Das Scheitern der Verhandlungen in Genf beschädigt die Welthandelsorganisation Gespräch mit Matthias Busse und Tobias Reichert
Seit Ende 2001 feilschen die 153 Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation WTO über neue Regeln für den Welthandel, die – so war es versprochen – besonders den Entwicklungsländern Vorteile bringen sollten. Ende Juli schien in Genf eine Einigung in Reichweite. Doch als rund hundert Entwicklungsländer einen speziellen Schutzmechanismus forderten, der es erlauben sollte, ihre Landwirte im Fall eines plötzlichen Anstiegs billiger Agrarimporte zu schützen, lehnten die USA ab, und die Verhandlungen platzten. Welche Folgen kann das haben?
Ist das Scheitern der jüngsten Gespräche im Rahmen der Welthandelsrunde ein Schaden für die Entwicklungsländer?
Busse: Eine Chance für die Öffnung des Handels und den Zugang zu wichtigen Märkten ist vergeben worden. Vor allem bei der Abschaffung der Exportsubventionen für Agrargüter waren Regelungen vorgesehen, die in die richtige Richtung gehen.
Reichert: Aber der Handel war ungleichgewichtig: Die EU und die USA wollten virtuelle Obergrenzen für ihre Agrarsubventionen akzeptieren, wenn im Gegenzug Südafrika, Argentinien und Brasilien ihre Zölle real kürzten. Das dient nicht der Entwicklungsförderung. Insofern war es ein Erfolg der Entwicklungsländer, dass sie den Handel abgelehnt haben. Der spezielle Schutzmechanismus für einheimische Agrarprodukte ist für arme Länder von zentraler Bedeutung. Das Scheitern in Genf ist ein Ausdruck davon, dass sie ihre Interessen besser wahren können.
Wären niedrigere Obergrenzen für Zölle auf Güter außerhalb der Landwirtschaft ein Entwicklungshindernis?
Busse: Ein Land kann eine Zeit lang Schutz benötigen, um seine Industrie zu entwickeln. Wenn sie wettbewerbsfähig ist, kann es dann die Märkte öffnen und exportieren. Das hat in Taiwan und Südkorea gut funktioniert. Es gibt aber Fälle, in denen jahrzehntelanger Zollschutz nichts nützt, sondern im Gegenteil ineffektive Strukturen festigt. Der Strukturwandel, den man mit einer Öffnung des Handels auslöst, und der damit verbundene Anpassungsdruck kann sehr vorteilhaft für Entwicklungsländer sein.
Ist es aber sinnvoll, ihnen die Möglichkeit zu nehmen, Erziehungszölle auszuprobieren?
Reichert: Aus meiner Sicht eher nicht. Zwar ist in vielen Ländern der Versuch, Zölle als Entwicklungsinstrument zu benutzen, schief gegangen. Aber es scheint noch häufiger schief zu gehen, wenn man von Anfang an auf Freihandel setzt. So hat die Marktöffnung im südlichen Afrika in den 1980er Jahren nicht zu einer Anpassung geführt, sondern zum Rückfall in die Subsistenzlandwirtschaft. Mit strikten Obergrenzen für Zölle nimmt man Ländern ein Werkzeug, ihre Wirtschaft zu entwickeln. Man sollte einen gewissen Spielraum einräumen – es ist Sache der nationalen Regierung, wie sie den nutzt.
Busse: Die Bedingungen für eine erfolgreiche Handelsliberalisierung sind inzwischen bekannt. Dazu gehören eine funktionierende Infrastruktur und gut ausgebildete Arbeitnehmer, um an der globalen Arbeitsteilung teilzunehmen. Sonst produziert man nur Agrarprodukte und Rohstoffe, mit denen man bis vor kurzem keine langfristigen Wohlfahrtsgewinne erzeugen konnte, denn deren Preise sanken. Genau bei den Produkten hatten die afrikanischen Länder Wettbewerbsvorteile. Deshalb hätten sie ihre Märkte nie derart öffnen dürfen.
Sind die Bedingungen dafür denn jetzt gegeben?
Busse: Nein. Die ärmsten Länder brauchen lange Übergangsfristen von dreißig, vierzig Jahren. Die kann man im Rahmen der WTO vereinbaren und sie mit Hilfe zum Handel darin unterstützen, die Voraussetzungen für Erfolg auf Exportmärkten zu schaffen und die Marktöffnung abzufedern. Wegen der potenziellen Wohlfahrtsgewinne des Handels sollte man aber den Druck aufrecht erhalten. Wenn man Länder abgeschottet lässt, passiert gar nichts.
Reichert: Die ärmsten Länder waren in der Doha-Runde allerdings von Zollsenkungen ausgenommen. Bei der Liberalisierung geht es um Länder mit mittlerem Einkommen wie Indonesien, die Philippinen, Argentinien oder Südafrika. Und für die liegen die Übergangsfristen nur zwischen fünf und zehn Jahren.
Busse: Genau diese Länder können aber am meisten von der Öffnung und Restrukturierung ihrer Volkswirtschaften profitieren. Das zeigen Südkorea, Taiwan, China, Indien oder Vietnam. Unter dem Anpassungsdruck des Weltmarkts würden dort zwar einige Industrien pleite gehen. Aber warum muss jedes Land eine Autoindustrie haben oder Flugzeuge bauen? Handel und Spezialisierung würden insgesamt die Wohlfahrt steigern. Unter dem Anpassungsdruck würden sie zudem lernen, ihre Institutionen zu verbessern. Und eine Marktöffnung verringert den Spielraum für Lobbyismus und politische Sondergewinne. Wir kennen kleine Volkswirtschaften, in denen wenige gut vernetzte Unternehmer ihre Interessen durchsetzen. In geöffneten Volkswirtschaften ist das schwieriger.
Reichert: Ich bezweifle trotzdem, dass man einheitliche Zollsenkungen anstreben sollte. Zur Zeit ist vorgesehen, nach einer bestimmten Formel die Industriezölle aller Länder umso stärker zu senken, je höher sie sind. Das Ergebnis wäre eine Obergrenze. Ich bin sehr skeptisch, ob das flexibel genug ist, um Unterschieden zwischen Argentinien, Südafrika oder Indonesien gerecht zu werden.
Wenn die ärmsten Länder von der Pflicht zu Zollsenkungen ausgenommen werden sollten, dann ist für sie die Öffnung der Agrarmärkte im Norden der wichtigste Teil der Verhandlungen, oder?
Busse: Ja. Wenn Doha scheitert, sind die USA und die Europäer nicht daran gebunden, ihr Versprechen einzuhalten und bis 2013 die Exportsubventionen für Agrargüter vollständig abzuschaffen. Das ist eine große Gefahr für die ärmsten Länder. Zudem führen die anderen Agrarsubventionen im Norden dazu, dass dort mehr produziert wird. Damit werden Exportchancen für Entwicklungsländer zunichte gemacht, weil wir entsprechend weniger abnehmen. Und wir haben horrend hohe Zollsätze für einige Agrarprodukte. Teilweise hätten die Zölle der EU um mehrere hundert Prozent gesenkt werden müssen.
Die Bewertung „Besser gar kein Abkommen als dieses“ stimmt aus der Sicht der armen Länder also nicht?
Reichert: Doch. Im Laufe der Doha-Runde haben es die Entwicklungsländer immer mehr geschafft, ihre eigenen Interessen auf die Tagesordnung zu setzen. Sie sind schon relativ weit gekommen, aber noch lange nicht dahin, wo sie hin wollen. Es wäre zwar schade, das Erreichte wegzuwerfen, aber jetzt abzuschließen hätte immer noch eine Niederlage bedeutet.
Busse: Ich kann verstehen, dass die Entwicklungsländer unzufrieden waren mit dem Ergebnis, das in Genf auf dem Tisch lag. Sie mussten nach der letzten, 1994 abgeschlossenen Uruguay-Verhandlungsrunde ihre Märkte zum Teil überproportional öffnen. Die USA und die Europäer hingegen haben ihre Zusagen teilweise nicht eingehalten; sie zögern, bei der Landwirtschaft etwas zu beschließen, das ihnen wehtut. Die USA haben in Genf eiskalt gepokert, weil sie wissen, dass sie ihre Interessen auch bilateral oder regional sehr gut durchsetzen können. Sie selbst leiden unter einem Scheitern der Verhandlungen weniger als die Entwicklungsländer.
Die Industrieländer haben also wenig Interesse am multilateralen Handelssystem?
Busse: Das ist nicht so eindeutig zu beantworten. In vielen Bereichen sind die Industrieländer sehr wohl in der Lage, ihre Interessen durchzusetzen. Doch einheitliche globale Regeln sind für Unternehmen viel transparenter als ein Wirrwarr von bilateralen und regionalen Abkommen. Für Exporteure ist es teilweise sehr kompliziert herauszufinden, für welche Länder welche Sondervereinbarungen gelten. Die WTO-Regeln geben zudem eine gewisse Rechtssicherheit, man kann gegen Verstöße vorgehen.
Ist die Doha-Runde aus Ihrer Sicht tot?
Reichert: Die optimistische Variante ist, dass man fünf Jahre weiter verhandelt und am Ende flexiblere Marktzugangsregeln für Industriegüter, klarere Regeln für Agrarsubventionen und eine Abschaffung der Baumwollsubventionen im Norden erreicht. Die pessimistische Variante ist, dass sich die gemeinsame Position der Entwicklungsländer auflöst. Für Brasilien als Agrarexporteur ergibt zum Beispiel ein Schutzmechanismus für die Landwirtschaft keinen Sinn, und dem Land ist es eigentlich egal, wie es afrikanischen Bauern geht. Es hat aber die Forderung mitgetragen, weil afrikanische und indische Bauern gewisse ähnliche Interessen haben und Brasilien zusammen mit Indien in der Gruppe der 20, der auch einige afrikanische Länder angehören, etwas durchsetzen wollte. Wenn es weniger gelingt, solche Interessengegensätze unter Entwicklungsländern auszubalancieren, kann das gerade für die ärmsten Länder gefährlich werden.
Busse: Ich glaube, die Gespräche werden wieder aufgenommen – allerdings frühestens in anderthalb Jahren, wenn in den USA und Indien neue Regierungen und in Brüssel eine neue EU-Kommission im Amt sind. Es gibt Chancen auf einen Abschluss, aber es wird noch schwieriger als in der Uruguay-Runde. Damals mussten sich nur die USA und die Europäer einigen. Jetzt wollen mit Indien, Brasilien und China drei mächtige Entwicklungsländer ein Wort mitreden. Das Weltwirtschaftssystem wird neu austariert. Das nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch.
Ist die WTO die geeignete Struktur, um diese Veränderungen abzubilden, oder braucht sie eine grundlegende Reform?
Busse: Die WTO gilt als demokratisch, weil theoretisch jedes Land ein Veto hat. Doch auf ein Land wie Burkina Faso trifft das in der Praxis nicht zu. Seit fünfzig Jahren bestimmen die Industrieländer, wo es langgeht. Das ist nicht mehr angemessen. Genauso unangemessen ist aber, dass sich China, Indien und Brasilien als Vertreter der Entwicklungsländer darstellen. Warum sollen nur die großen Mächte an den Kamingesprächen teilnehmen, in denen die Entscheidungen fallen?
Reichert: Im Blick auf ihre Struktur ist die WTO ein Stück weiter als die Weltbank und der Internationale Währungsfonds. Inzwischen gibt es eine afrikanische Gruppe in der WTO, die zu den Gesprächen über die grundlegenden Abkommen eingeladen wird. Sie haben es geschafft, in den zweiten Kreis der Macht vorzudringen. Doch im inneren Zirkel der sieben führenden Mächte sind die Afrikaner nicht dabei.
Befürchten Sie eine Regionalisierung des Welthandelssystems?
Busse: Diese Tendenz haben wir schon. Ich sehe erstens die Gefahr, dass sie aufgrund der Unzufriedenheit mit der WTO verstärkt wird. Wenn die multilaterale Handelsliberalisierung schneller ginge, gäbe es viele bilaterale Abkommen nicht. Die EU zwingt jetzt schon mit Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs) afrikanische Länder zu einer Öffnung, zu der sie noch nicht in der Lage sind. Die Amerikaner werden ähnliches in Lateinamerika und vielleicht auch in Asien versuchen. Zweitens könnten nach einem endgültigen Scheitern der Doha-Runde die erreichten Spielregeln wieder in Frage gestellt werden. So könnten die USA auf die Idee kommen, wenn sie ständig Verfahren vor der WTO verlieren, sich nicht mehr an deren Regeln zu halten. Ich fürchte, dass die WTO dauerhaft Schaden nehmen wird, wenn die Doha-Runde nicht abgeschlossen wird. Die ärmsten Länder würden dann die Verhandlungsmacht und den Schutz verlieren, den die WTO ihnen gegenüber großen Wirtschaftsmächten wie der EU oder den USA verschafft.
Reichert: Hinzu kommt: Viele Probleme kann man nur multilateral lösen. Bilateral kann man vereinbaren, die Märkte gegenseitig zu öffnen. Aber ein einzelnes Land kann zum Beispiel nicht von der EU verlangen, dass sie ihre Agrarsubventionen einschränkt. Daher sind bilaterale Abkommen noch gefährlicher ohne die WTO oder eine andere multilaterale Institution, die solche Probleme zumindest teilweise löst.
Das Gespräch führten Bernd Ludermann und Gesine Wolfinger.
Dr. Matthias Busse ist Leiter des Kompetenzbereichs Weltwirtschaft am Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI).
Tobias Reichert ist Referent für Welthandel und Ernährung bei Germanwatch in Berlin.
welt-sichten 9-2008