Sklaven, Geister, Heilige

Nach langem Kampf ist der Voodoo in Haiti als Religion anerkannt

Von Laënnec Hurbon

Der in Haiti verbreitete Voodoo galt lange als Aberglaube oder Sammlung teuflischer Praktiken. Tatsächlich ist es eine Religion, die Sklaven unter Rückgriff auf afrikanische Traditionen und Elemente des Katholizismus geschaffen haben – als Element ihrer Selbstbehauptung und ihres Freiheitskampfes. Die Spannungen im Verhältnis zur katholischen Kirche sind inzwischen abgeklungen. Doch Vorurteile gegen den Voodoo halten sich zäh – heute vor allem in Pfingstkirchen.

Was der Voodoo in Haiti eigentlich ist, ist immer noch nicht ganz klar. Mal wird er als Sammlung von Praktiken der Magie und der Hexerei wahrgenommen, mal als eine seltsame Vermischung von afrikanischen mit katholischen Kulten – speziell der katholischen Heiligenverehrung –, mal als System von Heilmethoden, auf die die Landbevölkerung zurückgreift, weil sie keinen Zugang zur modernen Medizin hat. Solche Sichtweisen haben sich zur Zeit der Sklaverei auf Haiti herausgebildet, wurden von Missionaren und der Kolonialverwaltung weiterverbreitet und haben sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gehalten. Der Voodoo bietet sich in der Tat für solche Interpretationen an, wenn man den eigenen Vorurteilen freien Lauf läßt.

Erst anthropologische Arbeiten der 1940er Jahre (insbesondere das Werk des haitianischen Schriftstellers Jean Price-Mars, der ein Pionier des Kampfes für die Anerkennung des afrikanischen Erbes in Haiti war) haben zu der Einsicht geführt, dass die Glaubensinhalte und Riten, die in der Sklavenzeit herausgebildet oder weitervererbt worden sind, eine echte Religion darstellen. So verfügt der Voodoo über Tempel; sie heißen „ounfo“ und sind zahlreich auf dem Land zu finden, aber auch am Rand der Städte. Es gibt eine Kaste von Priestern und Priesterinnen, die „ougan“ und „mambo“ genannt werden und immer mit einer Gruppe von Eingeweihten zusammenarbeiten, die „ounsi“ (Gatten der Götter) heißen.

In den Riten zeigen sich die afrikanischen Ursprünge. So werden beim rada-Ritus Gottheiten verehrt, die im Wesentlichen von den westafrikanischen Volksgruppen Fon und Yoruba stammen. Der Congo-Ritus stammt aus der Welt der Bantu, einer weit verbreiteten Familie afrikanischer Sprachen. Einige der vielfältigen Gottheiten des Voodoo werden als kreolisch bezeichnet, denn sie sind in Haiti entstanden. Die Gottheiten, die man „lwa“ nennt – Mysterien, Engel oder Geister –, haben Entsprechungen in katholischen Heiligen. Häufig findet man in den Tempeln Bilder und Farblithographien von Heiligen, die afrikanische Gottheiten repräsentieren oder sie unterstützen sollen. Deshalb hat man im Voodoo eine Religionsvermischung mit dem Katholizismus gesehen.

Über den lwa steht der höchste Gott. Ihm ist kein Kult gewidmet, aber die sekundären Gottheiten werden – so glaubt man – mit seiner Erlaubnis im Dienste der Menschen tätig, weil sie ihnen näher stehen. Im Allgemeinen erhält ein Mensch als Erbe seiner Familie einen oder mehrere lwa, die sich mit ihm über Träume, Krankheiten oder auch traumatische Erlebnisse in Verbindung setzen. Der faszinierende Höhepunkt einer Zeremonie ist die Trance oder das Besessensein von einer Gottheit; es bedeutet, dass der lwa mit den ihm gewidmeten Opfergaben oder Tänzen zufrieden ist.

Den Priestern und Priesterinnen des Voodoo obliegt es, die Sprache der „Geister“ zu deuten, die vom Körper des Einzelnen Besitz ergreifen. Es kommt vor, daß ein Voodoo-Gläubiger sich in einer Initiation oder einer  sogenannten mystischen Ehe zum ständigen Voodoo-Dienst bereit erklärt, was einem Schutz für das ganze Leben bietet. Die lwa machen Prophezeiungen; sie helfen so, Unfälle oder Unheil zu verhindern oder Eheprobleme zu lösen, weisen auf Möglichkeiten hin, sich zu bereichern, und geben vor allem in Träumen oder während Zuständen der Besessenheit Rezepte für die Heilung verschiedener Krankheiten. In einem Umfeld, das von wirtschaftlicher Not und einem ständigen Überlebenskampf bestimmt ist, können auch Praktiken der Zauberei nicht fehlen. Daher können Voodoo-Priester leicht auf Scharlatanerie zurückgreifen, um ihren Einfluss auf die zu festigen, die sie konsultieren.

Die Geschichte des Voodoo ist verwoben mit der Sklaverei und mit dem Kampf der Sklaven um ihre Befreiung. Die Sklavenhalter haben in Haiti versucht, die Sklaven in einen Zustand kultureller Amnesie zu bringen, indem sie immer Angehörige ganz verschiedener Ethnien auf eine Plantage oder in eine Hütte platzierten. Dadurch sollten sie die Beziehung zu ihren Ahnen und ihrem Stamm verlieren. Der Voodoo ist zu verstehen als Erschaffung eines kollektiven Gedächtnisses. Es stellte für die Sklaven ein eigenes Symbolsystem dar, mit dessen Hilfe sie lernten, sich  untereinander solidarisch zu verhalten. Dieses Bemühen um kulturelle Autonomie auf Seiten der Sklaven veranlasste die Sklavenhalter dazu, als einzige Religion das Christentum zu erlauben; die Sklaven mussten sich formell zu dieser Religion bekennen, die gleichzeitig zur Rechtfertigung der Sklaverei diente.

Paradoxerweise haben die Sklaven mit Begeisterung viele Riten des Christentums übernommen und gleichzeitig zäh an den religiösen Traditionen aus Afrika festgehalten. So haben sie sich den Voodoo und den Katholizismus zu Hilfe genommen, um einen Raum für Versammlungen zu finden und um Strategien zu entwerfen, für Freiheit einzutreten. Von dem großen Sklavenaufstand im August 1791 ist überliefert, dass eine Voodoo-Zeremonie eine wichtige Rolle spielte: Die Sklaven schworen dabei, dem System der Sklaverei ein Ende zu setzen.

Nach der Ausrufung der Unabhängigkeit Haitis am 1. Januar 1804 fiel es den neuen Regierungen schwer, den Voodoo als wichtigste Religion der Haitianer anzuerkennen, auch wenn er die Truppen für den Kampf begeisterte – insbesondere bei der Abwehr von Napoleons Invasion, die die Wiedereinführung der Sklaverei zum Ziel hatte. Beim Aufbau der Nation und des Staates stand der Voodoo ständig im Verdacht, parallele Machtstrukturen zu denen des Staates schaffen zu wollen.

Die Kirche sah sich während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Toleranz gegenüber dem Voodoo gezwungen. Denn in dieser Periode wurde die katholische Kirche von einem käuflichen Klerus geführt, der oft unter dem Bannfluch der Kirchenhie­rarchie in Paris und Rom stand. Die Regierungen Haitis hofften jedoch, dass der Vatikan die Unabhängigkeit Haitis als Staat anerkennen würde. Die Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl führten erst 1860 zu einem Konkordat.

Ab diesem Zeitpunkt änderte sich der Status des Voodoo. Denn die katholische Kirche machte es sich zur Aufgabe, das afrikanische Erbe auszurotten, das sie als Zeichen von Primitivität begriff, galt doch die westliche Kultur als Kultur schlechthin. Der Voodoo sah sich drei großen Wellen der Verfolgung durch den Katholizismus ausgesetzt: 1896, 1920 bis 1930 (diese zweite Welle fällt mit der Zeit der Besatzung des Landes durch die USA zusammen) sowie 1941. Man forderte von den Voodoo-Anhängern einen Eid, mit dem sie ausdrücklich den Glaubensinhalten und Riten des Voodoo abschwören, die in Katechismen und Kirchenliedern als „Teufelswerk“ bezeichnet wurden. Besonders während der Kampagne gegen den „Aberglauben“ von 1941 verbrannten katholische Priester öffentlich Kultgegenstände des Voodoo.

Wer mit solcher Verbissenheit den Voodoo ein für allemal aus dem kulturellen Leben des Landes eliminieren wollte, gab damit zu, dass er unter der Land- wie der Stadtbevölkerung weit verbreitet war. Im Volksmund heißt es: „Man muss katholisch sein, um ein guter Voodoo-Anhänger zu sein.“ Mehrere Kirchen sind faktisch von Voodoo-Anhängern mit Beschlag belegt. Die Pfarrei von Saut d’eau auf dem Zentralplateau ist in dieser Hinsicht die berühmteste. Zur Patronatsfeier, dem Tag der Jungfrau vom Berg Karmel, sammeln sich hier viele zehntausend Pilger. Sie besuchen nicht nur die Kirche, sondern auch den großartigen Wasserfall, der von hohen Bäumen gesäumt wird, die alle als Sitz afrikanischer Gottheiten gelten. Auch andere Kirchen ziehen zahlreiche Voodoo-Anhänger an. Eine der bekannteren in Port-au-Prince ist Nôtre Dame d’Altagrace, deren Namenspatronin man als katholische Entsprechung der weiblichen Gottheit „Ezili Danto“, der Gottheit der eifersüchtigen Liebe, auffasst. Eine andere ist die Pfarrkirche der Plaine du Nord; sie ist Sankt Jakob geweiht, der mit der Gottheit Ogou identifiziert wird, der lwa der Schmiede und des Krieges.

Ein Voodoo-Gläubiger empfindet keinerlei Widerspruch dabei, sich zugleich als Katholiken zu bezeichnen. Deshalb ist es auch so schwierig, die Zahl der Voodoo-Anhänger in Haiti festzustellen. Praktizierende Voodoo-Anhänger findet man in allen sozialen Schichten, doch steht das einfache Volk in engerem Kontakt mit den Voodoo-Priestern und den Tempeln.

Voodoo-Praktiken sind erst seit 1987 nicht mehr strafbar – seit die neue Verfassung in Kraft ist, die das Ergebnis der Demokratisierung nach dem Sturz einer 30-jährigen Diktatur war. Viele praktizierende Voodoo-Anhänger haben noch Vorbehalte, sich offen als solche zu bekennen. Die Spannungen zwischen Kirche und Voodoo haben aber nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) abgenommen. Die katholischen Gemeinden haben sich in den 1970er Jahren sehr um Einfügung in die lokale Kultur bemüht. So wurden die kreolische Sprache – die einzige, die die Mehrheit der Haitianer beherrscht, obwohl das Französische weiterhin die offizielle Sprache Haitis ist – und die Trommeln in die Liturgie integriert. Trommeln sind ein wichtiges Element des Voodoo, sie begleiten die Tänze. Eine Politik des Dialogs mit dem Voodoo ist allerdings nicht abzusehen, obwohl der Klerus allmählich ein gewisses Interesse zeigt, den Voodoo kennenzulernen. Man muss auch berücksichtigen, dass der Voodoo wenig formalisiert ist – das widerspricht der schriftlichen christlichen Kultur; seine Rituale und Glaubensinhalte, von denen einige die Tendenz haben sich zu verselbständigen, verweisen auf eine lebendige Erinnerung ihrer Ursprünge. Viele Staatspräsidenten haben zum Voodoo eine ambivalente oder offen manipulatorische Haltung eingenommen, um ihre Macht im Volk zu verankern oder auch nur an die Macht zu kommen.

Heute ist der Voodoo als Religion und als ein kultureller Bezugsrahmen anerkannt, der die Künste inspiriert – besonders Malerei, Musik und Tanz. Vereinigungen von Voodoo-Priestern sind entstanden, um den Schutz der Tempel und die Freiheit der Religionsausübung sicherzustellen; an ihrer Spitze steht einer, der in- und ausländischen Medien bekannt ist. Dennoch ist jeder Tempel im Besitz des jeweiligen oungan oder der mambo (des Priesters oder der Priesterin) und wirkt autonom, ohne hierarchische Anbindung an irgendein Zentrum. Seit einigen Jahren tritt der Voodoo auch zunehmend in der Öffentlichkeit auf – unter anderem in Dokumentarfilmen, Debatten und Musikgruppen, die „racines“ genannt werden.

Die Vorurteile, die den Voodoo mit Hexerei und teuflischen Praktiken in Verbindung bringen, sind jedoch zählebig und werden vom Protestantismus wieder aufgegriffen. Baptisten und Methodisten gibt es in Haiti seit dem 19. Jahrhundert und sie gewinnen ständig Anhänger. Aber vor allem die Pfingstkirchen greifen die alten Vorstellungen vom Voodoo auf und drängen die Menschen, diesem Glauben abzuschwören. Paradoxerweise übernehmen sie jedoch zugleich die Träume und Trancezustände, in denen sich für sie nun der Heilige Geist statt der afrikanischen Gottheiten zeigt. Hier ist Intoleranz gegenüber dem Voodoo am Werk. Diese kann sich die Krise zunutze machen, in der sich die Glaubensinhalte und Praktiken des Voodoo infolge der Landflucht und der Auswanderung vieler Haitianer in andere Länder der Karibik, in die Vereinigten Staaten oder nach Kanada offenbar befinden – eine Abwanderung vom Land, die in der anhaltenden Wirtschaftskrise und der Umweltzerstörung begründet ist.

Der Prozess der Demokratisierung des Landes hat es den Eingeweihten und Priestern des Voodoo erleichtert, sich öffentlich zu äußern. Doch Haiti hat noch erhebliche Schwierigkeiten, eine stabile Demokratie aufzubauen und wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu setzen. Wenn es gelänge, das Bildungsniveau aller Schichten der Gesellschaft zu heben (es ist heute das niedrigste in der ganzen Region), dann würde wohl die Mehrheit der Haitianer einsehen, dass religiöser und kultureller Pluralismus ein wesentlicher Zug der haitianischen Gesellschaft ist – ebenso wie in der gesamten Karibik und der ganzen Welt. 

Aus dem Französischen von Christian Neven-du Mont.

Laënnec Hurbon ist Theologe und Soziologe. Er ist Forschungsleiter am Centre National de Recherche Scientifique (Paris) und Professor an der von ihm mit gegründeten Quisqueya-Universität in Port-au-Prince. Zu seinen Büchern gehören Les Mystères du Vaudou (Paris 1993) und Religions et lien social: L‘Église et l‘État moderne en Haïti (Paris 2004).

welt-sichten 8-2008

 

erschienen in Ausgabe 8 / 2008: Die Macht der Religionen
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