„Die Ideen stammen aus der Lebenswirklichkeit unserer Zielgruppen“

Papashotit/Welthungerhilfe/Papa Shabani
Über eine von der Welthungerhilfe mitentwickelte App erhalten Bäuerinnen und Bauern in Uganda, Malawi und Simbabwe landwirtschaftliche Beratung.
Welthungerhilfe
Sechzigstes Jubiläum feiert die Welthungerhilfe dieses Jahr. Die Organisation beansprucht für sich, auf der Höhe der Zeit zu arbeiten. Innovationen seien wichtig, aber kein Selbstzweck sagt der zuständige Teamleiter, Florian Landorff.

Florian Landorff leitet das Team Innovation bei der Welthungerhilfe in Bonn.
Seit wann hat die Welthungerhilfe ein Team für Innovation?
Seit Anfang 2017. Die Welthungerhilfe hat natürlich auch schon vor der Gründung unseres Teams Innovationen hervorgebracht. Der Beitrag meiner Einheit besteht darin, bestimmte Ansätze aufzugreifen und systematischer zu entwickeln. Zudem geht es darum, die Wirksamkeit innovativer Ansätze zu erhöhen, etwa indem Produkte daraus gemacht werden, die den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer angepasst sind. Das Ziel ist, dass solche Produkte sich irgendwann selbst tragen und unabhängig von finanzieller Förderung sind, so dass sie sich selbstständig weiterverbreiten.

Was war denn eine bemerkenswerte Innovation aus Ihrem Haus in den vergangenen Jahren?
Ein Beispiel sind Apps, die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern Zugang zu landwirtschaftlicher Beratung verschaffen. In vielen Ländern etwa in Afrika fahren Berater der Regierung zu den Bäuerinnen und Bauern und versorgen sie mit Informationen zu landwirtschaftlichen Methoden oder zu Preisen auf dem Markt. Wir haben in Simbabwe, Malawi und in Uganda gemeinsam mit den Regierungen solche Informationen digital verfügbar gemacht und an die Endgeräte der Nutzerinnen und Nutzer angepasst. Auf diese Weise erreichen wir und die beteiligten Regierungen viel mehr Menschen als früher.

Wie viele derzeit?
Rund 160.000 in den drei Ländern. Wir wollen die Apps mittelfristige in sechs weitere, französischsprachige Länder in Afrika bringen. Am Ende wollen wir damit Millionen Menschen erreichen.

Die Suche nach Innovationen wird in vielen Organisationen als eine Art Wettbewerb organisiert, auch in der Welthungerhilfe: Bei Ihnen gibt es das Innovation Lab, in dem Teams ihre Ideen vorstellen. Bringt das tatsächlich die besten Ideen hervor oder nicht auch viele unbrauchbare Schnellschüsse?
Ideen zu finden, heißt für mich vor allem Räume zu schaffen, in denen einfach mal was Neues ausprobiert werden kann. Manchmal sind es die auf den ersten Blick verrücktesten Ideen, die einen Kern haben, der eine neue Lösung für ein lange bestehendes Problem enthält. Bei Innovationen geht es gar nicht immer darum, etwas ganz Neues zu erfinden. Oft ist es die Modifikation einer älteren Idee. Viele Ideen führen tatsächlich nicht weiter, aber man muss die Kreativität zulassen, um die guten rauszufiltern.

Bitte ein Beispiel für eine Innovation, die eine bestehende Idee weiterentwickelt hat?
In vielen Ländern gibt es in den Städten sogenannte vertikale Gärten. Das sind etwa offene Säcke, in denen Gemüse angebaut wird. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von uns in Bangladesch und im Sudan haben irgendwann festgestellt, dass Menschen in Flüchtlingslagern solche Möglichkeiten nicht nutzen, weil sie nicht wissen, wie lange sie überhaupt im Lager bleiben. Eines unserer Teams, das im Finale des Ideenwettbewerbs 2021 stand, hat deshalb einen Wagen entwickelt, auf dem Gemüse angebaut und der mitgenommen werden kann. Davon lassen wir gerade die ersten Prototypen herstellen, um sie mit potenziellen Nutzerinnen und Nutzern zu testen. Das war keine großartige technologische Entwicklung: VertikaleGärten und Wagen gab es vorher schon. Innovativ war die Idee, beides zusammenzubringen.

Wie wichtig ist es, dass die Zielgruppen bei der Suche nach Innovationen beteiligt sind?
Das ist der Schlüssel für wirksame Produkte. Die Ideen stammen aus der Lebenswirklichkeit unserer Zielgruppen – wie etwa die mobilen Gärten. Während der Erstellung eines Produktes sind wir ständig im engen Austausch mit den Zielgruppen und fragen nach, ob wir überhaupt auf dem richtigen Weg sind. Das hilft uns auch, effizient zu sein und von untauglichen Ideen abzulassen.

Wie groß ist die Gefahr, dass die Suche nach Innovationen und neuen Produkten ablenkt von den politischen und wirtschaftlichen Ursachen für Hunger und Armut? Beispiel landwirtschaftliche Beratung: Das wurde früher mal als Aufgabe der Regierung gesehen, wurde dann in vielen Ländern eingespart – und jetzt gilt eine App als Lösung.
Richtig ist, dass Innovationen kein Selbstzweck sein dürfen. Richtig ist auch, dass die Idee, Bäuerinnen und Bauern mit Informationen zu versorgen, nicht neu ist. Aber die App bietet einen Ansatz, der kostengünstiger als persönliche Beratung und sehr wirksam ist. Die Welthungerhilfe arbeitet seit 60 Jahren, wir wissen, was gegen Hunger und für landwirtschaftliche Entwicklung zu tun ist, und wir wissen, was wir können. Wir müssen uns aber angesichts unserer Verpflichtung den Menschen gegenüber ständig fragen: Wie können wir unsere Arbeit noch effizienter machen? Systematisch Innovationen zu identifizieren, ist ein guter Weg dahin. Natürlich ersetzt die Suche nach Innovationen nicht die bisherige Entwicklungszusammenarbeit; die Arbeit gerade in den Bereichen Politik und Advocacy bleibt weiterhin relevant. Die wollen wir gar nicht ersetzen, sondern unterstützen und verstärken.

Kritiker sagen, digitale Technologien stärken das Modell industrialisierter Landwirtschaft und sind daher nicht im Interesse von Kleinbauern in Afrika.
Wir erleben digitale Technologien als Werkzeuge, mit denen Menschen selbst Lösungen anstoßen können. Wichtig ist, dass diese Werkzeuge gemeinsam mit den Nutzerinnen und Nutzern entwickelt werden. Wir registrieren eine große Nachfrage nach digitalen Angeboten, gerade bei jüngeren Zielgruppen. Sie erwarten außerdem, dass auch wir als Welthungerhilfe uns verändern. Ja, es gibt Gefahren, etwa beim Datenschutz. Dafür muss man sensibel sein, und man muss nach hohen ethischen Standards arbeiten. Dafür sind wir als Welthungerhilfe prädestiniert, da wir keine wirtschaftlichen Interessen haben.

Aber wie groß ist das Risiko, dass ein Agrarunternehmen auf Ihre erfolgreiche App für landwirtschaftliche Beratung aufmerksam wird und kauft? Die Industrie ist sehr interessiert an den Daten, die Bauern über solche Apps weitergeben.
Bei uns gibt es dieses Risiko nicht. Wir bauen die Geschäfte so auf, dass ein kommerzielles Abdriften ausgeschlossen ist. Wir bleiben Miteigentümerin der Produkten und kontrollieren, dass das mittelfristig nicht in eine ganz andere Richtung geht. Wir ziehen uns finanziell irgendwann raus, aber achten darauf, dass die Produkte in guten Händen bleiben und nicht an irgendwelche Wirtschaftsunternehmen geraten. Wichtig ist uns außerdem, dass die Nutzer wissen, dass mit ihren Daten keine Geschäfte gemacht werden.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

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