Eine moderne Medea

Saint Omer, Frankreich 2022, Regie: Alice Diop, 123 Minuten, Kinostart: 9. März 2023
In ihrem ersten Spielfilm schildert die französische Regisseurin Alice Diop eindringlich die Lebensgeschichte einer jungen Migrantin, die beschuldigt wird, ihre kleine Tochter getötet zu haben. Es geht ums Muttersein, aber auch um Rassismus.

Die Hochschuldozentin und Schriftstellerin Rama reist nach Saint-Omer, einer kleinen Stadt in Nordfrankreich, um einem Mordprozess beizuwohnen. Angeklagt ist Laurence Coly, eine aus dem Senegal stammende Philosophiestudentin. Sie soll ihre 15 Monate alte Tochter getötet haben, indem sie sie nachts am Strand zurückließ, als die Flut kam. Rama, die als Tochter senegalesischer Eltern in Frankreich geboren wurde, interessiert sich für den Fall, weil sie an einem Roman arbeitet – einer modernen Fassung des griechischen Medea-Mythos. Zudem ist sie selbst im vierten Monat schwanger. Vor Gericht bekennt sich Coly trotz der erdrückenden Beweislage nicht schuldig. 

In langen Befragungen durch Richterin, Staatsanwalt und Anwältin gibt die Angeklagte, die nach Informationen des Gerichts an einer Doktorarbeit über den österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein arbeitete, geduldig Auskunft über ihre Lebensgeschichte und die Vorgeschichte der Tat, verwickelt sich aber immer wieder in Widersprüche. Je länger der Strafprozess dauert und je deutlicher die Probleme Colys mit ihrer ungewollten Schwangerschaft und Mutterschaft zu Tage treten, desto stärker wirkt auch Rama emotional gebeutelt. Die bedächtige, fast theaterhaft wirkende Inszenierung ist geprägt durch lange ruhige Einstellungen mit einer statischen Kamera, die sich oft in Nah-Aufnahmen auf die Gesichter der Akteure im Gerichtssaal konzentriert, und vermeidet unnötige Dramatisierungen. Dementsprechend verzichten die Darstellerinnen und Darsteller, allen voran Guslagie Malanda als Coly und Kayija Kagama als Rama, auf ausladende Gesten und vermitteln emotionale Regungen vor allem über die Mimik.

Realer Kriminalfall als Hintergrund

Die Filmerzählung beruht auf einem realen Kriminalfall. Im November 2013 setzte die 36-jährige Fabienne Kabou ihre 15 Monate alte Tochter am Strand von Berck bei Calais aus, so dass sie in der Nordsee ertrank. Im Juni 2016 wurde Kabou wegen Mordes zu einer Haftstrafe von 20 Jahren verurteilt. Vor dem Schwurgericht gab sie an, für ihre Tat keine andere Erklärung als Hexerei zu haben. Der Film lehnt sich bis in den Wortlaut der Dialoge eng an den Prozess an. 

Die französische Regisseurin und Mitautorin des Drehbuchs Alice Diop verfolgte den Prozess damals aufmerksam und war auch bei der Urteilsverkündung dabei. Sie selbst, die 1979 als Tochter senegalesischer Eltern in der Nähe von Paris geboren wurde, hat Dokumentarfilm an der Pariser Filmhochschule La Fémis studiert. Nach mehreren dokumentarischen Kurzfilmen und dem Dokumentarfilm "Nous" (2021) über die Pariser Vorstädte legt sie mit "Saint Omer" ihren ersten Spielfilm vor. Es ist angesichts der biographischen Berührungspunkte kaum zu übersehen, dass Rama eine Art Alter Ego Diops darstellt, zumal beide schwarze intellektuelle Frauen mit afrikanischen Wurzeln sind. 

Im Gerichtssaal, aber auch durch Colys Erzählungen wird deutlich, dass sie seit ihrer Ankunft in Frankreich wiederholt mit Rassismus konfrontiert wurde. Gleichwohl ist Rassismus nicht das Hauptthema des sehenswerten Films, sondern das Muttersein, wie die Regisseurin in einem Interview mit der Fachzeitschrift „epd-Film“ erklärt. Die Regie verdeutlicht das in einer Schlüsselszene, in der nicht nur Rama, sondern alle Frauen im Gerichtssaal zu Tränen gerührt sind durch weitere Erkenntnisse zu dem tragischen Fall.

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