Ein Fall von Kolonialherrschaft?

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Abdullah Wangni/dpa/EPA
Muslimische Schülerinnen im Mai 2013 neben einer thailändischen Soldatin, die ihre Schule in der ­Patani-Provinz bewacht. Anschlägen von Separatisten sollen schon Kinder zum Opfer ­gefallen sein.
Thailand
Muslimische Malaien wollen im Süden von Thailand einen eigenen Staat. Sie können viele historische Gründe anführen, haben aber keine aussichtsreiche Strategie.

Unabhängigkeitsbewegungen erschaffen sich mit Geschichten, die wieder und wieder erzählt werden, um die gemeinsame Historie lebendig zu halten. Jedes Unglück, das die Gruppe trifft, wird zu einer neuen Geschichte. Und wie jede Tragödie enthält jede sezessionistische Erzählung einen schicksalhaften Wendepunkt, der die Bewegung dahin geführt hat, wo sie nun steht. 
Im Fall von Patani kam dieser Wendepunkt 1786, als das Sultanat dem Königreich Siam unterlag, wie Thailand damals hieß. Zuvor, bis Ende des 18. Jahrhunderts, war das Sultanat Patani, das die heutigen thailändischen Provinzen Pattani, Yala und Narathiwat sowie vier Bezirke der Provinz Songkhla umfasste, die wirtschaftliche und politische Drehscheibe der malaiischen Halbinsel und ein führendes Zentrum islamischer Wissenschaft. Danach wurde Patani zum Vasallenstaat, der Tribut zahlen musste. 

Im März 1909 wurde die Unterwerfung mit dem Vertrag zwischen Großbritannien und Siam besiegelt; er schuf die Grenze, die heute Thailand und Malaysia trennt und damit das Gebiet des früheren Sultanats Patani von dem der anderen malaiischen Königreiche, die heute zum mehrheitlich islamischen Malaysia gehören. Nach 1909 strebte die Patani-Aristokratie zunächst nach einer Vereinigung des Gebiets mit Malaysia, doch das wird infolge der Entwicklungen im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht mehr als Lösung angesehen. 

Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurden viele Staaten im Zuge der Dekolonialisierung unabhängig. Damals stand das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung auf der Weltbühne im Vordergrund und die Realpolitik wurde für kurze Zeit von einem Idealismus und Optimismus abgeschwächt, den Malaien in Patani enthusiastisch aufnahmen: Als im November 1945 die letzte Verhandlungsrunde über einen Friedensvertrag zwischen Thailand und Großbritannien im Gange war, baten acht Führer der Malaien-Muslime den britischen Premierminister in einer Petition, der Herrschaft ihrer siamesischen Unterdrücker ein Ende zu setzen.

Nach vielen Diskussionen sowohl im britischen Außen- wie im Kolonialministerium entschied London jedoch, die Petition zu ignorieren. Zwei Monate später unterzeichneten Thailand und Großbritannien einen Friedensvertrag, der Thailands Vorkriegsgrenzen nicht antastete. Weil Patani-Malaien im Weltkrieg den britischen Widerstand gegen das von Japan besetzte Thailand unterstützt hatten, empfanden sie das als schlimmen Verrat. Ihr Problem war, dass zwar das Prinzip der Selbstbestimmung zunehmend auf kolonisierte Gebiete und Völker angewandt wurde, aber Kolonialismus als überwiegend „weißes“ Phänomen verstanden wurde. Das bot keine Anfechtungsmöglichkeit für die, die von buddhistischen Herrschern unterdrückt wurden.

Patani-Seperatisten betrachten sich als kolonisiertes Volk

In den 1960ern, als die meisten kolonisierten Völker das Joch der Unterdrückung abwarfen, begannen sich auch in Thailands Süden bewaffnete Separatistengruppen zu formieren. Die Malaien-Muslime stellen in der südlichen Grenzregion Thailands rund 80 Prozent der 1,8 Millionen Einwohner, sind aber in ganz Thailand eine Minderheit. Separatisten merkten schnell, dass ihre Forderungen von der Staatengemeinschaft kaum mehr Unterstützung als Lippenbekenntnisse erhalten würden. Und der einvernehmliche Weg zur Unabhängigkeit, bei dem das „Mutterland“ die neue Nation anerkennt und die Abtrennung erlaubt, war für die Malaien-Muslime nie eine Möglichkeit. Die 20. thailändischen Verfassung aus dem Jahr 2017 beginnt ähnlich wie alle vorherigen mit der Bekräftigung, dass „Thailand ein einziges und unteilbares Königreich ist“. 

Die Patani-Separatisten betrachten sich indes als kolonisiertes Volk und ihre Forderung nach Unabhängigkeit als Bereinigung eines historischen Unrechts. Das wurde in einer Umfrage unter tausend bekennenden Separatisten im Jahr 2019 als einer der vier Hauptgründe dafür genannt, dass Patani die Unabhängigkeit verdiene. Die Befragten hielten die Sezession zudem für den besten Weg, den bewaffneten Konflikt mit dem thailändischen Staat zu lösen, für den einzigen Weg zu einer Zukunft, die sie sich wünschten, und für ein religiöses Gebot. 

Der Konflikt flammte im Jahr 2004 wieder auf. Diese Eskalation der Gewalt brachte neue Unruhen und eine Spaltung der Gesellschaft, darunter einen verstärkten Einsatz der Sicherheitskräfte sowie einen Teufelskreis der Rache. Seit 2004 hat der Konflikt im Süden Thailands, der doch eher für seine Strände bekannt ist als für gewaltsamen Widerstand gegen die Regierung, über 7000 Tote gefordert.

Autorin

Emma Potchapornkul

hat einen Master in „Human Rights“ am University College London und ist Projektmanagerin der Peace Resource Collaborative (PRC) am Fachbereich Politikwissenschaft der Chulalongkorn-Universität in Thailand.
Es gibt mehrere Erklärungen für die Eskalation ab 2004. Vorherige Wellen der Unzufriedenheit unter Malai-Muslimen waren dadurch besänftigt worden, dass die Regierung spezielle staatliche Institutionen schuf, die sich um lokale Missstände kümmern sollten. Die aber wurden in den frühen 2000er Jahren aufgelöst. Zudem strengte der damalige thailändische Premierminister Thaksin Shinawatra einen landesweiten Krieg gegen Drogen an, der eine starke Verschlechterung der Menschenrechtslage brachte, und das war im tiefen Süden besonders stark zu spüren. Die Regierung ließ willkürliche Verhaftungen, Polizeigewalt und außergerichtliche Tötungen zu und schritt dagegen kaum ein. Das schuf einen fruchtbaren Boden für die Separatisten und ihre Erzählung von Diskriminierung und Ungerechtigkeit.

Auf die Eskalation der Gewalt reagierte die Regierung mit der Ausrufung des Kriegsrechts und einem Notstandsdekret für die Region. Dies und das spätere Gesetz von 2008 zur inneren Sicherheit gaben den Sicherheitsbehörden breite Befugnisse für Verhaftungen ohne richterliche Kontrolle und stellten Verantwortlichen für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen praktisch Straffreiheit in Aussicht.

Ist es euer Verwandter? Szene von einem Massen­begräbnis Ende April 2004; Polizisten haben nach einem Angriff auf einen Sicherheitsposten über hundert mutmaßliche Milizen niedergeschossen.

Die vergangenen 17 Jahre Konflikt haben die Sonderstellung der Region nur noch vertieft. Patani gehört zu den ärmsten Regionen Thailands und ist wirtschaftlich deutlich weniger entwickelt als andere Gebiete im südlichen Landesteil. Zudem halten sich ökonomische Spaltungen in der Region: Thai-chinesische Unternehmer beherrschen die städtische Wirtschaft, und Thai-Buddhisten stellen den Großteil der Regierung- und Verwaltungsbeamten. Beide genießen einen höheren Lebensstandard als malaiisch-muslimische Dorfbewohner. Und obwohl es sich nicht um einen Religionskonflikt handelt, hat er eine klare religiöse Dimension, denn Religionsführer beider Seiten sind zum Angriffsziel von Separatisten beziehungsweise Sicherheitskräften geworden.

Separatistische Strategien heute

Welche Strategien verfolgen die Separatisten heute? In der Vergangenheit bekannten sie sich zu gewaltsamen Angriffen. Das war ein Desaster, weil es der thailändischen Armee ermöglichte, sie ausdrücklich ins Visier zu nehmen. Daher setzt die mächtigste Separatistengruppe, die BRN, nun vor allem darauf, breite Unterstützung zu gewinnen. Ein Hauptziel ist, dass ihr politischer Flügel die Kontrolle über die lokale Bevölkerung erlangt und die Legitimität des thailändischen Staates durch anhaltende Subversion ausgehöhlt wird. Das soll durch einen dreistufigen Prozess erreicht werden. Zunächst geht es darum, das politische Bewusstsein der Malaien-Muslime zu schärfen; hier ist die eigene Erzählung von zentraler Bedeutung. Dann sollen Institutionen wie Wochenend-Religionsschulen und islamische Internate gewonnen werden, die Subversion mitzutragen. Schließlich sollen sich neue Mitglieder am politischen Widerstand beteiligen, darunter am Sammeln von Informationen und an der Steuereintreibung.

Eine weitere Strategie ist die gezielte Gewalt gegen Repräsentanten des thailändischen Staates, insbesondere Militär, Polizei und öffentliche Dienstleistungen. Auch Einheimische, die mit der Regierung kollaborieren oder für sie arbeiten, gelten als Ziele. Allerdings tragen bisher Zivilisten die Hauptlast der Gewalt. Es ist bekannt, dass Separatisten schon Übergriffe der Sicherheitskräfte provoziert haben, um Sympathien für ihre Sache zu erzeugen und um die eigene Gewalt zu rechtfertigen.

Man weiß auch, dass die BRN-Führung in Fraktionen gespalten ist. Ihr politischer Flügel ist vor der Verhaftung ins Ausland geflohen und hält sich großenteils in Malaysia auf. Unterdessen sind in Thailands Südspitze kleinere autonome Zellen von BRN-Kämpfern aktiv, stehen aber häufig im Konflikt mit anderen Gruppen, die für die Selbstbestimmung der Malaien-Muslime kämpfen. Auch über Differenzen im politischen Flügel der BRN ist berichtet worden. Beobachter fragen sich, ob er die nötige Führungskraft besitzt, um die Grabenkämpfe seiner Mitglieder in Patani in den Griff zu kriegen.

Die Regierung ist einer klassischen Strategie der Aufstandsbekämpfung nach den Doktrinen aus dem Kalten Krieg der 1960er bis 1980er Jahre gefolgt, einem zweigleisigen Ansatz von Sicherheitsmaßnahmen plus Entwicklung. Dem liegt das Kalkül zugrunde, dass Unterdrückung Hand in Hand mit Entwicklung gehen muss Erst die mache es möglich, mittels Propaganda Herzen und Köpfe zu gewinnen. Seit 2004 hat Thailand neben den Militärausgaben Milliarden für Infrastruktur und besondere Wirtschaftsentwicklungsprojekte aufgewandt, deren Wirkung allerdings zweifelhaft ist. 

Auch Religionsführer sind schon ­Opfer von Anschlägen geworden. Deshalb werden diese buddhis­tischen Mönche 2015 in Patani von einem Soldaten beschützt.

Dass die bewaffneten Separatisten im Geheimen operierten, hat die Regierung in Bangkok jahrelang als Begründung genutzt, offizielle Friedensgespräche zu verweigern. Ihr widerstrebt es zutiefst, auch nur die Existenz eines Konflikts anzuerkennen, geschweige denn die eines Sezessionskonflikts. Sie weiß, wie sehr selbsterklärte Nationen durch internationale Anerkennung symbolisch aufgewertet werden, und unternimmt daher größte Anstrengungen, im Inland wie im Ausland die politische Natur des Konflikts zu leugnen. Dazu nutzt sie beschönigende Umschreibungen wie „die Unruhen“ oder „das Problem im Süden“ und nennt die Sezessionisten Banditen. Die laufenden Friedensverhandlungen nennt die thailändische Regierung „Glücksgespräche“, denn anzuerkennen, dass man Frieden schließen muss, würde bedeuten, dessen Abwesenheit einzugestehen.

Zudem hat über ein Jahrzehnt der politischen Unruhe auf nationaler Ebene einen praktikablen Friedensprozess für Patani untergraben. Der erste von einer Zivilregierung initiierte und öffentlich angekündigte Dialog im Februar 2013 fand ein Ende, als General Prayut Chan-o-cha mit dem Staatsstreich vom Mai 2014 die Macht übernahm. Es folgte ein vom Militär dominierter Friedensprozess, der bis heute im Gang ist.

Die Bewegung der Patani-Malaien ist gespalten

Leider hat der Beginn offizieller Friedensgespräche 2013 auch eine tiefe Spaltung der Bewegung der Patani-Malaien gebracht zwischen denen, die die Friedensgespräche trotz gewisser Schwächen unterstützen, und denen, die ihn deshalb ablehnen. Diese Spaltung hält an und verhindert eine gemeinsame Strategie für schrittweisen Fortschritt. Neben den bewaffneten Separatisten ist eine gewaltlose Bewegung für Selbstbestimmung entstanden, von denen manche die Unabhängigkeit wollen, andere auch weniger weitreichende Lösungen akzeptieren würden. Die Bewegung hat über die Jahre einen Prozess der schrittweisen Politisierung erreicht. Sie wird von einigen akademischen Institutionen unterstützt, die eine Diskussion über alternative Modelle der Machtteilung im multi-ethnischen Land für nötig halten. 

Unter Thailands jetziger Regierung unter Prayut Chan-o-cha – er wurde nach Parlamentswahlen 2019 im Amt bestätigt – haben die Friedensgespräche mit den BRN-Vertretern kaum Fortschritte erzielt. Thailand will weiter keine bedeutsamen Konzessionen machen und der BRN-Führung scheint eine Verhandlungsstrategie zu fehlen, die sie ihrem Ziel näherbringen kann. Einige Sezessionsbefürworter deuten das sogar als Kapitulation der BRN, als Aufgabe des Strebens nach Unabhängigkeit. Internationale Akteure spielen bei den Friedensbemühungen kaum eine Rolle, weil der thailändische Staat alles dafür tut, dass der Konflikt im Süden eine interne Angelegenheit bleibt. 

Das Ergebnis ist derzeit ein Patt. Die Regierung in Bangkok hat den gewaltsamen Konflikt wirksam eingedämmt, versagt aber bei der Aufgabe, den Unmut und die Beschwerden der muslimischen Minderheit ernst zu nehmen und sie anzugehen. Daher ändert sich nichts an den Ursachen der Gewalt. Die Lage kann wieder eskalieren.  

Zudem schränken zwei Entwicklungen die Aussicht auf baldige Fortschritte ein. Anfang 2020 hat die globale Corona-Pandemie den Friedensprozess unterbrochen, als der Vermittler und Gastgeber der Gespräche, Malaysia, die Grenzen geschlossen hat. Und später im gleichen Jahr hat politische Instabilität in Bangkok wieder einmal die Aufmerksamkeit von der südlichen Peripherie des Landes abgelenkt.

Die Geschichten, die Separatisten immer wieder erzählen, halten Erinnerungen am Leben, die ihre Sache antreiben. Aber Erzählungen allein reichen nicht, um ihr Ziel zu erreichen. Und viele Separatistenbewegungen sind eher für ihren Idealismus als für ihren Pragmatismus bekannt. Mit mehr vom Zweiten und weniger vom Ersten könnten die Patani-Separatisten ihre Erfolgschancen erhöhen.

Aus dem Englischen von Carola Torti.

 

 

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erschienen in Ausgabe 6 / 2021: Selbst bestimmen!
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