Eine Schönheitskönigin bricht das Schweigen

Trrc

Toufah Jallow hat als erste Yahya Jammeh öffentlich der Vergewaltigung beschuldigt – hier ihre Befragung im Juni 2019. 
 

Gambia
Sexuelle Gewalt gehört in Gambia zum Alltag vieler Frauen. Seit der ehemalige Diktator Yahya Jammeh öffentlich der Vergewaltigung bezichtigt wurde, erheben immer mehr von ihnen ihre Stimme.

Vergewaltigung ist in vielen Ländern lückenhaft dokumentiert. Aber in Gambias dicht verflochtener Gesellschaft mit gerade mal zwei Millionen Menschen, in der Opfer und Täter sich oft kennen, ist es für Überlebende sexueller Gewalt besonders schwierig, zur Polizei zu gehen. Viele von ihnen schweigen, weil sie die langfristigen Folgen der Stigmatisierung fürchten.

Doch nach einer Reihe von Untersuchungen zum Ausmaß systemischer sexueller Gewalt während der 22 Jahre dauernden Diktatur von Yahya Jammeh erlebt Gambia seit dem vergangenen Jahr den Aufstieg seiner #MeToo-Bewegung.

Ihren Anfang nahm die Veränderung im Juni 2019: Die 23-jährige Toufah Jallow beschuldigte im Rahmen einer Untersuchung der NGOs Human Rights Watch und Trial International als erste Frau Jammeh öffentlich der Vergewaltigung. Zwei andere Frauen sagten den Ermittlern ebenfalls, sie seien von Jammeh vergewaltigt worden, sind bisher aber anonym geblieben. Jallow behauptet, sie sei von Jammeh zur Strafe dafür, dass sie seinen Antrag, seine zweite Frau zu werden, abgelehnt habe, brutal sexuell missbraucht worden. Seine Aufmerksamkeit hatte sie erregt, als sie im Jahr 2014 im Alter von 18 Jahren einen nationalen Schönheitswettbewerb gewann. 

Ihre offene Aussage sorgte international für Schlagzeilen. In der patriarchalen und konservativen, überwiegend muslimischen Gesellschaft Gambias löste sie jedoch Schockwellen aus. Denn sie stellte die kulturelle Erwartung, dass Frauen über sexuelle Gewalt schweigen sollten, grundsätzlich in Frage. 

„Vergewaltigung gilt als Makel für das Opfer und auch für den Namen der Familie. Es herrscht eine Kultur des Schweigens“, erklärt die Menschenrechtsaktivistin Sirra Ndow, die 2011 eine Online-Plattform zur Unterstützung von Überlebenden sexueller Gewalt gründete. Für die Menschen sei die Familienehre wichtiger als die Opfer sexueller Gewalt.

Autorin

Louise Hunt

ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Soziales, Nachhaltigkeit und Entwicklungszusammenarbeit in London.
Entsprechende Vorfälle werden oft totgeschwiegen oder innerhalb der Familie geregelt. „Wird das Opfer schwanger, wird eine Familie eher aushandeln, dass der Vergewaltiger das Mädchen heiratet, als zu riskieren, dass die Angelegenheit durch eine Anzeige bei der Polizei öffentlich bekannt wird“, sagt Ndow. „Oder das Mädchen wird in jungen Jahren mit einem älteren Mann verheiratet, der die Situation zu seinem Vorteil nutzt.“ Diese Kultur schütze den Täter, kritisiert die Menschenrechtsaktivistin. 

Jallows empörende Geschichte ermutigte viele Frauen, sich zum ersten Mal öffentlich zu äußern. Jallow sagt, sie sei „überwältigt“ gewesen von der Zahl von Frauen – Freundinnen wie Fremden –, die gestanden hätten, selbst auch Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein. „Jedes Mädchen hatte ihre eigene Geschichte, über die sie in der Öffentlichkeit nie gesprochen hatte“, erzählt Jallow „welt-sichten“. „Das ist eine Seuche, die in der gambischen Gesellschaft weit verbreitet ist, aber diskret verschwiegen wird.“

Eine kleine Revolution

So gesehen war Gambias #MeToo-Bewegung, die den Status quo in Frage stellte, eine kleine Revolution. Junge Gambierinnen nutzten den Augenblick, um die #IamToufah-Bewegung zu gründen, und veranstalteten im Juli 2019 in der Hauptstadt Banjul friedliche Märsche, auf denen sie ein Ende der Kultur des Schweigens über sexuelle Gewalt forderten.

„Als Toufah mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit ging, begannen viele junge Frauen, in den sozialen Medien darüber zu berichten, wie sie in jungen Jahren Opfer von sexueller Gewalt wurden und dass sie auch weiterhin in der Gesellschaft, am Arbeitsplatz und in der Schule Opfer sind“, sagt die Frauenrechtlerin Lala Touray.

Die Äußerungen zeigten, dass viele Frauen und Mädchen das Gefühl hatten, ihnen fehle die nötige Unterstützung, um gegen sexuelle Gewalt anzugehen, sagt Haddy Mboge Barrow, die Koordinatorin des Netzwerks gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Als Folge davon dürfte die Dunkelziffer in dem westafrikanischen Land enorm hoch sein. „Die meisten Fälle von sexuellem Missbrauch, die der Polizei gemeldet werden, betreffen Minderjährige“, ergänzt die Gemeindeschwester, die der landesweiten Entwicklung von Maßnahmen gegen sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt den Weg bereitet hat. Viele Erwachsene glaubten einfach nicht, dass sexuell aktive, erwachsene Frauen vergewaltigt werden können. Für diese Frauen sei es daher sehr schwierig, zu sagen, sie seien vergewaltigt worden, sagt Barrow.

Im Oktober 2019 wurden die Gambier jedoch durch eine Reihe von Untersuchungen der nationalen Wahrheits-, Versöhnungs- und Entschädigungskommission mit dem ganzen Ausmaß der sexuellen Gewalt im Land konfrontiert. Jallows Enthüllung ermutigte auch andere Opfer sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt zu einer Aussage vor der Kommission, die weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen einschließlich Massenmord und Folter während Jammehs 22-jähriger Herrschaft aufarbeitet.

Die Entscheidung, sexuelle Gewalt in die viel beachteten Untersuchungen einzubeziehen, wurde von den Aktivisten als kühner Schachzug gewertet. „Sexuelle Gewalt innerhalb des Prozesses der Übergangsgerechtigkeit als Verbrechen zu werten, ist ein Riesenschritt“, sagt die Menschenrechtsaktivistin Ndow. Sie glaubt, dass die Aussagen der Überlebenden vor der Wahrheitskommission dazu beigetragen haben, das öffentliche Bewusstsein dafür zu schärfen, welche langfristigen Folgen das erzwungene Schweigen über ihren Missbrauch hat.

Mutmaßliche Vergewaltigung durch einen Polizisten

Der Fall von Binta Manneh zum Beispiel zeigt, wie ihr Leben durch die mutmaßliche Vergewaltigung durch einen Polizisten beeinträchtigt wurde. Die damals 15-Jährige nahm im Jahr 2000 an einer Schulsportveranstaltung teil, bei der sich der Übergriff ereignet haben soll. Der Vorfall löste die Studentenproteste des 11. April aus, in deren Verlauf wenigstens 14 Demonstranten von der Polizei erschossen wurden.

In ihrer Aussage vor der Wahrheitskommission gab Manneh an, sie habe wegen der Schmach, andere Schüler über den Vorfall sprechen zu hören, die Schule abgebrochen. Danach sei sie, immer noch im Teenageralter, mit einem viel älteren Mann verheiratet worden. „Wenn einem in meinem Dorf so etwas passiert und man ist nicht verheiratet, wird man immer in Schande leben. Mein Vater zwang mich zu der Hochzeit“, sagte sie bei der Anhörung. Zutiefst unglücklich verließ Manneh ihr Dorf und den Ehemann, war aber immer noch traumatisiert. „Diese Sache hat mich fast verrückt gemacht. Darüber zu sprechen bringt Schmerz und Schande in mein Leben“, sagte sie der Kommission.

„Den meisten Leuten ist nicht klar, welche psychologischen und emotionalen Auswirkungen,  und manchmal auch körperlichen Folgen wie Geschlechtskrankheiten, eine Vergewaltigung hat“, sagt die Menschenrechtsaktivistin Ndow.

Und auch die Gemeindeschwester Barrow erklärt: „Wer die mit sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt verbundenen Probleme nicht begreift, kann auch nicht verstehen, in welchem Maß die Überlebenden betroffen sind und wie sie – manchmal sogar durch ihre eigene Familie – stigmatisiert werden.“

Sich offen zu äußern, ist für Opfer noch schwieriger, wenn ihre Peiniger mächtig und einflussreich sind. Bei vielen Anhörungen der Wahrheitskommission gaben Zeuginnen an, sie seien von ehemaligen Ministern und Mitgliedern der Sicherheitskräfte sexuell missbraucht worden. 

Ein anonym über Skype zugeschaltetes ehemaliges „Protocol Girl“ beschrieb, wie Jammeh sorgfältig junge Frauen aus armen Verhältnissen auswählte und ihnen, wie in Jallows Fall, ein Stipendium oder auch eine Stelle bei der Regierung versprach. „Er nutzte die Verletzlichkeit der Mädchen aus, um sie zu missbrauchen. Frauen, die er selbst ‚Protocol Girls‘ nannte, widmete er eine gewisse Aufmerksamkeit und machte ihnen Geschenke, manchmal ein Haus oder ein Auto, behandelte sie aber dann wie sein Eigentum“, berichtete sie der Kommission. 

Am Ende dieser Anhörungssitzung stand Toufah Jallows mit Spannung erwartete Aussage, die die Nation an ihre Fernseher und Smartphones fesselte. „Es war die längste Nacht meines Lebens, und ich sagte mir: Das ist der mächtigste Mann in Gambia, wer bin ich, dass mir irgendjemand zuhört und das glaubt“, sagte Jallow der Kommission. Damit griff sie das Ohnmachtsgefühl auf, das die Zeuginnen vor ihr bereits angesprochen hatten.

Sexuelle Gewalt gedeihe in einer „Atmosphäre der Straflosigkeit“, sagt Marion Volkmann-Brandau. Die in Senegals Hauptstadt Dakar ansässige Menschenrechtsexpertin leitete die 18 Monate dauernde Untersuchung von Human Rights Watch und Trial International über sexuelle Gewalt, deren Ergebnisse in die Anhörung der Wahrheitskommission einflossen. „Es war ein unterdrückerisches Regime, das eindeutig von mächtigen Männern, allen voran Jammeh, angeführt wurde“, erklärt sie. 

Therapeutenorganisationen bieten Unterstützung

Im Januar 2017 ging Jammeh ins Exil. Die Straflosigkeit, die diese Verbrechen möglich gemacht habe, sei dadurch nicht verschwunden, sagt Volkmann-Brandau. „In einem immer noch weitgehend patriarchalischen Land, in dem alle Institutionen von Männern beherrscht und Frauen in Führungspositionen wirklich eine Seltenheit sind, muss sich die ganze Mentalität verändern.“

Tatsächlich richteten sich einige der Anschuldigungen, die seit Jallows Aussage laut geworden sind, gegen Leute in Machtpositionen. Dasselbe gilt für Aussagen bei den Anhörungen vor der Kommission. Toufah Jallow macht sich indes Gedanken über die Veränderungen mit Blick auf geschlechtsspezifische sexuelle Gewalt, die sich in Gambia seit den Zeugenaussagen ereignet haben, und auf  die nach wie vor zu überwindenden Hindernisse: „Es ist nicht mehr undenkbar, über Vergewaltigung zu diskutieren“, sagt sie. Das Thema sei Gegenstand vieler Diskussionen; Theaterszenen und Sketche würden aufgeführt und Therapeutenorganisationen böten inzwischen psychosoziale Unterstützung an. Die #I am Toufah-Bewegung stelle einen Orientierungspunkt dar, sagt Jallow. „Während vorher nicht darüber gesprochen wurde, wird heute darüber gesprochen.“

Trotz der Bemühungen der Wahrheitskommission berichten Aktivisten, dass Opfer immer noch kämpfen müssen, damit Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Sie sagen, Polizeireviere seien räumlich und personell nicht auf die Unterstützung von Opfern eingestellt. Unter anderem mangele es an Privatsphäre und an speziell geschulten Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern. Und obwohl Gambia sehr strenge Gesetze gegen sexuelle Gewalt hat – Vergewaltigung und Missbrauch können eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung nach sich ziehen –, landen aufgrund eines ineffizienten Justizapparats nur wenige Fälle überhaupt vor Gericht.

Bislang habe der politische Wille gefehlt, die verschiedenen Maßnahmen im Kampf gegen sexuelle Gewalt zu verstärken, sagt die Menschenrechtsaktivistin Sirra Ndow. „Ich sehe keine grundlegende Veränderung in der Art, wie in Gambia mit sexueller Gewalt umgegangen wird“, sagt auch Toufah Jallow. „Der Hauptunterschied ist, dass die Menschen heute mit Hilfe der sozialen Medien dafür sorgen, dass Anschuldigungen nicht unter den Teppich gekehrt werden.“

Außerdem bleiben Schuldzuweisungen an die Opfer ein großes Problem für diejenigen Frauen, die sich öffentlich äußern. „Es kann passieren, dass Frauen mehr Angst vor den Worten als vor dem Täter selbst haben“, sagt Jallow.

Zeuginnen, die bei den Anhörungen vor der Wahrheitskommission ausgesagt hatten, blieben nicht von öffentlichen Beschimpfungen verschont. Manche wurden in sozialen Medien als Prostituierte bezeichnet. Die Kommission musste die Warnung aussprechen, dass sie mit der Härte des Gesetzes gegen diejenigen vorgehen werde, die Zeuginnen in Misskredit brächten. 

Jallow selbst sah sich in den sozialen Medien einer permanenten Gegenreaktion ausgesetzt. Manche Gegner nannten sie eine Lügnerin, weil sie zu stark erscheine, um ein Opfer zu sein. „Die Leute haben eine vorgefasste Meinung darüber, wie eine Überlebende sexueller Gewalt aussieht, deshalb kann man nicht gewinnen“, sagt sie. Auch von Mitgliedern von Jammehs Partei wurde sie bedroht. 

„Ich wusste, dass es kein Spaziergang wird, aber das gehört nun einmal zu den Herausforderungen, die Frauen durchstehen“, sagt Jallow.  Wenn Frauen das Schweigen brächen, müssten sie mit vielem fertigwerden. „Dafür müssen wir sichere Räume schaffen.“ 
Schuldzuweisungen an die Opfer offenbaren das Wesen der Debatten, die in Gambia rund um sexuelle Gewalt geführt würden, sagt Jallow. „Daran kann man sehen, wogegen wir kämpfen und wo wir in Bezug auf den Umgang mit diesem Thema als Land und als Region stehen.“

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller. 

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erschienen in Ausgabe 7 / 2020: Der Plan für die Zukunft?
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