Hinter Gittern

Zum Thema
Psychisch Kranke
Absondern und wegschließen – das war in El Salvador lange die einzige Therapie für psychisch Kranke. Das ändert sich nun langsam. Ein Besuch in der einzigen Psychiatrie des Landes.

Die verwaschenen Schlafanzüge waren irgendwann, vor langer Zeit, rosarot. Die drei Frauen, die sie tragen, warten an der Tür darauf, dass eine Krankenpflegerin vorbeikommt und aufschließt. Nicht dass sie ausgehen könnten. Sie wollen nur ihre Hände durch die Gitterstäbe strecken und die Vorbeikommenden grüßen. Zwei haben sich dezent geschminkt, ihre Haare sind frisch gekämmt. Hinter ihnen hört man Stimmengemurmel wie in einem Klassenzimmer während der Pause. Es ist halb elf Uhr am Morgen.

Zwölf der 60 Betten im Schlafsaal sind noch belegt. Es gibt keine Kissen, keine Leintücher, keine Decken. Die Frauen liegen auf braunen, mit Plastik überzogenen Matratzen. Sie scheinen tief zu schlafen. Es ist heiß, es riecht nach Urin. Ein paar Patientinnen schlurfen barfuß durch einen langen Gang. Ein Fernseher läuft, aber niemand sieht hin. Ein paar Frauen, angeleitet von Krankenpflegeschülerinnen, singen ein Kinderlied und klatschen in die Hände. Das ist die Station „agudos mujeres“, die Frauenstation für akute Fälle, in der einzigen staatlichen Psychiatrie von El Salvador.

„Dieses Krankenhaus wurde gebaut, wie man früher Irrenanstalten gebaut hat“, sagt sein Direktor Melvin Gómez. „Man hat an das Wegschließen der Patienten gedacht, nicht an ihre Genesung.“ Wenn neue Patienten mit einer akuten psychotischen Krise eingeliefert werden, kommen sie zunächst in die Notfallstation. Die Türen und die schmalen, glaslosen Fenster sind vergittert, Schreie sind zu hören. Das Personal dort wacht im Wesentlichen nur darüber, dass sich die Patienten nichts antun.

Wer hier entlassen wird, kommt – nach Geschlechtern getrennt – in die Station für akute Fälle. Dort kann man sich immerhin auf dem Gang die Beine vertreten und in den Garten im Hof schauen. Es gibt einen kleinen Saal für Familienbesuche, hin und wieder bietet das Pflegepersonal therapeutische Spiele und Übungen an. Der Trakt ist bis auf das letzte Bett belegt. In der Abteilung für chronisch Kranke liegen alte Leute, die oft schon seit Jahren dort sind und rund um die Uhr Pflege brauchen. In einem weiteren Trakt sind Häftlinge mit psychischen Problemen untergebracht. Vierzig Betten stehen dort in einem langen Gang – für derzeit 112 Patienten. „Das ist eine untragbare Situation“, sagt Arturo Carranza, der im Gesundheitsministerium die Abteilung für mentale Krankheiten leitet. „Wenn in diesem Trakt jemand gesund wird, grenzt das schon an ein Wunder. Es ist wie in den Gefängnissen.“ Die sind im Durchschnitt um 350 Prozent überbelegt. Psychisch kranke Häftlinge, die ihre Strafe abgesessen haben, werden danach dann einfach in eine andere Station verlegt.

Das psychiatrische Krankenhaus wurde 1975 außerhalb von Soyapango gebaut, damals eine Kleinstadt im Osten der Hauptstadt San Salvador. Das Gelände gehörte zur „Finca Venecia“, ein Landgut mit Obstbäumen und einem kleinen Wäldchen. Im Gesundheitsministerium hielt man den Ort für ideal, um die psychisch Kranken vom Rest der Gesellschaft zu isolieren. Doch während des salvadorianischen Bürgerkriegs von 1980 bis 1992 platzte Soyapango aus allen Nähten. Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten auf dem Land siedelten sich an, es entstanden riesige Armenviertel und Neubaugebiete mit winzigen Wohnungen in langen Reihen – „Streichholzschachtel-Siedlungen“ im Volksmund.  Soyapango hat heute 275.000 Einwohner. Um das Krankenhaus tobt der Verkehrslärm, Abgase verpesten die Luft.

Härter als Lärm und Umweltverschmutzung traf die Psychiatrie-Patienten allerdings eine Entscheidung des Gesundheitsministeriums. Vor 15 Jahren ordnete es an, die psychiatrische Klinik in ein allgemeines Krankenhaus für Soyapango umzuwandeln. Eine Poliklinik wurde eingerichtet, es folgten eine chirurgische und eine urologische Abteilung, eine Gynäkologie samt Geburtenstation. Das Personal und der Etat – in diesem Jahr 12 Millionen US-Dollar – müssen unter den verschiedenen Abteilungen aufgeteilt werden. Angesichts der hohen Kriminalitätsrate behandeln die Ärzte häufig Schusswunden und Stichverletzungen, das schluckt den größten Teil des Budgets. Die Belegung eines Bettes koste täglich zwischen 75 und 150 Dollar, rechnet Direktor Gómez vor, und ein Patient mit einer Schussverletzung bleibe mindestens eine Woche.

Die Kriminalität befördert zudem psychische Erkrankungen: Angstzustände, schwere Depressionen, Schizophrenie, Drogen- und Alkoholabhängigkeit nehmen zu. „Hier steigt niemand ohne Beklemmungen in einen Stadtbus. Wir behandeln viele Patienten, die unter solchen Angstzuständen leiden, dass sie nicht einmal mehr zur Arbeit gehen“, sagt Gómez. El Salvador hat eine der höchsten Mordraten weltweit. In der ersten Jahreshälfte wurden täglich im Durchschnitt 16 Menschen umgebracht, Tendenz steigend. In der einzigen Psychiatrie des Landes aber haben die Ärzte kaum Zeit, sich um die seelischen Folgen der Gewalt in der Gesellschaft zu kümmern. Sie sind vor allem bei Notfallgeburten und Lungenkrankheiten gefragt. Erst an dritter Stelle stehen die Fälle von paranoider Schizophrenie.

Die Entscheidung, die Klinik in ein allgemeines Krankenhaus umzuwidmen, hat die psychiatrische Abteilung viel Geld gekostet. Das bereite bis heute Probleme, vor allem beim Personal, meint Doktor Carranza vom Gesundheitsministerium. Das Krankenhaus beschäftigt 654 Mitarbeiter, 13 von ihnen sind Psychiater – für 366 Betten in der entsprechenden Abteilung. Gut 170 Krankenpflegerinnen arbeiten mal in der Psychiatrie, mal in anderen Abteilungen. Keine hat eine spezielle Ausbildung für den Umgang mit psychisch Kranken. So etwas gibt es in El Salvador nicht.

Gómez bräuchte dringend wenigstens einen Neurologen. „Ich habe die Stelle schon oft ausgeschrieben“, sagt er. „Nie hat sich jemand beworben. Die privaten Krankenhäuser bezahlen einfach besser.“ Viel schwerer noch als Neurologen sind psychiatrische Fachärzte zu finden. „In den vergangenen zwanzig Jahren haben nur sechs Psychiater ihren Abschluss gemacht“, berichtet Carranza im Gesundheitsministerium. Alle mussten dafür ins Ausland gehen, in El Salvador wird keine solche Facharztausbildung angeboten.
Zwar nennt sich die Klinik in Soyapango auch „Schule für Psychiatrie“. Es gibt aber weder einen Ausbildungsplan noch eine Universität, die einen Facharzttitel verleihen würde. Sowohl Carranza als auch Gómez hatten gehofft, die staatliche Nationaluniversität werde ihnen nach ein paar Jahren als praktizierende Psychiater den Titel geben. Doch beide mussten schließlich in Kuba ihren Facharzt machen.

Rosa Inés Aragón wohnt in La Unión, einer Provinz an der Grenze zu Honduras. Wenn die 59-Jährige mit ihrem 35-jährigen Sohn Jorge einen Termin im psychiatrischen Krankenhaus hat, steht sie um zwei Uhr in der Frühe auf, um den ersten Bus in die gut 200 Kilometer entfernte Hauptstadt zu nehmen. „Er war schon immer nicht ganz richtig im Kopf“, erzählt sie. „Aber ich habe ihn lange nicht in die Psychiatrie gebracht, weil die Leute sagten, dort würden die Patienten festgebunden.“ Er nahm Drogen und verursachte zwei Verkehrsunfälle.

Als Jorge dann noch ein Fahrrad stahl, schickte ihn ein Richter für ein paar Monate in die geschlossene Abteilung für Gefangene in der Psychiatrie. „Ich danke Gott, dass Jorge in dieses Krankenhaus geschickt worden ist“, sagt sie. „Er hat sich ordentlich gemacht und kann jetzt sogar in einer Werkstatt arbeiten.“ Jorge hatte Glück. Er kam vom Gefangenentrakt direkt in eine vor fünf Jahren neu eingerichtete Abteilung, eine Art Übergangsstation zwischen geschlossener Einrichtung und Entlassung. Das Haus sieht aus wie eine Familienwohnung, die Patienten tragen keine Anstaltskleidung.

Autorin

Cecibel Romero

ist freie Journalistin in San Salvador.
Sie werden dort langsam auf ein Leben außerhalb der Klinik vorbereitet: Sie lernen, sich selbst und ihre Kleider zu waschen. Sie können selbst kochen, es gibt einen kleinen Fitnessraum, eine Werkstatt für Malerarbeiten und Kunsthandwerk. Zudem werden Treffen mit den Angehörigen organisiert, um sie auf die Heimkehr der Patienten vorzubereiten. „Viele der Familien glauben, die psychisch Kranken müssten nur beschützt werden und könnten selbst nichts tun“, erzählt die Sozialarbeiterin Rosa Torres. „Wir versuchen ihnen zu vermitteln, dass auch solche Menschen ihre Unabhängigkeit brauchen.“

Leichtere Fälle werden inzwischen ambulant in ihren Heimatgemeinden behandelt. Im Rahmen einer staatlichen Gesundheitsreform werden seit fünf Jahren mobile Teams für die Gesundheitsversorgung aufgebaut. Sie  besuchen regelmäßig Dörfer ohne eigenen Gesundheitsposten. Zu dreizehn dieser Einheiten gehört auch ein Psychologe – sie können nicht einmal ein Fünftel der Gemeinden besuchen. Der Psychologe kümmert sich um psychisch Kranke und entscheidet, ob sie nach Soyapango ins Krankenhaus müssen oder ob sie zu Hause behandelt werden können. „Nach der ersten psychotischen Störung werden 70 Prozent der Patienten wieder gesund“, erklärt Doktor Carranza vom Gesundheitsministerium. Sie müssten nie in die Psychiatrie.

Carranza hätte lieber Psychiater als Psychologen in den mobilen Teams. Letztere könnten zwar Diagnosen erstellen, hätten aber meist keine Ahnung von medikamentösen Behandlungen. So wird nun endlich ein Studienplan für eine entsprechende Facharztausbildung erarbeitet. Es tut sich also etwas im Umgang mit psychisch Kranken in El Salvador. In der Bevölkerung hält sich allerdings noch der Spott: „Alle, die auf der Insel der Träume und Wahnvorstellungen bleiben, müssen hier aussteigen“, rufen die Busfahrer, wenn sie am  Krankenhaus von Soyapango anhalten.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2015: Gesundheit: Ohne Fachkräfte geht es nicht
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