Ausloten, was noch geduldet wird

Shafiullah Kakar/AFP via Getty Images
Nur noch mit Burka auf die Straße: Afghaninnen gehen in Dschalalabad im April 2023 an einem Wächter der Taliban vorbei.
Afghanistan
Die Enquete-Kommission des Bundestages hat den Afghanistan-Einsatz von Deutschland und seinen Partnern als "strategisch gescheitert" bezeichnet. Und die Folgen im Land? Die Situation der Frauen hat sich nach dem Sieg der Taliban 2021 dramatisch verschlechtert. Etwas Hoffnung machen kleinere nichtstaatliche Schul- und Bildungsprojekte.

Der Alltag im Kabuler Stadtteil Shar-e Naw scheint wie gewohnt rege. Händler spazieren auf und ab. In den Geldstuben werden Dollar- und Euroscheine gezählt. Aus Restaurants und Imbissbuden ziehen Rauchschwaden durch die Straßen, es riecht nach gegrilltem Fleisch. Doch der Schein trügt. Vor der Rückkehr der Taliban im August 2021 war es hier belebter. Die Wirtschaft, Basare und Werkstätten liegen brach, viele derjenigen, die einmal hier wohnten und arbeiteten, haben sich ins Ausland abgesetzt. 

Das merkt auch Milad Ahmad (Name von der Redaktion geändert). Der 30-Jährige arbeitet als Schmuckschmied in einer der bekanntesten Straßen der Stadt, der Gasse der Antiquitätenhändler. „Viele Geschäfte haben geschlossen, weil die Kaufkraft gesunken ist. Die Anzahl von Frauen – die hier früher auch viel gekauft haben – hat auf den Straßen rapide abgenommen“, erzählt er. Ahmad sitzt in seiner lauten Werkstatt, die sich in einer dreistöckigen Mall befindet. Während er spricht, blickt er nervös um sich. Manchmal würden sich die Spitzel des Taliban-Geheimdienstes hier aufhalten. „Sie kontrollieren alles und jeder hat Angst“, meint Ahmad. Es drohen Repressalien, Gefangenschaft oder die Schließung des Geschäfts. 

Seit einigen Jahren arbeitet Milad Ahmad mit der deutschen NGO „Visions for Children“ zusammen, die unter anderem Frauenarbeit in Afghanistan fördert. Ahmads Werkstatt sollte in Zusammenarbeit mit der NGO Goldschmiedinnen ausbilden und deren Werke in Afghanistan und vor allem im westlichen Ausland verkaufen. Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 aber stockt das Projekt wegen des Ausbildungsverbots für Frauen.

Verbote und strenge Kontrollen 

Die Geldgeber haben sich – wie in vielen anderen Fällen – zurückgezogen. „Nun ist es uns vorerst nicht mehr möglich, das Handwerk von Frauen und deren wirtschaftliche Unabhängigkeit zu fördern“, erklärt Hila Limar aus Hamburg. Sie stammt aus Afghanistan, lebt aber schon seit Jahren in Deutschland. Seit 2009 ist sie Vorsitzende von „Visions for Children“. Bis August 2021 besuchte sie Afghanistan regelmäßig, danach ist sie nicht mehr dort gewesen. Seit die Taliban die Herrschaft im Land übernommen haben, dürfen Mädchen und Frauen weder Oberstufenschulen besuchen noch ein Studium absolvieren. Hinzu kommen verschiedene Berufs- und andere Verbote. So dürfen Frauen keine öffentlichen Parks mehr betreten. Und eine Frau, die ohne einen „Mahram“, eine männliche Begleitung aus dem näheren Familienumfeld, reisen möchte, muss sich den Sittenwächtern stellen. Wer deren Willkür ausgesetzt ist, muss im besten Fall mit einem Verhör und im schlimmsten Fall mit einer Festnahme rechnen. 

Am Flughafen sind die Kontrollen besonders streng. Auch Limar würde, wenn sie für ihre NGO nach Afghanistan käme, um sich um Frauenarbeitsplätze und Schulausbau für Mädchen zu kümmern, an der Rückreise nach Deutschland gehindert, fürchtet sie. Für viele Afghanen und Afghaninnen ist die misogyne Politik der Taliban untragbar – in der Stadt und auf dem Land. Auch viele konservative Würdenträger und Kleriker haben die Vorgehensweise der Taliban seit ihrer Rückkehr regelmäßig kritisiert und an den Pranger gestellt. „Der Alltag von Frauen hat sich massiv verschlechtert, während die internationale Staatengemeinschaft einfach wegsieht“, sagt Hila Limar.

Kurz nachdem die Taliban wieder an der Macht waren, schloss Milad Ahmad seine Werkstatt in Shar-e Naw erst einmal mehrere Wochen lang, aus Angst vor Repressionen. Inzwischen wagt er es zwar wieder zu öffnen, aber Probleme, Hürden und Repressalien gibt es trotzdem, denn die Sittenpolizei der Taliban durchdringt nahezu alle Bereiche des afghanischen Alltags. In Milad Ahmads Werkstatt dürfen wieder Frauen arbeiten, aber die Taliban verlangen eine strenge Geschlechtertrennung sowie die Einhaltung „islamischer Regeln“. Außerdem müssen neue Kleiderordnungen für Männer und Frauen eingehalten werden. So trägt Milad inzwischen einen Vollbart sowie traditionelle afghanische Kleidung mitsamt Pluderhose. Seine Goldschmiedinnen, mittlerweile allesamt vollverschleiert, arbeiten in einer für Frauen eigens errichteten Produktionsstätte. Ausbildung findet nicht mehr statt.  

Ohne Arrangements mit den Taliban geht nichts

„Wir halten uns an die Regeln und dürfen vorerst weiterarbeiten“, sagt Milad. Die stetige Sorge, dass damit am nächsten Tag Schluss sein könnte, begleitet ihn aber. Derweil hat die NGO von Hila Limar, die auch in anderen Regionen der Welt tätig ist, im September in Kabul eine weitere Schule für Mädchen eröffnet. Dies konnte geschehen, weil sie sich in gewisser Weise mit den Taliban arrangiert und ihnen zugesagt hat, dass dabei die islamischen Regeln beachtet würden.  

Autor

Emran Feroz

ist freier Journalist und Autor des Buches „Der längste Krieg“ über den „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan.

Dass ohne solche Arrangements mit den Taliban in Afghanistan nichts geschehen kann, war im Grunde genommen schon im Vorfeld ihrer Machtübernahme bekannt. Immerhin kontrollierten die Extremisten Mitte 2021 bereits die Hälfte des Landes. Auch damals operierten in den betroffenen Regionen ausländische Hilfsorganisationen und NGOs, die ohne Einverständnis der Taliban niemandem hätten helfen können. 

Der damalige Pragmatismus fällt heute vielen internationalen NGOs schwer. Denn anders als damals haben die Extremisten nicht nur die gesamte Macht in der Hand, sondern auch der Hälfte der Bevölkerung, den afghanischen Frauen, den Krieg erklärt. Dies ist einer der Gründe, warum das wiedergeborene Taliban-Emirat von der Staatengemeinschaft sanktioniert wird und afghanische Devisenreserven in Höhe von rund 10 Milliarden US-Dollar weiterhin eingefroren sind. 

Die Sanktionen treffen die einfache Bevölkerung

Doch während die Taliban-Führung sich finanziell bereichert, treffen die Sanktionen die einfache Bevölkerung. So konnte erst vor kurzem ein Taliban-Vertreter nach Köln einreisen, während andere sich durch Fluchtrouten durschlagen müssen, um vor ihnen zu entkommen. Hinzu kommt, dass auch die USA und ihre Verbündeten viel Schuld an der Misere trifft. Immerhin haben sie es nicht geschafft, während ihres zwanzigjährigen Militäreinsatzes einen wirtschaftlich unabhängigen Staat aufzubauen – bevor sie letzten Endes selbst die Taliban hofiert und dadurch zu deren Rückkehr an die Macht beigetragen haben. 

Besonders deutlich wird das dort, wo die Taliban ihren neuen Alltag ausleben. Die nördliche Stadt Mazar-e Sharif in der Provinz Balkh wurde einst von den NATO-Truppen und der afghanischen Armee kontrolliert, während unter deren Schutz örtliche Warlords das Sagen hatten. Letztere wurden dank lukrativer Verträge mit den ausländischen Militärs, die die Kämpfer der Warlords beschäftigten, zu Multimillionären und investierten ihr Geld in Immobilien in afghanischen Städten. 

Die berühmte blaue Moschee bildet das Zentrum der Stadt Mazar-e Sharif. Auch Taliban-Kämpfer treffen sich hier.

Im August 2021 flüchteten die korrupten Eliten, und die Taliban zogen in ihre Häuser ein. In einem solchen Hochhaus am Stadtrand Mazar-e Sharifs lebt die 27-jährige Samira Sadat (Name geändert). Während sie meist am Laptop sitzt und Onlinekurse der Universität belegt, lebt der neue Taliban-Bürgermeister der Stadt mitsamt seinen beiden Ehefrauen und neun Kindern im Stockwerk über ihr. Er fährt zwei schwarze Range Rover; seine Bodyguards patrouillieren meist um den Block oder fahren zum Leidwesen der Nachbarn mit ihren Motorrädern durch die Gänge.

Eine schweizerisch-afghanische Initiative

„Niemand traut sich, gegen die etwas zu sagen. Vor zwei, drei Jahren hätte ich nicht gedacht, dass ich mich einmal in solch einer Situation wiederfinden könnte“, sagt Sadat und muss über ihre eigenen Worte lachen. Die Studentin war sich in der Endphase ihres Medizinstudiums, als die Taliban im Dezember 2022 den Frauen verboten, eine Universität zu besuchen. Ihr Traum, bald Ärztin zu werden, platzte. Ähnlich wie ihre Kommilitoninnen dachte Sadat, dass sie in Afghanistan keine Zukunft mehr hätte. Ihr Vater, der selbst Arzt und gläubiger Muslim ist, sammelte sein Erspartes, um mit seinen Töchtern zu flüchten – für die Bildung. Doch dann hörte Sadat von der „Afghan University of Medical Sciences“ (AUMS), einer schweizerisch-afghanischen Initiative, die Afghaninnen die Fortführung ihres Medizinstudiums ermöglichen will. 

„Als das Verbot kam, musste ich etwas tun. Ich fühlte mich verantwortlich. Das ist meine Heimat“, sagt der 32-jährige Maiwand Ahmadsei. Nachdem die Taliban die Universitätspforten für Frauen geschlossen hatten, setzte der deutsch-afghanische Arzt in seinem Zürcher Altbau zusammen mit gleichgesinnten Kollegen ein Curriculum auf, das sie seitdem durchziehen. Dank der weitvernetzten afghanischen Diaspora konnte Ahmadsei auch ein Ärzteteam vor Ort aufstellen, ohne selbst nach Afghanistan zu reisen. Während die Welt den Blick von Afghanistan abwandte, erhielt AUMS Spenden im fünf- bis sechsstelligen Bereich. Außerdem könnte es demnächst zu einer Akkreditierung bei einer renommierten Universität kommen. „Wir werden durch eine Akkreditierung zu einer echten Universität und können dann auch Leistungspunkte vergeben, die weltweit anerkannt werden“, erklärt Ahmadsei.

Auch die Taliban haben von AUMS erfahren – und nicht interveniert. „Uns wurde gesagt, dass wir weitermachen dürfen“, erklärt Naqeeb Sahak, einer der Projektverantwortlichen in Kabul. Es gebe viele Taliban-Offizielle, die das Bildungsverbot nicht gutheißen würden. Die Unstimmigkeiten zwischen den Extremisten sind nichts Neues. Tatsächlich lassen sich unter ihnen auch einige führende Köpfe finden, die man als „moderat“ oder „rational“ bezeichnen könnte. Das Problem: Ihnen fehlt die Machtbasis. Stattdessen haben die alten, radikalen Kräfte aus dem südlichen Kandahar das Sagen, allen voran Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada. 

Irgendeine Art der Zusammenarbeit besser als gar keine?

Die jüngsten Entwicklungen stimmen Samira Sadat dennoch etwas optimistisch. Sie versucht sich auf ihre Vorlesungen zu konzentrieren, auch, um nicht wie viele ihrer einstigen Kommilitoninnen in eine Depression zu fallen. Dass die Taliban sich tatsächlich eines Tages ändern und sie abermals studieren oder arbeiten lassen könnten, hält sie dennoch für zweifelhaft. 

Doch nicht nur Menschen wie Hila Limar oder Maiwand Ahmadsei versuchen, die Realitäten vor Ort zu akzeptieren und trotzdem Hoffnung zu entfachen. „Man hat praktisch gar keine andere Wahl“, erklärt Graeme Smith, der seit Jahren für die International Crisis Group das Geschehen in Afghanistan analysiert. Smith plädiert für eine Zusammenarbeit mit dem Taliban-Regime, ohne deren Repressalien zu relativieren. Alles andere schade nicht den Taliban, sondern in erster Linie der afghanischen Bevölkerung. 

Diese wird ja nicht nur vom Totalitarismus der neuen Machthaber, sondern auch von Wirtschaftskrisen, dem Klimawandel und Naturkatastrophen wie der jüngsten Erdbebenserie im Westen des Landes heimgesucht. „Westliche Regierungen und Institutionen sowie solche aus der Region müssen mit den Taliban zusammenarbeiten. Das sind sie Millionen von Afghanen schuldig“, lautet deshalb Smiths Forderung. Dem Kanadier wurde deshalb schon vorgeworfen, ein Taliban-Apologet zu sein. Doch irgendeine Art der Zusammenarbeit mit den Taliban ist womöglich besser als gar keine – vor allem wenn es um das Leben so vieler Menschen geht.

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erschienen in Ausgabe 1 / 2024: Krieg ohne Ende?
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