Garnelen mit bitterem Beigeschmack

Riesige Fischfarmen verdrängen im malaysischen Teil Borneos zunehmend die traditionellen Fischteiche in den Dörfern. Die Regierung will mit der industriellen Fischzucht die Armut bekämpfen und die Bevölkerung des Landes mit mehr tierischem Eiweiß versorgen. Geschäftsleute begrüßen den Wandel, doch die Dorfgemeinschaften fürchten um ihre Existenz.
Tief im Urwald des malaysischen Teils von Borneo, am Oberlauf des Rejang-Flusses, bleibt Gebril Atong plötzlich stehen. Neben der von Bulldozern grob durch den Wald geschlagenen Schneise liegt ein Stapel halb zerhackter Baumstämme. „Darunter sind meine Fischteiche“, erklärt er. „Eines Tages kamen die Leute von der Plantage einfach vorbei und haben alles abgeholzt. Der Abfall wurde in die Teiche geworfen und die Fische sind gestorben. Sie waren meine Existenzgrundlage.“

Autor

Jonathan Gorvett

ist freier Journalist mit Schwerpunkt Südasien und Südostasien.

Gebril Aton ist einer von vielen Einheimischen, die bei der Industrialisierung im Bundesstaat Sarawak den Kürzeren gezogen haben. In vielen asiatischen Ländern zerstören Industrialisierung und Wirtschaftswachstum traditionelle Lebensformen – oft geschieht das brutal. Aquakulturen mit den traditionellen kleinen Fischteichen und Fischkäfigen werden verdrängt von tausend Hektar großen industriellen Fischfarmen mit der kompletten Infrastruktur vom Forschungslabor bis zur Verpackungsanlage und mit neuen Wohnsiedlungen, wo bezahlte Arbeit an die Stelle des Jagens und Sammelns tritt.

Für manch einen bedeutet das Fortschritt und die Chance auf Wohlstand. Andere sind der Ansicht, dass damit für einen zweifelhaften ökonomischen Nutzen Dorfgemeinschaften zerstört und die Umwelt geschädigt werden. In anderen Ländern Asiens hat dieser Wandel mitunter auch Gewalt hervorgerufen und Todesopfer gefordert. „Aquakulturen hatten für uns nur Nachteile“, sagt Khushi Kabir, die Koordinatorin der Menschenrechtsorganisation Nijera Khori in Bangladesch, die gegen die Ausbreitung der industriellen Garnelenzucht kämpft. „Wir haben uns eingemischt, als einer von uns ums Leben gekommen war. Die Industrie schreckt vor Gewalt nicht zurück und die Unternehmen setzen zum Schutz der Shrimp-Farmen bewaffnete Wächter ein.“

Auch viele internationale nichtstaatliche Organisationen (NGO) sind wegen der Ausbreitung industrieller Aquakulturen alarmiert. Einigen wenigen Menschen hätten sie „geradezu obszönen Reichtum gebracht“, sagt Amit Kumar Raj von Asia Solidarity Against Industrial Aquaculture (ASIA). „Aber sie hat auch Millionen zu Bettlern gemacht.“

Die malaysische Regierung jedoch sieht die Sache völlig anders. Sarawak, wo Gebril Aton lebt, und das benachbarte Sabah sowie das Bundesterritorium Labuan bilden zusammen den malaysischen Teil Borneos. Die ländlichen Regionen hier sind die ärmsten des ganzen Landes. Nach Statistiken der Weltbank lebten 2009 ein Drittel aller armen Familien Malaysias in Sabah und Labuan, obwohl dort nur 3,6 Prozent aller Haushalte des Landes angesiedelt sind. Unter den Ärmsten sind vor allem indigene Gruppen wie die Rungu oder die Punan, denen auch Gebril Atong angehört.

Diesen Menschen aus der Armut zu helfen, ist das erklärte Ziel beider Regionalregierungen und der malaysischen Bundesregierung. Erreicht werden soll das unter anderem mit der Industrialisierung insbesondere der Aquakulturen. Das gilt gleichzeitig als wichtiger Beitrag zur Ernährungssicherheit des Landes – das heißt die benötigte Nahrung so weit in Malaysia zu produzieren, dass man nicht den Preisschwankungen des internationalen Lebensmittelmarktes ausgesetzt ist. In diesem Jahr seien 821,4 Millionen malaysische Ringgit (knapp 200 Millionen Euro) für elf Projekte bereitgestellt worden, darunter großflächige Aquakulturen, berichtete Datuk Seri Noh Omar, der Minister für Landwirtschaft und Agroindustrie, unlängst in Kuala Lumpur.

Nach Angaben des Ministeriums produzierten die industriellen Aquakulturen in Malaysia im vergangenen Jahr gut 478.000 Tonnen Fisch mit einem Wert von rund 2,4 Milliarden Ringgit (etwa 560 Millionen Euro). Laut dem stellvertretenden Landwirtschaftsminister Datuk Wira Mohd Johari Baharum wird das Land die Produktion bis 2015 auf 727.300 Tonnen erhöhen, was einem Wert von rund 7 Milliarden Ringgit (1,66 Milliarden Euro) entsprechen würde. Auf diese Weise entstünden „ungefähr 40.000 neue Jobs für die Leute vor Ort“ und Malaysia werde es so auch gelingen, „bei den Proteinen eine Selbstversorgung durch Fisch“ zu erreichen, erklärte der stellvertretende Minister im Januar.

Die Aquakulturen sind auch Teil des neuen nationalen Plans zur Entwicklung der Wirtschaft, des Economic Transformation Programme (ETP). Danach verfügt Malaysia über eine Küste von 4675 Kilometern Länge, die dafür nutzbar ist. In Sabah hat die Regionalregierung im Rahmen des ETP 7500 Hektar Land an der Küste für die Produktion von Seetang in speziellen Zonen für Industrielle Aquakultur (Industrial Aquaculture Zones, IAZ) ausgewiesen, wobei geplant ist, diese Zonen bis 2015 auf insgesamt 20.500 Hektar auszudehnen.

Industrielle Aquakulturen sind mindestens 1000 Hektar groß und umfassen Aufzuchtstationen, Mastbecken, Verarbeitungsanlagen und Fabriken zur Futterherstellung. Sie sollen in insgesamt zehn Zonen entstehen, etwa in Sarawak, Kedah, Pahang und Terengganu. In den anderen Bundesstaaten wird der Schwerpunkt auf „zertifizierten und rückverfolgbaren“ Meeresfrüchten liegen, vor allem Garnelen. In Sarawak wurden außerdem 40.000 Hektar Land an der Küste für neuartige Aquakulturprojekte bereitgestellt, darunter solche, die auf den Halal-Markt ausgerichtet sind, das heißt den islamischen Speisevorschriften genügen.

Die Riesenbetriebe werden bevorzugt in den ärmeren Landesteilen errichtet. Manche Geschäftsleute vor Ort begrüßen das und sehen große Beschäftigungs- und Profitchancen. „Wir haben schon lange das Problem, dass unsere Rohstoffe vor der Verarbeitung weggeschafft werden“, sagt James Beng, ein Unternehmer aus Kuching, der Hauptstadt des Bundesstaates Sarawak. „Bäume werden gefällt, ein Unternehmen bringt sie in eine Fabrik in Ostmalaysia oder China. Dort wird das Holz zu Möbeln verarbeitet, die einen viel höheren Preis erzielen als ein Baumstamm. Das Gleiche passiert mit dem Fisch.“ Mit den Aquakulturen könnten nun Garnelen gezüchtet und verarbeitet werden. „So verdienen wir mehr am Export und können mehr Leute einstellen. Außerdem wird das verstärkt ausländische Investoren anziehen.“

Letzteres hat sich erst kürzlich bewahrheitet: Die norwegische Firma BioProtein kündigte an, 600 Millionen Ringgit (rund 140 Millionen Euro) in eine Anlage für die Herstellung von proteinreichem Futter für Aquakulturen in Malaysia zu investieren. Bintulu in Sarawak wird als ein möglicher Standort gehandelt. Für die Futterherstellung wird Erdgas benötigt, das vor der Küste Bintulus reichlich vorkommt. Europäische Unternehmen haben schon lange ein Interesse an der malaysischen Aquakultur-Industrie. Deren Betreiber müssen für den Handel mit der Europäischen Union (EU) zertifiziert sein und bei zugelassenen Zuchtbetrieben einkaufen. 2010 gab es im ganzen Land 18 solcher Betriebe, und der jährliche Handel mit der EU bezifferte sich laut Ministerium für Landwirtschaft und Agroindustrie auf rund 600 Millionen Ringgit (etwa 140 Millionen Euro).

Aber nicht alle freuen sich über die weitere Ausdehnung der Aquakulturen. Manch einer bezweifelt, dass die Industrie in der Lage ist, der Wirtschaft vor Ort wirklich zu helfen. „Jede wirtschaftliche Entwicklung hier läuft auf das Gleiche heraus“, sagt Okang Ban, der aus demselben Langhaus in Punan Bah am Ufer des Rejang stammt wie Gebril Atong. „Ein großes Unternehmen kommt daher, heuert billige Arbeitskräfte aus Indonesien an, zäunt das ein, was früher unser Land war, und exportiert dann alles, was hergestellt wird, ins Ausland. Für uns gibt es keine Jobs und keine Vorteile, und wenn wir auf dem Grundstück jagen oder fischen wollen, werden wir wegen widerrechtlichen Betretens des Geländes festgenommen.“

Für Natasha Ahmad von ASIA steht ebenfalls fest: „Das Versprechen von mehr Jobs und höheren Einkommen ist ein Märchen. Studien in Bangladesch, Indonesien und Thailand belegen eindeutig einen Rückgang der Wirtschaft vor Ort, nachdem die industriellen Aquakulturen ihren Betrieb aufgenommen haben.“ Die Fischfarmen beeinträchtigen die lokalen Wirtschaftskreisläufe und führen zu Umweltschäden und einem Verlust an Artenvielfalt. „Für die Garnelenzucht braucht man Salzwasser“, sagt die Menschenrechtsaktivistin Kabir aus Bangladesch. „Wenn man das Land mit Salzwasser überschwemmt, verbreitet sich das Salz und tötet Pflanzenarten ab. Es lässt auch die Bäume absterben, die arme Bauern als Feuerholz und Baumaterial nutzen.“ Wo es früher Bauernhöfe, Felder und Bauern gegeben habe, finde man am Ende nur noch Fabriken, Ödland und Sicherheitspersonal.

Malaysias Behörden betonen, dass ihre Pläne nachhaltige Aquakulturen zum Ziel hätten, die strengen Umweltauflagen genügten. Im nationalen Entwicklungsplan wird mehrfach hervorgehoben, dass die Fisch- und Shrimpsfarmen „vollständig zertifiziert und rückverfolgbar“ sein müssen, damit die Verbraucher in Europa und andernorts wissen, was bei ihnen auf den Tisch kommt. Der World Wildlife Fund (WWF) entwickelt seit einiger Zeit ein Gütesiegel für Produkte aus nachhaltiger Aquakultur, das Aquaculture Stewardship Council (ASC). Es soll das Marine Stewardship Council (MSC) ergänzen, das für nachhaltige Meeresfischerei vergeben wird. Fischzüchter, Umweltschützer, Vertreter von Regierungen und anderen Interessensgruppen legen dabei gemeinsam Umwelt- und Sozialstandards für neun typische Zuchtfische wie Lachs, Pangasius und Shrimps fest.

Das Siegel stößt aber auch auf Kritik. Die Standards des WWF seien erneut ein unrealistischer Versuch, die Profite einer zerstörerischen Industrie zu rechtfertigen und auszudehnen mit der Folge, dass weitere Mangrovenwälder verloren gehen und Dorfgemeinschaften vor Ort verdrängt werden, sagt Alfredo Quarto vom Mangrove Action Project (MAP). Andere sehen Probleme bei der Rückverfolgbarkeit. „Es ist sehr schwierig, eine einzelne Garnele zurückzuverfolgen“, erläutert Kushi Kabir. „Auf der Dorfebene ist die Zertifizierung in Wirklichkeit nicht mehr als ein Blatt Papier.“

Im malaysischen Teil Borneos sind die traditionellen Aquakulturen unterdessen genauso bedroht wie die Lebensformen, die davon abhängen. „Natürlich kann man über die Umweltstandards der einen oder anderen Fischfarm streiten“, sagt Okang Ban. „Aber für viele unserer Leute ist es jetzt einfach so, dass die Industrialisierung sie aus ihren Langhäusern und Dorfgemeinschaften vertreibt und sie jede Art von Landwirtschaft aufgeben müssen.“

Ban deutet auf den Fluss, der von Punan Bah aus flussaufwärts so flach ist, dass nur kleinste Boote darauf fahren können. Das ist so, seit weiter oben der riesige Bakun-Staudamm fertiggestellt wurde. „Am Anfang war das toll“, erinnert sich Ban. „Das Wasser fiel so stark ab, dass man die Fische mit den Händen fangen konnte. Doch dann gab es gar keine Fische mehr.“

„Ich habe Angst“, sagt Gebril Atong auf dem Weg zurück zum Boot. „Vielleicht sind wir die letzte Generation, die hier lebt.“ Möglicherweise ist die traditionelle Aquakultur schon nicht mehr zu retten, während noch darüber gestritten wird, was die geplanten Großbetriebe aus Gegenden wie Sarawak und Sabah machen werden. Für Amit Kumar Raj ist die Botschaft an die Verbraucher dennoch klar: „Hört auf, importierte Garnelen aus tropischen Aquakulturen zu essen.“ Unternehmer James Beng sieht das ganz anders: „Aquakulturen sind eine großartige Investition.“

aus dem Englischen von Barbara Kochhan.

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erschienen in Ausgabe 8 / 2011: Die Jagd nach dem dicksten Fisch
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