Wunden einer Nation 

Nguyen Phan Que Mai: Der Gesang der Berge. Insel Verlag, Berlin, 2021,429 Seiten, 23 Euro

In ihrem Familienepos erzählt die vietnamesische Autorin Nguyen Phan Que Mai herzzerreißend nah die Geschichte ihres Heimatlandes im 20. Jahrhundert.

Das eiskalte Wasser im Schutzbunker reicht Huong bis zum Bauch und entzieht ihrem Körper jegliche Wärme. Die Zwölfjährige klammert sich ängstlich an ihre Großmutter. Sirenen, Geschrei und das Dröhnen von Explosionen erfüllen die Straßen ihrer Heimatstadt. Huong lebt Anfang der 1970er Jahre mit ihrer Großmutter Dieu Lan in Hanoi, der Hauptstadt Vietnams. Um ihren in den Krieg gezogenen Mann zu finden, ließ Huongs Mutter ihre einzige Tochter bei der Großmutter zurück. Nun sind für das Mädchen beide – Mutter und Vater – verschollen und Huong und Dieu Lan müssen alleine um ihr Überleben kämpfen. Dieses Mal finden sie Schutz vor dem Beschuss der amerikanischen Bomber in einem mit Wasser gefüllten kleinen Bunker. Angsterfüllt harren sie darin aus, bis die Bomber abziehen. Doch Großmutter Dieu Lan weiß, dass sie in Hanoi nicht länger sicher sind. Die beiden müssen zu Fuß aus der geliebten Stadt fliehen und mehrere Tage marschieren, um auf dem Land Schutz zu suchen. 

Es ist nicht Dieu Lans erste Flucht. Geboren zur Zeit der französischen Kolonialherrschaft, musste sie in ihrer Vergangenheit unentwegt für sich und ihre sechs Kinder stark sein: täglich ihre Grenzen überschreiten, um zu überleben. „Die Herausforderungen, die das vietnamesische Volk im Laufe der Geschichte meistern musste, sind so groß wie die höchsten Berge“, erklärt sie später ihrer Enkelin Huong. „Wenn du zu nah davorstehst, kannst du ihre Gipfel nicht sehen. Doch wenn du von den Strömungen des Lebens zurücktrittst, wirst du alles überblicken…“ 

Brutale Szenen und bezaubernde Beschreibungen

Großmutter und Enkelin treten in Que Mais Roman gemeinsam zurück. Sie blicken auf ihre Vergangenheit, die eng mit der Geschichte Vietnams verbunden ist. Die Erzählungen von Dieu Lan und Huong wechseln sich kapitelweise ab und umfassen einen Zeitraum von 1930 bis 2017. Großmutter und Enkelin führen die Leserinnen und Leser so durch die französische und japanische Besetzung Vietnams, durch die anschließende große Hungersnot und durch die Zeit der Landreform. Sie beschreiben den Krieg, der das Land in Norden und Süden trennte, und die Folgen dieses 20 Jahre andauernden Konfliktes bis heute. Autorin Nguyen Phan Que Mai gelingt es, durch die fiktiven Charaktere die echte Historie Vietnams nahbar und eindrücklich zu erzählen: Die Leserinnen und Leser fühlen mit den Figuren und ihrem Schicksal mit, teilen deren Schmerz und Freude.

Die Grausamkeit der gewalttätigen Konflikte und die daraus erwachsenden psychischen Belastungen werden dabei in aller Härte deutlich. Das Buch ist daher nur Lesenden zu empfehlen, die mit Beschreibungen von Kriegs-, Sterbe- oder auch Folterszenen umgehen können. Die geschilderte Brutalität bildet einen starken Kontrast zu den bezaubernden Beschreibungen der vietnamesischen Natur und Kultur: Die so besonders erscheinenden Früchte, für die es meist nicht einmal deutsche Bezeichnungen gibt, die gut gemeinten Sprichwörter der Großmutter und die Liebe, die alle Familienmitglieder füreinander empfinden, machen „Der Gesang der Berge“ trotz aller Schilderungen grausamer historischer Ereignisse zu einem bejahenden Leseerlebnis. Denn Hoffnung, Zusammenhalt und Respekt vor allen Menschen bleiben für Dieu Lan und Huong stets die wichtigsten Gebote.

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