Gefangen in der Schule des Verbrechens

Menschenrechte von Häftlingen
Zahlreiche internationale Pakte sollen die Rechte von Häftlingen schützen. Doch viele Länder verstoßen
dagegen – nicht nur im globalen Süden.

Sie haben einen großen Namenspatron: Die sogenannten Nelson-Mandela-Regeln legen Mindeststandards für menschenwürdige Haftbedingungen fest. Die UN-Generalversammlung hat die 122 Richtlinien in einer erweiterten und aktualisierten Form im Dezember 2015 einstimmig verabschiedet; die Staaten haben sich also verpflichtet, sie einzuhalten. Dasselbe gilt für die „Bangkok Rules“ und die „Havanna Rules“, die die speziellen Bedürfnisse von Frauen und Kindern berücksichtigen.

Verstöße sind dennoch häufig. Doch die Missstände hinter Gittern werden vor allem dann deutlich, wenn Häftlinge eine blutige Revolte anzetteln oder Menschenrechtler grausame Fälle von Folter aufdecken. Viele Frauen, Männer und auch Kinder leiden im Verborgenen.

Warum sind Gefängnisse in vielen Ländern überfüllt?

Knast zu vermieten: In den Niederlanden hat sich die Zahl der Gefangenen in zwischen 2006 und 2016 fast halbiert; von 125 auf 69 Häftlinge pro 100.000 Einwohner. In den vergangenen Jahren mussten zahlreiche Gefängnisse wegen Leerstand geschlossen werden, in einem ist jetzt ein Hotel untergebracht. Und zwei Haftanstalten vermietet das Land an Norwegen und Belgien. Denn deren Einrichtungen platzen aus allen Nähten, genau wie die von rund 120 weiteren Ländern weltweit. Vor allem in den Ländern des globalen Südens, aber auch in den USA sind die Zellen zum Teil dramatisch überfüllt. Die Insassen haben keinerlei Privatsphäre und manchmal noch nicht einmal ein Bett zum Schlafen.

Die Zahl der Inhaftierten ist laut dem Bericht „Global Prison Trends 2018“ der nichtstaatlichen Organisation Penal Reform International (PRI) seit 2005 weltweit um ein Fünftel auf rund 10,3 Millionen gestiegen. Nur in Europa sank sie um denselben Prozentsatz, auch dank der Niederlande. Die meisten Insassen sind erwachsene Männer, lediglich sieben Prozent der Häftlinge sind weiblich. Dafür ist ihre Zahl besonders stark gewachsen, sie hat sich in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt. In Afrika und Indien werden besonders häufig die Armen und Benachteiligten hinter Gitter gebracht, in den USA und Brasilien die Schwarzen und Menschen gemischter Abstammung, in Australien die Indigenen. Armut erhöhe auf allen Ebenen des Justizsystems die Wahrscheinlichkeit, ins Gefängnis zu kommen, erklärte der damalige UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Ra’ad Al-Hussein, im vergangenen Jahr.

Autorin

Gesine Kauffmann

ist Redakteurin bei "welt-sichten".
Die Gründe für die Überfüllung von Gefängnissen: Viele Menschen sitzen wegen kleinerer Vergehen wie Ladendiebstähle oder – bei Frauen – anstößigem Verhalten hinter Gitter, oder weil sie nicht in der Lage sind, ihre Rechnungen zu bezahlen. Für schwere Verbrechen werden laut der Organisation PRI in vielen Ländern zunehmend längere Strafen verhängt, fast eine halbe Million Menschen büßt derzeit lebenslang. Drogenhändler und Süchtige werden nicht nur in den Philippinen besonders oft mit Freiheitsentzug bestraft. Dieses Schicksal teilen auch viele Frauen, die bei dem Versuch, sich als Drogenkurierinnen etwas Geld dazuzuverdienen, geschnappt werden (siehe Seite 24).

Was tun gegen die Platznot? Einige Regierungen bauen schlicht neue Haftanstalten – darunter die Türkei, die freilich auch besonders viele Zellen braucht angesichts der Zehntausende Menschen, die seit dem Putschversuch 2016 verhaftet worden sind. Nicht weniger als 228 Gefängnisse sollen in den kommenden fünf Jahren dazukommen. Auch Nigeria hat jüngst den Bau von sechs „ultramodernen“ Haftanstalten angekündigt. Experten halten das jedoch für eine kurzsichtige Lösung. Zielführender sei es, wie die erfolgreichen Niederlande alternative Formen des Strafvollzugs zu entwickeln und weiter auszubauen – und zunächst einmal dafür zu sorgen, dass weniger Untersuchungshäftlinge lange Zeit im Gefängnis ausharren müssen.

Warum sitzen viele Menschen ohne Gerichtsurteil hinter Gittern?

Eher absurd mutet ein Bericht aus Indien an: Dort konnten zwischen September 2014 und Februar 2015 mehr als 82.000 Tatverdächtige nicht vor dem Untersuchungsrichter erscheinen, weil zu wenige Polizisten abkömmlich waren, um sie dorthin zu eskortieren. Da ist es nicht verwunderlich, dass laut Amnesty International in Indien besonders viele Menschen hinter Gittern sitzen, die entweder auf ihren Prozess warten oder noch mittendrin sind: Sie stellen gut zwei Drittel der Insassen. Weltweit liegt der Anteil bei einem Drittel. Diese Menschen müssen als unschuldig gelten – so lange, bis das Gegenteil bewiesen ist. Und viele sind es tatsächlich auch.

Nach internationalem Recht ist Untersuchungshaft nur zulässig, wenn ein begründeter Tatverdacht vorliegt und das Risiko besteht, dass die oder der Verdächtige ein weiteres Verbrechen begeht oder flieht. Sie sollte zudem so kurz wie möglich dauern. Die Länge der Untersuchungshaft variiert Studien zufolge stark: von durchschnittlich vier Monaten in den Ländern der Europäischen Union bis zu drei Jahren in Nigeria.

Ärmere und ungebildete Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, kennen oft ihre Rechte nicht. Sie können keinen Rechtsanwalt bezahlen und haben meist auch zu wenig Geld, um gegen Kaution auf freien Fuß zu kommen. Unter einer langen Untersuchungshaft leiden auch die Familien der Inhaftierten. Sie verlieren oft ihren Hauptverdiener und sind schlecht angesehen, weil ein Angehöriger im Gefängnis sitzt. Der Ruf bleibt ruiniert – auch wenn der Verdächtigte sich dann doch als unschuldig erweist.

Laut den Experten von PRI versuchen mehrere Länder inzwischen gegenzusteuern: Liberia, wo schätzungsweise knapp zwei Drittel der Inhaftierten noch auf ihren Prozess warten, hat eine juristische Taskforce ins Leben gerufen, die die Fälle sorgfältig prüft. Kolumbien hat ein Gesetz beschlossen, laut dem die Verfahren bei harmloseren Vergehen beschleunigt werden, einen ähnlichen Weg wollen Bolivien und Ägypten gehen.

Alternativen zur U-Haft wären, Beschuldigte gegen eine erschwingliche Kaution freizulassen, ihnen Pässe oder Personalausweise abzunehmen und so zu verhindern, dass sie das Land verlassen, ihnen regelmäßige Kontakte zur Polizei oder zu Sozialbehörden aufzuerlegen, oder elektronische Fußfesseln und Ausgangssperren. Das würde auch Geld sparen: Laut Studien aus den USA kostet die Untersuchungshaft den Staat im Jahr 13,6 Milliarden US-Dollar.

Welche Alternativen zum Strafvollzug gibt es und wo werden sie genutzt?

Auch bei verurteilten Tätern haben die Gerichte eine Reihe von anderen Sanktionsmöglichkeiten anstelle einer Haftstrafe. Zum Beispiel Ruanda: Hier konnten bis 2017 Täter des Genozids von 1994 zu gemeinnütziger Arbeit, also zum Bau von Straßen, Brücken, Krankenhäusern oder Schulen, statt zu Gefängnis verurteilt werden. Im vergangenen Jahr wurde das Programm auf Menschen ausgeweitet, die weniger schwerer Vergehen für schuldig befunden werden. Damit, so Justizminister Evode Uwizeyimana, erreiche man zwei Dinge gleichzeitig: Die überfüllten Gefängnisse und damit der Staatshaushalt würden entlastet. Und die Verurteilten hätten eine bessere Chance, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren und ihr Leben in den Griff zu bekommen.

Sozialarbeit, Hausarrest mit elektronischer Fußfessel, Geld- oder Bewährungsstrafen statt Knast: Genau darauf haben die Niederländer mit Erfolg gesetzt. Doch dieses Vorbild setzt sich laut Experten nur langsam durch. Dabei ist seine Wirksamkeit wissenschaftlich belegt. Laut Studien etwa aus Australien und Nordirland war das Risiko, erneut straffällig zu werden, bei Menschen, die zu einem Arbeitseinsatz verurteilt worden waren, deutlich kleiner als bei denen, die mit Haft büßen mussten. Bei Drogenabhängigen sind Entwöhnungs- und Rehabilitationsprogramme weitaus sinnvoller als der Aufenthalt in einem Gefängnis, in dem ein schwungvoller Handel mit Heroin oder Kokain betrieben wird.

Ein weiterer Trend geht in Richtung „restorative justice“: Programme, die eine Versöhnung oder einen Ausgleich zwischen Täter und Opfer zum Ziel haben, häufig unter Beteiligung neutraler Personen wie Mediatoren, aber auch Familienmitgliedern oder Vertretern von Dorfgemeinschaften. Besonders häufig werden solche Verfahren angewendet, wenn Jugendliche mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Doch insgesamt, so das UN-Büro für Drogen und Kriminalität in einer Untersuchung von Restorative-Justice-Programmen in 31 Ländern von 2017, seien sie „in vielen Teilen der Welt noch zu wenig bekannt und werden zu wenig genutzt“.

Wie werden Kinder und Jugendliche im Gefängnis behandelt?

Für Graca Machel ist klar: „Kein Kind sollte im Gefängnis sitzen.“ Als Vorsitzende des African Child Policy Forum hat die Witwe von Nelson Mandela in diesem Sommer in Addis Abeba eine Konferenz über den Umgang der Justiz mit Heranwachsenden in afrikanischen Ländern organisiert. Trotz Fortschritten in den vergangenen Jahren sei deutlich geworden, dass „die Justizsysteme junge Menschen schlecht behandeln statt sie zu schützen“, erklärte sie in einem Beitrag für den britischen „Guardian“. Eine Haftstrafe – zumal sie oft für kleinere Diebstähle, „Herumlungern“ oder Schule schwänzen verhängt wird – wirkt oft traumatisierend und ruiniert die Zukunft der Heranwachsenden, die ohnehin besonders häufig aus armen und benachteiligten Bevölkerungsgruppen stammen.

Weltweit waren 2010 laut Schätzungen rund eine Million Mädchen und Jungen inhaftiert. Genaue Zahlen soll eine Studie der Vereinten Nationen liefern, die im September 2019 veröffentlicht werden soll. Das Alter, ab dem Kinder strafmündig sind, variiert von Land zu Land. Im Jemen etwa liegt es bei sieben Jahren, das UN-Komitee für Kinderrechte empfiehlt, dass es mindestens zwölf Jahre betragen sollte. Viele Heranwachsende sind zusammen mit erwachsenen Häftlingen untergebracht. Alleine in den USA trifft das nach Angaben der Organisation Equal Justice Initiative derzeit auf 10.000 Kinder und Jugendliche zu. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sexuell missbraucht werden, sei fünfmal höher als in Jugendhaftanstalten, und sie hätten zudem ein höheres Suizidrisiko, beklagen die Aktivisten.

Menschenrechtsorganisationen haben wiederholt dokumentiert, dass Mädchen und Jungen  in reichen wie in armen Ländern in der Haft misshandelt und unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten wurden. Obwohl die Todesstrafe für Heranwachsende nach internationalem Recht verboten ist, wurden laut PRI im vergangenen Jahr unter anderem im Iran und in der somalischen Puntland-Region Minderjährige exekutiert.

Wie verbreitet ist Folter in Haftanstalten?

Die französische Organisation ACAT, die sich für die Abschaffung von Folter und Todesstrafe einsetzt, kommt in einem Bericht von 2016 zu einem besorgniserregenden Schluss: In mehr als der Hälfte aller Länder der Erde sei es alltägliche Praxis, politische Gefangene oder Häftlinge zu foltern – die einen, um sie mundtot zu machen, die anderen, um sie zum Reden zu bringen.

Human Rights Watch hat im Juli in einem umfangreichen Bericht ein regelrechtes Folterregime dokumentiert: im Gefängnis der äthiopischen Stadt Jijiga, bekannt als Jail Ogaden. Die Erfahrungen des 42-jährigen Mohamed, der dort fünf Jahre ohne Anklage verbrachte, stehen stellvertretend für viele: „Jail Ogaden ist unvorstellbar. Von deiner Einlieferung bis zu deiner Entlassung weißt du nicht, ob du tot oder lebendig bist. Du wirst jeden Tag gequält und erniedrigt. Du bist am Verhungern und kannst nicht schlafen, weil so viele Leute dort sind.“ Das Ziel der Erniedrigungen: Die Häftlinge sollten gestehen, dass sie einer verbotenen Oppositionsgruppe angehören, der Ogaden National Liberation Front.

In vielen Ländern jedoch werde Folter von schlecht ausgebildeten und unterbezahlten Polizisten als Ermittlungsmethode eingesetzt, heißt es in dem ACAT-Bericht. Im Allgemeinen gestünden die Verdächtigen schnell, um ihrem Leid ein Ende zu setzen. Das sei eine schnellere, einfachere und billigere Methode als mühsam Beweise zusammenzutragen oder Zeugen zu vernehmen. So werden etwa in mexikanischen Gefängnissen  Beschimpfungen, Drohungen, Nahrungs- und Schlafentzug, vermeintliche Erstickungen mit Hilfe von Plastikbeuteln, sexuelle Gewalt und das sogenannte Waterboarding eingesetzt, um Geständnisse zu erpressen.

Das könne jeden treffen, besonders gefährdet seien aber jene, die verdächtigt werden, in das organisierte Verbrechen und den Drogenhandel verwickelt zu sein, schreiben die Experten von ACAT. Die Mehrheit der Folteropfer seien junge Männer, in manchen Fällen Minderjährige, die aus armen Gegenden stammen. Aber auch Migranten aus Zentralamerika würden besonders häufig gefoltert, damit sie den Besitz von Drogen zugeben, um sie ausweisen zu können. Die Praxis, Häftlinge mit Hilfe von Folter zu „disziplinieren“ und zu erniedrigen, sei auch in Uruguay weit verbreitet. China schließlich nutzt laut ACAT entsprechende Methoden in dreierlei Absicht: um Geständnisse zu erpressen, Tatverdächtige zu strafen – und Kritiker zum Schweigen zu bringen.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2018: Eingebuchtet
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