Gewalt und Schönheit in Lateinamerika

Der österreichische Journalist Erhard Stackel hat eine Auswahl sehr lesenswerter Reportagen lateinamerikanischer Kollegen herausgegeben. Sie zeichnen ein realistisches, buntes und einprägsames Bild des Subkontinents.

Wie unterscheidet man einen seriösen Menschenschmuggler von einem gewissenlosen Seelenverkäufer, der seine Klienten in der Wüste aussetzt oder an die mexikanische Drogenmafia verkauft? Ein guter „Coyote“ ist teuer, denn er hat auch das Schutzgeld an die Drogenbanden eingerechnet. Der Gewährsmann des jungen Journalisten Óscar Martínez aus El Salvador ist so einer. Er plaudert aus der Schule und erzählt, was einem auf der gefährlichen Reise von Zentralamerika in die USA alles widerfahren kann. Krude Details werden nicht ausgespart.

„Die traurige Geschichte des Mannes ohne Papiere, der verraten, erpresst und deportiert wurde“ ist eine von zehn Reportagen lateinamerikanischer Autorinnen und Autoren, die der österreichische Journalist Erhard Stackl gesammelt, ausgewählt und für diesen Band übersetzt hat. Er will zeigen, dass nach den Nobelpreisträgern Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa, nach den Erfolgsautorinnen Isabel Allende und Gioconda Belli neue Generationen herangewachsen sind, die sich auf das Schreibhandwerk verstehen. Sie stehen eher in der Tradition des US-amerikanischen „New Journalism“ als in der des in Lateinamerika begründeten magischen Realismus.

Alberto Salcedo beschreibt, wie der Kuna-Junge Wikdi jeden Tag auf einem acht Kilometer langen Urwaldpfad Kopf und Kragen riskiert, um von seinem Indio-Dorf zur Schule zu gelangen. Vor fünf Uhr muss er bei Dunkelheit los, um rechtzeitig zum Unterricht da zu sein. Zweieinhalb Stunden hin und ebenso lang zurück. Für den begleitenden Journalisten ist das ein Abenteuer, für den kleinen Kuna der Alltag.

Die Autoren lassen ihre Protagonisten ausführlich zu Wort kommen oder schildern sie detailgetreu. Es sind keine Helden, sondern Menschen, die niemand kennt. Doch in ihrem Schicksal spiegelt sich die lateinamerikanische Wirklichkeit. Gewalt spielt eine zentrale Rolle. Wie bei der Mexikanerin Yaretzi, die im Frauengefängnis sitzt und schon als Mädchen das Töten gelernt hat. Von der Polizeischule kam sie zu den Auftragskillern: „So war die Geschichte, Alter. Seit damals war Töten mein Geschäft.“

Der Tod kann auch langsam und leise daherkommen, wie in der Reportage „Tod im Zuckerrohr“ aus Nicaragua. Da sterben in einer Gemeinde auffällig viele Männer in der Umgebung von Chichigalpa an chronischem Nierenversagen. Die meisten arbeiten auf den Zuckerrohrplantagen des größten Rumfabrikanten. Die Arbeit ist hart, das Klima unerträglich heiß, beißender Rauch nach dem Abfackeln der Felder und Pestizide greifen die Gesundheit zusätzlich an. Der frühe Tod wird als Berufsrisiko in Kauf genommen, denn Alternativen gibt es kaum. Der preisgekrönte Journalist Carlos Salinas Maldonado verzichtet darauf, das von manchen Medien schnell gefällte Urteil über einen menschenverachtenden Arbeitgeber nachzubeten. Vielmehr versucht er, den vielen Ursachen der mysteriösen Krankheit nachzugehen, und lässt den Leser seine eigenen Schlüsse ziehen.

Das engagierte, aber nicht einseitige Schreiben macht die Qualität der Reportagen aus. Die Lektüre lässt einen nicht unbeteiligt. Sie hinterlässt eine dumpfe Ohnmacht gegenüber den alltäglichen Grausamkeiten – aber auch das Gefühl, den Subkontinent mit all seiner Gewalt, seinen Schönheiten und wertvollen Menschen ein kleines bisschen besser verstanden zu haben.

Ralf Leonhard

 

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