisten und Bischöfen der kleineren anglikanischen Kirchen Asiens und Lateinamerikas die Diözese Sydney, die – evangelikal geprägt – in der anglikanischen Kirche Australiens zwar eine Außenseiterrolle einnimmt, aber reich ist. Ihr Erzbischof Peter Jensen möchte wie sein Mitstreiter und nigerianischer Amtskollege Peter Akinola die Geschicke der anglikanischen Weltgemeinschaft bestimmen.

Um ihnen die Teilnahme an der diesjährigen Lambeth-Konferenz schmackhaft zu machen, lud der Erzbischof von Canterbury den schwulen Bischof Robinson nicht ein. Doch 291 ultrakonservative Bischöfe, die rund 30 Millionen Anglikaner repräsentieren, wollten auch nicht den Kolleginnen und Kollegen aus den USA begegnen, die Robinsons Wahl bestätigt hatten. Statt nach Canterbury fuhren sie daher nach Jerusalem. Dort legten Akinola und Jensen die Grundlage für kirchliche Parallelstrukturen. Sie umfassen eine „Gemeinschaft Bekennender Anglikaner“ und einen „Rat der leitenden Bischöfe“. Die „Priorität“ des Rates, dem Akinola vorsteht und dem Jensen als Sekretär dient, ist die Schaffung einer neuen „rechtgläubigen“ Kirchenprovinz in Nordamerika. Doch diese dürfte recht klein ausfallen. Von den 110 US-Diözesen hat sich bisher lediglich eine einem ausländischen Erzbischof unterstellt. Drei weitere wollen folgen.

Vor acht Jahren schrieb Rowan Williams, damals Erzbischof von Wales, die Verbote der Bibel hätten nur Heterosexuelle im Blick, die mit Angehörigen des gleichen Geschlechtes verkehren. Eine treue Beziehung homosexuell veranlagter Menschen könne dagegen die Liebe Gottes „widerspiegeln in einer Weise vergleichbar mit der Ehe“. Diese Aussage hat Williams zwar nicht widerrufen. Aber als Ehrenoberhaupt der anglikanischen Weltgemeinschaft fühlt er sich „dem Konsens unserer Kirche“ verpflichtet. Und dazu zählt er die Ablehnung der Homosexualität durch die Lambeth-Konferenz 1998.

Die diesjährige Lambeth-Konferenz beschränkte sich auf einen intensiven Meinungsaustausch der Bischöfe. Auf Resolutionen wie 1998 wurde dagegen verzichtet. Entscheidendes wird erst im kommenden Jahr geschehen. Dann wird der Entwurf für einen „Bund“ (Covenant) fertig gestellt. In ihm sollen sich die anglikanischen Kirchen der Welt auf gemeinsame Prinzipien festlegen. Über deren Einhaltung soll eine Art Glaubenskongregation wachen, ein „Pastoralforum“, das der Erzbischof von Canterbury leitet. Es könnte zum Beispiel verhindern, dass Lesben und Schwule ins Bischofsamt berufen werden. Doch das würde bedeuten, dass liberale Kirchen aus der Anglikanischen Weltgemeinschaft – gezwungenermaßen oder freiwillig – ausscheiden und ihr allenfalls locker verbunden bleiben. Der Anglikanismus, den die typisch englische Mischung aus Anstand, Toleranz und Pragmatismus auszeichnet, verlöre seine Seele.

Jürgen Wandel ist Redakteur der evangelischen Monatszeitschrift „Zeitzeichen“.

welt-sichten 10-2008

 

erschienen in Ausgabe 10 / 2008: Klimaschutz: Welche Instrumente wirken?
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