Nigeria: Entführungen als Geschäftsmodell

Tausende Menschen werden in Nigeria jedes Jahr entführt. Für Gangs sind die Verschleppungen längst ein Geschäftsmodell, frei von Ideologie. Helfen würden mehr Perspektiven für junge Menschen, sagen Fachleute.

Nairobi/Abuja (epd). Seit Wochen dominieren in Nigeria Entführungen die Schlagzeilen - wieder einmal. Besonders viel Aufmerksamkeit bekam der Fall einer Familie aus der Hauptstadt Abuja. Anfang Januar wurden ein Vater, seine fünf Töchter und eine Nichte aus ihrem Zuhause in einem Vorort entführt. Der Vater wurde freigelassen, um das Lösegeld aufzutreiben. Als das nicht rechtzeitig kam, wurde eines der Mädchen ermordet. Eine von der Regierung kritisierte Crowdfunding-Kampagne sammelte Beiträge zum Lösegeld.

„Daran zeigt sich die systematische Regierungskrise in Nigeria“, sagt der Politikwissenschaftler Shola Omotola, der an der Universität von Oye-Ekiti im Südwesten des Landes lehrt. Er hat ein Buch über die Kommerzialisierung von Entführungen geschrieben und ist sich sicher: Auch wenn die Regierung sich gegen Lösegeldzahlungen ausspricht, um Entführer nicht weiter zu ermutigen, zahlt sie doch immer wieder.

3.600 Menschen wurden nach Angaben der Konfliktbeobachtungsorganisation Acled im vergangenen Jahr in Nigeria entführt. Von einer Entführungs-Epidemie sprechen Fachleute. Sie gehen davon aus, dass die wirklichen Zahlen weit höher liegen und die Polizei oft gar nicht eingeschaltet wird. Zudem gibt es immer wieder Anschuldigungen, dass Sicherheitskräfte selbst davon profitieren und vor allem bei Verhandlungen und der Übergabe von Lösegeld einen Teil der Summe behalten. Amnesty International rief den nigerianischen Präsidenten Bola Tinubu Anfang des Jahres dazu auf, die Entführungen als nationalen Notstand zu begreifen.

Nachdem die Familie der entführten Mädchen am vergangenen Wochenende das Lösegeld von umgerechnet rund 70.000 Euro gezahlt hatte, setzten die Entführer sie in einem Wald aus, wo die Familie sie in Begleitung der Polizei abholte.

Vor wenigen Tagen nahm in der Hauptstadt Abuja eine Sondereinheit der Polizei ihre Arbeit auf, die besonders für den Einsatz bei Einführungen ausgebildet ist. Doch Sicherheitskräfte allein werden die Situation nicht lösen. Der Politikwissenschaftler Omotola macht Armut, Arbeitslosigkeit, Inflation und Korruption dafür verantwortlich. Es werde immer schwieriger für junge Menschen, über die Runden zu kommen, sagt er.

Die Geschichte der Entführungen in Nigeria beginnt Ende der 1990er-Jahre im Niger Delta. Dort hatten Ölfirmen seit den 70er-Jahren in großem Stil Öl gefördert, ohne Rücksicht auf die Umwelt oder die Anwohner zu nehmen. Bewaffnete Widerstandsgruppen fingen an, internationale Mitarbeiter der großen Firmen zu verschleppen. Erst um ihre politischen Forderungen durchzusetzen - bald aber auch, um Lösegeld zu verlangen.

Islamistische Gruppen im Norden des Landes übernahmen die Taktik. Am bekanntesten ist wohl ein Fall von 2014, als die Terrorgruppe Boko Haram mehr als 270 Schülerinnen aus einer Schule in Chibok entführte, von denen bis heute knapp 100 vermisst werden.

Seit mehr als zehn Jahren sind Entführungen zum Geschäftsmodell geworden, ganz ohne jeglichen ideologischen Hintergrund. Gangs haben sich darauf spezialisiert, Reisende entlang verlassener Autobahnabschnitte zu verschleppen. Seit die Polizei mehr Checkpoints betreibt, schauen sich die Entführer nach neuen Strategien um. Dass Leute aus ihren Häusern in der Stadt entführt werden, sei ein relativ neuer Trend, sagt Omotola. Man sehe daran, dass die Gangs sich immer akribischer vorbereiten.

Diejenigen, die von der Polizei erwischt werden, seien oft arme Schlucker, sagt der Politikwissenschaftler. Aus Gesprächen mit Entführungsopfern weiß er auch: Die Männer in direktem Kontakt mit den Verschleppten sind nur kleine Fische. Die Auftraggeber, die das Geld einsacken, bleiben im Hintergrund.

Damit sich die Situation langfristig verbessern kann, müsse die Lücke zwischen der „Nachfrage nach Demokratie“ und dem „Angebot an Demokratie“ geschlossen werden, sagt Omotola. In den 1980er- und 90er-Jahren hätten westliche Länder die liberale Demokratie als Allheilmittel verkauft, mit großen Erwartungen an soziale Sicherheit und Wirtschaftswachstum.

Statt einem funktionierenden Sozialsystem gebe es in Nigeria heute aber vor allem viele „unregierte Bereiche“, in denen die Regierung kaum präsent sei, erläutert Omotola. Um ein demokratisches Gleichgewicht zu erreichen, müsse die Regierung die lokale Produktion und Wirtschaft fördern und damit Arbeitsplätze und Perspektiven schaffen.

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