Die Karriere der Slums

Wie Elendsviertel auf die Kinoleinwand kommen

Von Reinhard Kleber

Lange hatte sich die filmische Darstellung von Slums auf Mitleid heischende TV-Reportagen und auf kurze pittoreske Visiten in Abenteuerfilmen beschränkt. Doch dann markierten zwei Filme entscheidende Wendepunkte, indem sie Slums zum zentralen Schauplatz von Spielfilmen machten: „City of God“ (2003) und „Slumdog Millionaire“ (2009). „City of God“ von Fernando Mereilles ist ein meisterhaft inszeniertes Sozialdrama, das in den Favelas von Rio de Janeiro angesiedelt ist. In einer Maßstäbe setzenden, hochdynamischen Bildsprache zeigt Mereilles den gnadenlosen Kampf ums Überleben in einem extrem gewalttätigen Mikrokosmos. Die authentische Atmosphäre entstand vor allem dadurch, dass er acht Wochen an Originalschauplätzen mit jungen Laien drehte, die er zuvor vor Ort rekrutiert hatte. Mit ihnen probte er sechs Monate, allerdings ohne Drehbuch: Die meisten Dialoge formulierten die Darsteller selbst.

Aber erst der Kinohit „Slumdog Millionaire“ über einen jungen Mann aus den Slums von Mumbai, der bei der indischen Version der TV-Quiz-Show „Wer wird Millionär?“ den Hauptpreis gewinnt, machte den Slum als filmischen Handlungsort gleichsam salonfähig. 2009 erhielt die mitreißende Verfilmung des Romans „Rupien! Rupien!“ des indischen Diplomaten Vikas Swarup acht Oscars. Der Film des britischen Regisseurs Danny Boyle und seiner indischen Kollegin Loveleen Tandan spielte weltweit mehr als 260 Millionen Euro ein, löste aber auch kontroverse Debatten aus.

In Indien warf man Boyle vor, er zeige Missstände wie Armut, Korruption und Machtmissbrauch allzu deutlich und würdige so das Land herab. Im Westen entwickelte sich dagegen eine Debatte über den Umgang mit den jungen Laiendarstellern, die zur Oscar-Verleihung nach Los Angeles flogen und danach in ihre Slums zurückkehren mussten. Nachdem die Behörden die Hütten der Kinderstars Rubina Ali Qureishi und Azharuddin Ismael Shaikh zerstört hatten, stellte Boyle je 38.000 Euro für neue Wohnungen bereit. Zudem gründete er eine Stiftung, die die Jungstars bis zur ihrem 18. Lebensjahr finanziell unterstützen soll.

Der Zuschauer hat keine Zeit zum Verschnaufen

In den Favelas von Rio spielt auch der brasilianische Action-Thriller „Tropa de Elite“, der 2008 den Goldenen Bären der Berliner Filmfestspiele gewann und nicht nur dort auf Widerspruch stieß. José Padilhas Debütspielfilm handelt vom Kommandeur einer brutalen Sondereinheit der Polizei, die 1997 gegen den organisierten Drogenhandel kämpft. Weil seine Frau ein Kind erwartet, will sich Nascimento zurückziehen, muss aber erst seinen Nachfolger bestimmen. In Brasilien gilt die Titelfigur als Volksheld, der vielfach wie Superman bewundert wird. Der Regisseur wurde in seiner Heimat aber auch mit dem Vorwurf konfrontiert, die Gewalt zu verherrlichen und eine plumpe Law-and-Order-Mentalität zu propagieren. Dabei stellt Padilha die real existierende Elite-Einheit als unmoralische Foltertruppe dar.

Leider macht der Film die behauptete Vernetzung von Drogenbanden und korrupter Polizei nur unzureichend anschaulich und blendet die sozialen Ursachen von Gewalt und Kriminalität aus. Klar herausgearbeitet ist dagegen die Rolle wohlhabender Studenten, die in den Slums Hilfsprojekte betreiben, von dort aber auch ihr Kokain beziehen. Padilha filmt dies in einem atemlosen Stakkato aus ständig bewegten Einstellungen, Reißschwenks und harten Schnitten, das eine fiebrige Atmosphäre erzeugt und in seiner visuellen Bildgewalt an „City of God“ erinnert. Weil Padilha den Zuschauern aber keine Zeit zum Verschnaufen lässt, können sie kaum Sympathien für die ohnehin flachen Figuren entwickeln.

„City of God“ und „Tropa de Elite“ markieren die Pole zweier grundverschiedener Ansätze der Darstellung von Slums in fiktionalen Filmen: Im einen wird der dramatische Plot aus den Lebensverhältnissen im Slum heraus entwickelt, im anderen dient der Slum als exotische Folie für Action- und Gewaltszenen, die auch anderswo spielen könnten. Einen dritten Weg beschreitet der klassische Dokumentarfilm, der den Überlebenskampf der Slumbewohner beschreibt. Unter Vermeidung gängiger Betroffenheitsgesten beleuchtet der Österreicher Michael Glawogger in „Megacities“ (1998) Armut und Elend in den vier Megastädten Mumbai, Mexico City, Moskau und New York, wobei er in zwölf Kapiteln gleichsam zwischen den Kontinenten hin- und herspringt. Fast beiläufig werden Strukturen der Globalisierung deutlich: Gestreifte Hemden, die Akkord-Arbeiter zu Billigstlöhnen in Mumbai nähen, sieht man später auf den Straßen von New York und Mexico City. Im Bemühen um eine schärfere Analyse der Ursachen und der Folgen der Armutsspirale überschreitet Glawogger allerdings zuweilen die Grenzen des reinen Dokumentarfilms und inszeniert notfalls einzelne Szenen nach, etwa wenn ein New Yorker Ganove seine Tricks vorführt. Das italienische Filmdrama „Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra“ von Matteo Garrone ist ebenfalls dem dokumentarischen Zugang verpflichtet. Die Verfilmung des Buchs von Roberto Saviano fügt Episoden aus dem Alltag der Camorra in Neapel zusammen, ohne eine durchgängige Handlung anzustreben. Wenn die Kamera nüchtern die Machenschaften des Fußvolks der organisierten Kriminalität in einem heruntergekommenen Wohnblock verfolgt, glaubt man sich zuweilen in einen Dokumentarfilm über einen skrupellosen Staat im Staat versetzt, der sich über das Gesetz stellt.

Tom Tykwers Film „Soul Boy“ hat Modellcharakter

Auf Realismus getrimmt ist auch der in Kibera, dem größten Slum Nairobis, angesiedelte Spielfilm „Soul Boy“, den Tom Tykwer mit einem Mini-Budget von 60.000 Euro produziert hat. Gedreht wurde der 60-minütige Film, der aus einem Filmworkshop in Nairobi hervorging, in Suaheli und dem örtlichen Dialekt Sheng von der ghanaisch-kenianischen Regiedebütantin Hawa Essuman. Die Laiendarsteller stammen aus kenianischen Slums. Das Konzept entwickelte Tykwer mit dem kenianischen Autor Billy Kahora. Im Mittelpunkt steht der 14-jährige Abila aus Kibera, der sieben schwierige Aufgaben lösen muss, um die Seele seines Vaters zu retten, die dieser bei einer Hexe verspielt hat.

Für Tykwer war besonders wichtig, „dass die Menschen, die da leben, einen Film über sich machen, über ihre Mythologien, Märchen und Geheimnisse“. Für die Dreharbeiten nahm er einige deutsche Filmprofis mit, die die örtlichen Kräfte dann anleiteten. Indem „Soul Boy“ Slumbewohner und andere Kenianer vielfältig in den Produktionsprozess eingebunden hat, hat dieses Projekt eine hohe Stufe der Partizipation erreicht. Der Film hat übrigens Modellcharakter. Die von Tykwer und seiner Lebensgefährtin Marie Steinmann gegründete Initiative One Fine Day Films will ihre Kulturarbeit in Afrika fortsetzen und plant den nächsten Film in Kibera. Das Goethe-Institut Nairobi, das auch „Soul Boy“ unterstützt hat, hat bereits eine Autorenworkshop veranstaltet.

Es wäre schön, wenn das Beispiel Tykwers, lokalen Filmschaffenden in Entwicklungsländern eine Stimme zu geben, Schule machen würde. Doch gewiss ist es nicht. Das Beispiel „Slumdog Millionaire“ zeigt aber, dass unter den wachsamen Augen einer globalisierten Öffentlichkeit Filmemacher anscheinend zunehmend geneigt sind, sich ernsthaft mit Slums zu befassen und diese nicht mehr nur als wohlfeile Kulissen für spektakuläre Action-Szenen zu instrumentalisieren.

Reinhard Kleber ist Journalist in Bonn. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte sind Filme, die sich mit Entwicklungsländern befassen oder dort entstanden sind.

erschienen in Ausgabe 8 / 2010: Metropolen: Magnet und Molloch

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