In Europa nicht willkommen

Wenn es um die Verletzung von Menschenrechten geht, geht es (meist) nicht um Europa. Dann blicken wir Europäer in Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, in denen Willkür und Unterdrückung herrschen. Dabei werden an unseren Grenzen jeden Tag Menschenrechte verletzt – in Griechenland, Italien, Spanien, Malta und Zypern. Dort, schreibt Karl Kopp im August 2012, sind Haft und Elendslager häufiger Willkommensgruß für diejenigen, die gerade ihr Leben riskiert und oftmals verloren haben. Kopp mahnt zu Recht: Von einer Asylpolitik, die die Menschenrechte achtet, ist Europa weit entfernt. Lesenswert, meint Tanja Kokoska von "welt-sichten"-Online.

Mehr als 300.000 Menschen baten im vergangenen Jahr in der Europäischen Union um Asyl. Drei von vier Anträgen, über die 2011 in erster Instanz entschieden wurde, wurden abgelehnt. Die zuständige EU-Innenkommissarin, Cecilia Malmström, zog zu Beginn dieses Jahres eine bittere Bilanz: „Die europäischen Versprechen, Menschen in Not zu helfen, wurden in jüngster Zeit gründlich auf die Probe gestellt, und Europa hat bei dieser Prüfung kollektiv versagt.“

Besonders deutlich wird das im Umgang mit denen, die sich auf altersschwachen und völlig überfüllten Booten auf den Weg von Nordafrika nach Europa machen. Jahr für Jahr gleichen sich die Bilder: Verzweifelte, halb verdurstete und ausgemergelte Menschen, von denen 2011 über 2000 ihre Flucht mit dem Leben bezahlten. Nach Angaben der europäischen Grenzschutzagentur Frontex erreichten 2011 knapp 70.000, 2010 nur 14.000 und 2009 knapp 47.000 Bootsflüchtlinge die europäischen Küsten.  Berichte über unterlassene Hilfeleistung durch Militär- und Polizeiverbände oder kommerzielle Schiffe mehren sich. Wären die ertrunkenen Bootsflüchtlinge Touristen oder EU-Bürger gewesen, wären die meisten von ihnen rechtzeitig gerettet worden. In einem Bericht vom März 2012 beklagte der Europarat die Mitverantwortung der Staaten Europas an dem Massensterben auf See und  spricht von Tod durch „kollektives Versagen“.

Der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, António Guterres, appellierte seit März vergangenen Jahres immer wieder an die EU-Staaten, Flüchtlinge aus Libyen sowie Schutzsuchende aus Eritrea und Somalia aufzunehmen. Er verwies darauf, dass das kleine Tunesien  mehrere Hunderttausend Flüchtlinge aufgenommen habe. Doch alle Appelle für ein europäisches Programm zur Ansiedlung von Flüchtlingen (Resettlement) stießen in Berlin und bei anderen europäischen Regierungen lange Zeit auf Ablehnung.

Erst im vergangenen Dezember fasste die deutsche Innenministerkonferenz einen Beschluss: In den nächsten drei Jahren ist Deutschland bereit,  jeweils 300 Flüchtlinge aus Drittstaaten pro Jahr aufzunehmen. In diesem Jahr sind das 200 Menschen aus Subsahara-Afrika, die nach ihrer Vertreibung aus Libyen zunächst in einem Lager auf der tunesischen Seite der Grenze untergekommen waren. Im Herbst kommen 100 irakische Flüchtlinge aus der Türkei hinzu. Ein erster Schritt, aber ein äußerst bescheidene humanitäre Geste.

Autor

Karl Kopp

ist Europa­refe­rent der Flüchtlings­hilfs­organisation Pro Asyl.
Für einen Lichtblick sorgte der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg im Februar dieses Jahres: Er verurteilte die Absprachen der früheren italienischen Regierung unter Silvio Berlusconi mit dem libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi. Rückblick: Die italienische Küstenwache hatte ab 6. Mai 2009 Hunderte Bootsflüchtlinge in die „libysche Hölle“ (O-Ton einer Flüchtlingsfrau aus Eritrea) zurückverwiesen. Den Boden für diese Kooperation bei der Flüchtlingsabwehr hatte der im August 2008 unterzeichnete „Vertrag über Freundschaft, Partnerschaft und Kooperation“ bereitet. Darin entschuldigte sich Italien für Verbrechen aus der Kolonialzeit und leistete finanzielle Kompensation. Im  Gegenzug verpflichtete sich Libyen, Flüchtlinge an der Weiterflucht nach Europa zu hindern. Der damalige italienische Innenminister Roberto Maroni bejubelte die Zurückweisungsaktionen und sprach von einem „historischen Tag“ im Kampf gegen „illegale Einwanderung“ und von einem „Modell für Europa“. Dabei hätte Italien die Bootsflüchtlinge nicht nach Libyen zurückschicken dürfen, weil ihnen dort eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung drohte. Beteiligte italienische Beamte berichteten denn auch voller Scham von den unmenschlichen Maßnahmen.

In den Auffanglagern in Libyen kam es laut dem EU-Parlament regelmäßig zu Misshandlungen, Vergewaltigungen, Folter und Ermordungen. Der Menschenrechtskommissar des Europarates, die Kirchen, der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen verurteilten klar und unmissverständlich diesen Völkerrechtsbruch. Die EU-Kommission, die Mitgliedsstaaten, auch Deutschland, schwiegen hingegen. Statt die Regierung in Rom zu bestrafen, verhandelte Brüssel unter Hochdruck bis Februar 2011 mit Tripolis über ein „Kooperations- und Partnerschaftsabkommen“, um die Zusammenarbeit im Umgang mit Flüchtlingen sogar noch auszubauen.

Das wegweisende Urteil des Menschenrechtsgerichtshofes kommt für die mehr als 1000 Opfer der italienischen Zurückweisungspolitik zu spät. Viele der klagenden Flüchtlinge sind verschollen, zwei starben beim erneuten Versuch, nach Europa zu gelangen. Dennoch: Das Straßburger Urteil hat weitreichende Konsequenzen für die europäische Flüchtlingspolitik, weil es klarstellt, dass die Hohe See keine menschenrechtsfreie Zone ist. Die Verpflichtungen der Europäischen Menschenrechtskonvention machen nicht an den europäischen Grenzen halt: Staaten dürfen sich ihrer menschenrechtlichen Verpflichtung auch außerhalb ihrer Territorien nicht entziehen.

Auf Malta werden alle Schutzsuchenden inhaftiert

Wer als Flüchtling lebend die Küste Europas erreicht, wird nicht gerade mit Mitgefühl empfangen. Haft und Elendslager auf den Kanarischen Inseln, Lampedusa, Malta und Zypern und an der griechischen Grenze zur Türkei sind der Willkommensgruß für diejenigen, die gerade ihr nacktes Leben gerettet haben. Für viele Schutzsuchende aus dem Irak, aus Iran, Syrien, Afghanistan und Somalia ist die Überquerung des Grenzflusses zwischen der Türkei und Griechenland die einzige Möglichkeit, in die EU zu gelangen. Doch statt menschenwürdiger Aufnahme und fairen Asylverfahren erwarten die Flüchtlinge in Griechenland Gefängnis, Elend oder Obdachlosigkeit.

Mehr als 55.000 Menschen – darunter Tausende Kinder und Jugendliche – wurden 2011 in Lagern an der türkisch-griechischen Grenze eingesperrt. Auf der kleinen Mittelmeerinsel Malta werden alle Schutzsuchenden, auch die Überlebenden der zahlreichen Flüchtlingskatastrophen, nach ihrer Ankunft inhaftiert – Asylsuchende bis zu zwölf Monaten. Danach landen sie mehrheitlich in Containerlagern. In Ungarn kommen Asylsuchende bis zu zwölf Monate hinter Gitter, Familien mit Kindern bis zu 30 Tagen. Flüchtlinge berichten, dass sie von Wachleuten misshandelt wurden.

Doch die Entrechtung von Schutzsuchenden geht auch im Inneren der EU weiter. Nach dem europäischen Asylzuständigkeitssystem, der sogenannten Dublin-II-Verordnung, gilt das „Verursacherprinzip“: Der Staat, der die Flüchtlinge in die EU hat einreisen lassen, ist in der Regel auch für ihr Asylverfahren zuständig. Schaffen es Flüchtlinge etwa aus Italien, Ungarn oder Malta nach Deutschland oder in die Schweiz weiterzureisen, werden sie auf der Grundlage des Dublin-Systems wieder zurückgeschoben. Der Mangel an Solidarität unter den EU-Staaten führt zu einem Mangel an Solidarität und Menschlichkeit gegenüber schutzsuchenden Menschen.

Die Hauptleidtragenden dieser Politik sind Kinder. Es gibt bis heute kein grenzüberschreitendes Schutzsystem für unbegleitete Minderjährige: Mädchen und Jungen in griechischen Lagern, obdachlose afghanische Jugendliche in der Athener Innenstadt, den griechischen Fährhäfen, in den Straßen von Rom, von Paris und Calais – die Liste von Orten in Europa, an denen Kinderrechte und Flüchtlingsschutz nicht existieren, ließe sich beliebig fortsetzen. Sie sind Ausdruck einer Politik, die in jedem Dokument die Kinderrechte hochhält, in der Praxis aber zulässt, dass Tausende Kinder und Jugendliche, die allein auf der Flucht sind, schutzlos durch Europa irren.

Europa braucht ein Schutzsystem für Flüchtlingskinder. Die Organisation „Pro Asyl“ hat bereits 2010 verschiedene Pilotprojekte an den Haupteinreisepunkten von Minderjährigen vorgeschlagen. Dort müssten sie vom ersten Tag ihres Aufenthaltes in Europa menschenwürdig untergebracht werden. Gemeinsam mit dem UNHCR müsste schnell geklärt werden, in welchem europäischen Land Angehörige dieser Kinder leben und wer sich am besten um sie kümmern kann. Dann müsste die sichere Reise dorthin organisiert werden. Minderjährige, die keine Familie in Europa haben, müssten nach Kriterien des Kindeswohls – Freunde leben bereits in dem Aufnahmeland oder es existieren Flüchtlingsgemeinden, die den Neuanfang erleichtern – in andere europäische Staaten verteilt werden.

Innenminister Friedrich will Flüchtlingskinder weiterhin einsperren

Die Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland und Europa bedeutet mittlerweile, einen täglichen Kampf gegen die Inhaftierung von Asylsuchenden und ihre europaweite Verschiebung zu führen. 3000 Flüchtlinge wurden im vergangenen Jahr aus Deutschland in andere europäische Staaten abgeschoben. Sie sollen dort ihr Asylverfahren durchlaufen. In den deutschen Abschiebegefängnissen sind die Hälfte der Inhaftierten sogenannte „Dubliners“: Asylsuchende, für die sich Deutschland nicht zuständig fühlt. Sie sollen nach Italien, Ungarn oder in andere EU-Staaten abgeschoben werden, wo sie meist wieder in elenden Verhältnissen landen.

Die Verhandlungen über ein gemeinsames Asylsystem in der EU verlaufen schleppend. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich setzt sich dafür ein, das Dublin-System in seiner jetzigen Form beizubehalten. Er möchte sogar daran festhalten, Flüchtlingskinder einzusperren. Bei der Reform der Dublin-II-Verordnung schlug die EU-Kommission vor, dass unbegleitete Kinder und Jugendliche nicht mehr inhaftiert werden sollten, doch Deutschland setzte gemeinsam mit anderen Hardlinern durch, dass diese Passage gestrichen wird. Die Inhaftierung von unbegleiteten Kindern und Jugendlichen sei für die Sonderverfahren an den Grenzen, etwa das sogenannte Flughafenverfahren in Deutschland, notwendig, lautet die Argumentation.  

Darüber hinaus verhandeln die Ratspräsidentschaft, die Europäische Kommission und das Parlament über eine Neufassung der EU-Richtlinie zur Aufnahme von Asylsuchenden. Im derzeitigen Entwurf sollen sie künftig jederzeit und an jedem Ort in Europa inhaftiert werden können, wenn einer von sechs Haftgründen vorliegt. Dazu zählen etwa die Feststellung ihrer Identität, das Risiko, dass sie untertauchen könnten oder einfach die Wahrung der „nationalen Sicherheit und Ordnung“.

Mit der Kampagne „Flucht ist kein Verbrechen“ fordert „Pro Asyl“ das Europaparlament auf, diese Haftgründe zu streichen und dafür einzutreten, dass die Inhaftierung von Asylsuchenden europaweit beendet wird. Es muss Schluss sein mit dem blinden Abschieben der Verantwortung an andere EU-Staaten, in denen Schutzsuchende in Obdachlosigkeit und Elend landen. Europa braucht mehr Solidarität und Menschlichkeit bei der Aufnahme von Flüchtlingen und ein gemeinsames Asylrecht, das den gefahrenfreien Zugang zum EU-Territorium gewährt und überall in Europa faire Asylverfahren garantiert.

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erschienen in Ausgabe 8 / 2012: Auf der Flucht
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