Tunis - Der tunesische Präsident Kais Saied hat am Mittwochabend angekündigt, das Parlament aufzulösen. Er wolle die Einheit des Landes, seine Institutionen und die Bevölkerung schützen, sagte er zur Begründung bei einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates, die per Videoaufzeichnung in den sozialen Netzwerken verbreitet wurde. Saied hatte seit seinem Amtsantritt immer mehr Macht an sich gerissen und das Parlament am 25. Juli 2021 suspendiert.
Am Mittwochnachmittag hatten mehr als die Hälfte der 217 Abgeordneten eine virtuelle und live in den sozialen Netzwerken übertragene Parlamentssitzung abgehalten. Dabei verabschiedeten sie ein Gesetz, das alle Entscheidungen des Präsidenten seit Juli für ungültig erklärt. Saied kündigte daraufhin an, gegen alle Abgeordneten, die an der Sitzung teilgenommen haben, Ermittlungen wegen Staatsverrats einzuleiten. Er warf ihnen vor, einen Putschversuch unternommen zu haben, der strafrechtlich belangt werden müsse. Die Notstandsgesetzgebung, auf die sich Saied seit Juli bezieht, erlaubt weder die Suspendierung noch Auflösung des Abgeordnetenhauses.
Anstehende Verfassungsreform im Sommer
Saied war im Oktober 2019 mit fast drei Viertel der abgegebenen Stimmen im zweiten Wahlgang zum Präsidenten gewählt worden. Der parteilose pensionierte Jurist hatte im Juli zunächst Regierungschef Hichem Mechichi entlassen und das Parlament kaltgestellt. Seitdem hat er schrittweise demokratische Institutionen und Teile der tunesischen Verfassung außer Kraft gesetzt.
In Sommer soll die tunesische Bevölkerung über eine Verfassungsreform abstimmen, bevor im Dezember ein neues Parlament gewählt werden solle, so der angekündigte Fahrplan des Präsidenten. Inwiefern dieser Fahrplan nach der gestrigen Auflösung des Parlaments noch Bestand hat, war zunächst offen.