„Lulas Agenda ist sehr wichtig für die Welt“

Brasilien
Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat Anfang Dezember den Vorsitz der G20-Gruppe übernommen, auch am UN-Klimagipfel in Dubai nimmt er teil. Welche Bilanz zieht Brasiliens Zivilgesellschaft für Lulas erstes Jahr im Amt?

Henrique Frota ist Exekutivdirektor des Polis-Instituts in São Paulo und Mitglied des ABONG-Vorstands.

Sie arbeiten im Vorstand von ABONG, einem Verband von mehr als 240 brasilianischen nicht-staatlichen Organisationen. Können Sie kurz erklären, welche Arbeitsschwerpunkte ABONG hat? 
Brasilien hat eine sehr engagierte Zivilgesellschaft mit sehr vielen Organisationen, die in ganz verschiedenen Bereichen arbeiten. Auch unsere Mitgliedsorganisationen haben unterschiedliche Schwerpunkte, zum Beispiel Umwelt, humanitäre Hilfe, Feminismus, soziale oder ländliche Entwicklung. Aber sie alle haben gemeinsam, dass sie sich für die Menschenrechte und die Verteidigung der Demokratie einsetzen. ABONG gibt es schon seit 32 Jahren, es ist eine der wichtigsten Organisationen der Zivilgesellschaft. 

Am 1. Dezember hat Brasilien den Vorsitz der G20-Gruppe von Indien übernommen. Sie arbeiten bei ABONG als Koordinator der Gruppe der Zivilgesellschaft (C20) innerhalb des G20-Prozesses. Was erwartet die Zivilgesellschaft von der brasilianischen G20-Präsidentschaft?
Präsident Lula hat bereits seine Prioritäten für Brasiliens G-20 Vorsitz angekündigt: Das ist zum einen die Bekämpfung von Hunger, Armut und Ungleichheit, zum zweiten die Energiewende und nachhaltige Entwicklung und drittens eine Reform der Weltordnung. Lula engagiert sich bereits in verschiedenen Task Forces, etwa der globalen Allianz gegen Hunger und Armut. Das sind sehr traditionelle Themen für ihn, aber er ist sich inzwischen auch stärker der Klimakrise bewusst. Das reicht aber nicht. Wir als Zivilgesellschaft müssen den Präsidenten und alle G20-Mitglieder dazu bringen, sich damit zu beschäftigen, wie wir der Klimakrise begegnen können. Und dabei darf es nicht nur um ökonomische Auswege gehen, sondern vor allem um Klimagerechtigkeit und eine soziale und in den Kommunen verankerte Transformation der Gesellschaft. 

Wird Präsident Lula denn als G20-Vorsitzender etwas bewirken können? 
Wir haben ein gutes Gefühl, dass Brasilien den G20-Vorsitz hat. Aber wir wissen, dass gute Ergebnisse nicht allein davon abhängen, sondern von Konsens. Und den gibt es bei den G20-Mitgliedern in vielen wichtigen Punkten wie der Energiewende und der sozialen Transformation leider nicht. C20, also die Arbeitsgruppe der Zivilgesellschaft, hat seit ihrer Gründung zehn Jahre Arbeit hinter sich. Wir haben viele gute und konkrete Vorschläge erarbeitet, die wir bei den G20-Treffen einbringen können.

Vergangenen Donnerstag ist der Klimagipfel COP28 in Dubai gestartet. Dort will Lula einen Plan vorstellen, wie degradiertes Weideland renaturiert werden kann. Was halten Sie von diesem Plan? Und: Fühlt sich die Zivilgesellschaft durch ihn gut repräsentiert?
Ja, Präsident Lula ist eine starke Führungspersönlichkeit, seine Präsenz bei der COP28 wird sehr wichtig sein. Das war sie schon bei der Klimakonferenz vergangenes Jahr, obwohl er zu dieser Zeit noch gar nicht als Präsident vereidigt war. Für Brasilien ist das wichtigste politische Ziel, die Entwaldung zu reduzieren. Denn das ist Brasiliens schädlichster „Beitrag“ zur Klimakrise. Die Zahlen in diesem Jahr belegen, dass wir die richtigen Wege eingeschlagen haben und die Entwaldung sinkt. Aber es geht nicht nur darum, es geht auch um Themen wie Energieversorgung und Mobilität. Unsere Behörden sagen, dass wir unsere Energieversorgung nicht umbauen müssen, denn sie basiert zu großen Teilen schon auf Wasser, Wind und Sonne. Aber unser Mobilitätssystem hängt noch sehr von fossilen Treibstoffen ab. Und da 85 Prozent der Brasilianer in Städten wohnen, muss sich bei der Stadtentwicklung etwas ändern. Aber ja, alle Vorschläge und Ideen, die dazu beitragen die Entwaldung zu reduzieren und Weideland wiederzubeleben, sind wichtig.   

Lula ist jetzt fast einem Jahr im Amt. Welche Bilanz zieht die Zivilgesellschaft von seiner bisherigen Arbeit? 
Dieses Jahr war davon bestimmt, dass die Regierung sich sozusagen wieder erholt. Wir dürfen nicht vergessen, dass Lulas Regierung noch mit dem Haushalt arbeitet, der unter seinem Vorgänger Jair Bolsonaro verabschiedet wurde. Es gibt also nicht so viel Geld und die Restrukturierung der Regierung hat viel Zeit gekostet. Aber wir sehen, dass vieles, was unter der Vorgängerregierung kaputt gemacht wurde, wieder erneuert wird. Auch wir als Zivilgesellschaft dürfen uns wieder deutlich mehr beteiligen - in Räten, in Konsultationen. Aber es gibt auch Probleme. Lula bekommt im Parlament viel Widerstand, etwa weil ein Großteil der Abgeordneten noch der rechtsgerichteten Partei von Jair Bolsonaro angehört. Deswegen ist es für ihn schwieriger als in seiner ersten Amtszeit, Gesetze zu verabschieden. 

Nichtsdestotrotz fordern Sie Lula zu entschiedenerem Handeln auf?
Ja, wir als Zivilgesellschaft kennen die Probleme. Trotzdem treiben wir die Regierung an, mehr zu tun. Zum Beispiel hat sie ihre Klimaanpassungsstrategie vorgelegt, aber wir sind der Meinung, dass Lula mehr tun müsste in Bezug auf „Klimarassismus“: hier in Brasilien leiden schwarze und indigene Gemeinden stärker unter der Klimakrise als andere. Die Uhr tickt und die drei Jahre, die Lula noch hat, vergehen sehr schnell. Die Demokratie ist so fragil und wir wissen nicht, ob Lulas Agenda nach der nächsten Wahl weiterbesteht. Deswegen müssen wir möglichst viel in den nächsten Jahren erreichen. Wir haben gerade in Argentinien gesehen, wie schnell so ein Politikwechsel gehen kann. Die rechtsgerichteten Populisten sind eine sehr starke Macht. 

Genau wegen diesem Politikwechsel in Argentinien glauben viele Experten, dass Kanzler Olaf Scholz und die EU bei Lulas Deutschlandbesuch den Abschluss des Mercosur-Abkommens vorantreiben wollen. Glauben Sie, dass Lula es unterzeichnen wird? 
Brasilien hat noch nie ein solches Handelsabkommen unterzeichnet. Die meisten Debatten hier in Brasilien drehen sich darum, wie Brasilien besser seine Agrarprodukte verkaufen kann. Es gibt in Brasilien jede Menge Kritiker des Abkommens. Im Dezember wird Paraguay den Vorsitz des Mercosur-Blocks übernehmen. Dessen Präsident hat angekündigt, die Gespräche endgültig abzubrechen, wenn bis dahin keine Einigung erzielt wurde. Ich denke nicht, dass in dieser kurzen Zeit noch eine Einigung erzielt werden kann, immerhin wird über dieses Abkommen schon seit mehr als 20 Jahren verhandelt. Und ich glaube auch nicht, dass der zukünftige Präsident Argentiniens ein Interesse an diesem Abkommen hat. 

Und wie beurteilt die Zivilgesellschaft Lulas Außenpolitik? Setzen Lula und sein Team die richtigen Prioritäten und treffen den richtigen Ton, etwa was als die vielen Krisen und Konflikte angeht? Lula wollte dem globalen Süden ja mehr Gewicht verleihen…
Ich glaube, Lula ist eine wichtige internationale Führungsfigur – vor allem für den globalen Süden. Ich habe das Gefühl, er ist sehr bemüht, die bestehende Weltordnung zu reformieren. Er ist zum Beispiel gegen die Veto-Rechte der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, er hält sie für unfair und undemokratisch. Da er international sehr anerkannt ist, hat er viele Möglichkeiten verschiedene Länder zusammenzubringen – er ist engagiert bei Mercosur, bei BRICS, bei den G20. Ich denke, seine Agenda ist sehr wichtig für die Welt. Wir haben ihn immer als Führungsfigur des globalen Südens betrachtet, aber inzwischen ist er auf der ganzen Welt anerkannt und geschätzt. Er stößt viele wichtige Debatten darüber an, was die Welt tun oder lassen sollte. Und die Menschen sind sehr zufrieden damit, wie er sich für humanitäre Hilfe im Nahen Osten engagiert. 

Glauben Sie, dass er dort Frieden vermitteln könnte? 
Vielleicht in Israel und Palästina. Er hat ja versucht in der Ukraine zu vermitteln, aber das wurde vom Westen abgelehnt. Deswegen hält er sich da jetzt zurück, er weiß wo seine Grenzen sind. 

Das Gespräch führte Melanie Kräuter.  

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