Die weiße Brille ablegen

Charlotte Wiedemann
Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt, PapyRossa, Köln 2012,
185 Seiten, 12,90 Euro

Charlotte Wiedemann untersucht in ihrem Buch, wie der Journalismus die Weltsicht prägt. Dabei greift sie auf ihre Erlebnisse als Auslandsreporterin in Asien, Afrika und dem Mittleren Osten zurück. Ein spannendes Buch zwischen Medienkritik und Reisebericht.

In den Nachrichten ist oft die Rede von der „Islamischen Welt“. Eine leere Worthülse findet Wiedemann, denn eine solche Welt gebe es bei genauerer Betrachtung nicht. Die Journalistin stellt mit ihren Eindrücken aus Pakistan, dem Jemen und Saudi-Arabien ein differenziertes Bild des Islam dagegen. Sie hat aus vielen islamisch geprägten Ländern berichtet, auch aus dem Iran. Dort traf sie auf Menschen wie die junge, erfolgreiche aber unpolitische Akademikerin, die nicht so recht in das Bild von einer frauenfeindlichen und fundamental-religiösen Gesellschaft passen will.

Wiedemanns These: der Westen – allen voran die Massenmedien – ist unfähig, die Vielfalt des Islam darzustellen. Als ähnlich irreführend entlarvt Wiedemann Schlagwörter wie „das schwarze Afrika“ oder „Hungerrevolten“, die den Menschen jede Individualität und Handlungsfähigkeit absprechen. Sie geht der Frage nach, wie solche globalen Trugbilder und interkulturellen Täuschungen entstehen. Ihre Kritik gilt vor allem den sogenannten „Gatekeepern“ der Medien, jenen Redakteuren und Programmmachern, die bestimmen, welche Wirklichkeitsschnipsel das Publikum erreichen.

Zu oft werde dabei unnötig dramatisiert, zugespitzt und generalisiert, auf Kosten der journalistischen Sorgfaltspflicht. Besonders bei Berichten aus dem Ausland würden die Verhältnisse verzerrt dargestellt. Viele Redaktionen scheuten sich, von bestehenden Deutungsmustern abzuweichen, schreibt Wiedemann, die als angestellte Redakteurin und als freie Journalistin gearbeitet hat. Gerade in der Darstellung Afrikas griffen viele Medien immer wieder auf bewährte Assoziationen und Bilder zurück. Die eurozentrische Sichtweise werde so Tag für Tag in den Massenmedien reproduziert, das Publikum einer schleichenden Gehirnwäsche unterzogen. 

Die Pflicht, diesen „weißen“ Blick auf die Welt aufzubrechen, sieht die Journalistin zuallererst bei sich selbst. Viele persönliche Episoden in ihrem Buch handeln von den Versuchen, sich bei Recherchen nicht von vorgefertigten Überzeugungen und vorschnellen Urteilen leiten zu lassen. Die selbstkritisch beschriebenen Irrtümer und Zweifel zeigen, wie schwer das sein kann. Deutlich wird auch, wie beidseitige Zuschreibungen oft das Verständnis zwischen den Reportern und denen, über die sie berichten, erschweren.  

Wiedemann lässt die Leserinnen und Leser in ihrem Buch hinter die Kulissen des Auslandsjournalismus blicken. Sie reflektiert, wie sich die Arbeitsbedingungen auf die Berichterstattung auswirken, wie entscheidend beispielsweise verlässliche und fähige Dolmetscher sind. Auch die Frage, welche ethische Verantwortung Journalisten gegenüber ihren Gesprächspartnern haben, diskutiert Wiedemann anhand eigener Erlebnisse. Sie plädiert für einen Journalismus, der die Menschen respektiert und sie nicht nur als Objekte behandelt, die in einer Geschichte „für etwas“ stehen müssen.

Journalisten sollten sich außerdem der Grenzen der eigenen Erkenntnisse und der Relativität ihrer Urteile bewusst werden. Auf dem Weg dorthin fordert Wiedemann zu einem kritischeren Umgang mit Medien auf. Ihrem eigenen Berufsstand legt sie mehr Selbstreflektion ans Herz. In ihrem Buch macht sie das in durchgängig intelligenter und unterhaltsamer Weise vor. 

Sebastian Drescher 

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