High-Tech für die Armen

Indien experimentiert mit erneuerbaren Energiequellen. Netzunabhängige Solaranlagen sorgen dafür, dass auch in entlegenen Bergdörfern die Lichter angehen. Unternehmer und Tüftler probieren Biogas-Anlagen und Strom aus Biomasse aus. Für manche Dorf- und Slumbewohner eröffnen sich dadurch neue Welten.

Darewadi, das sind rund 40 Haushalte am Ende der Welt. Hier baut Nanubai Borade zusammen mit ihrem Mann Balasaheb Reis und Hülsenfrüchte an. Wer sie besuchen will, fährt stundenlang über kurvenreiche, schlaglochzerfressene Bergstraßen immer höher hinauf in die Western Ghats-Berge, die das südindische Hochplateau von der Küstenebene am Arabischen Meer trennen. Doch seit vier Monaten ist in Darewadi alles anders als früher.

„Ich hätte mir niemals träumen lassen, wie stark der elektrische Strom mein Leben verändert“, sagt Nanubai Borade. Am Rand des Dorfes funkeln neben einem kleinen, schmucklosen Haus vier Reihen bleigrauer Solarpaneele in der Sonne. Das Gebäude aus rohen Ziegeln beherbergt einen Stromwandler, automatische Schaltkreise sowie eine große Batterie, die den Strom für die Nacht speichert. An einem guten Tag liefert die Anlage 45 Kilowattstunden.

Autor

Rainer Hörig

war dreißig Jahre lang als freier Korrespondent für deutsche Medien in der indischen Industriestadt Pune tätig. Heute arbeitet er als Redakteur der deutsch-indischen Zeitschrift „Meine Welt“.
 
Errichtet wurde sie von Technikern eines großen deutschen Elektrokonzerns. Für die Firma ist es eine Art Machbarkeitsstudie, daher trägt sie auch die gesamten Investitionskosten. Der Bauer Shivaji Shelke hat das Bauland für das Minikraftwerk gestiftet und bezieht dafür lebenslang kostenlos Strom. Die indische Start-Up-Firma Gram Oorja, die auf den Bau netzunabhängiger Kleinkraftwerke spezialisiert ist, koordiniert das Projekt. Gesamtkosten: 7,5 Millionen indische Rupien, umgerechnet etwa 90.000 Euro. „Vor vier Monaten haben wir das Kraftwerk mit einer großen Feier eingeweiht. Meine ganze Verwandtschaft kam, um sich mit uns zu freuen“, berichtet Nanubai Borade mit leuchtenden Augen. „Jetzt kann ich schon vor Sonnenaufgang mit meiner Arbeit anfangen und bin früher fertig. Vor kurzem haben wir einen Fernseher angeschafft, und unser Mobiltelefon laden wir jetzt zu Hause statt im Nachbardorf.“ Nanubai zeigt stolz auf den Stromzähler an ihrer Haustür und die LED-Leuchte in der Küche.
 
„Früher hatten wir nur qualmende Kerosinlampen als Beleuchtung. Die neuen Lichter sind viel heller und sauberer. Dafür bezahle ich gerne ein wenig mehr“, erklärt Nanubai. Der Strom kostet etwa doppelt so viel wie früher Kerosin. Und er bringt sie auf Ideen: „Wir Frauen denken darüber nach, wie wir mit dem Strom Geld verdienen könnten. Wir könnten abends Brotfladen formen und backen und sie auf dem Markt verkaufen oder auch einfache Kleider nähen.“ Für Nanubai und ihre Nachbarinnen öffnen sich neue Welten.
 
Das Stichwort Erneuerbare Energien ruft Bilder von teuren Windkraftanlagen und großen Solarparks wach. Erfolgreiche Experimente in Indien zeigen jedoch, dass High-Tech, wenn es an lokale und soziale Gegebenheiten angepasst wird, auch den Armen das Leben erleichtern kann. Immer neue Anwendungen werden hier ausprobiert, viele von ihnen bewähren sich.
 

Biogasanlagen schonen die Wälder

 
In den Slums der High-Tech-Metropole Bangalore ersetzen solargespeiste LED-Leuchten zunehmend die rauchenden Petroleumlampen. Kleine, netzunabhängige Solarkraftwerke versorgen Inseln oder entlegene Bergdörfer wie Darewadi mit Strom. Kleinbäuerliche Biogasanlagen entlasten die Dorffrauen vom Brennholzsammeln und schonen die Wälder. Innovative Tüftler, engagierte Fachleute und Regierungsprogramme stellen Geld bereit und machen die moderne Energie auch den Armen zugänglich.
 
Rückschläge sind dabei unvermeidlich. So scheiterte etwa ein Regierungsprogramm zum Anbau von Jatropha zur Gewinnung von Biodiesel am Widerstand vieler Dorfgemeinschaften, die für ihr Land dringendere Verwendung haben. Doch das schreckt Entwicklungsplaner und innovative Firmen nicht ab bei ihren Versuchen, umweltschonend Energie zu gewinnen.
 
Denn Indien hat einen schier unersättlichen Energiehunger. Die staatlichen Elektrizitätsgesellschaften sind nicht in der Lage, den wachsenden Bedarf zu decken – Stromabschaltungen sind überall an der Tagesordnung. Auf dem Land wird routinemäßig nur sechs Stunden am Tag Strom geliefert, mehr steht nicht zur Verfügung. Dabei sind mehr als vierzig Prozent aller Haushalte noch gar nicht ans Netz angeschlossen, verbrauchen also keine einzige Wattstunde. 35.000 Dörfer warten dringend auf einen Anschluss.  
 
Zum Jahresbeginn 2013 liegt die Stromerzeugerkapazität in Indien bei 210.000 Megawatt, etwa ein Viertel höher als die deutsche. Mehr als die Hälfte des Stroms wird über das Verbrennen von Kohle, Öl und Gas gewonnen, ein Viertel steuern große Wasserkraftwerke bei. Atomkraftwerke liefern drei Prozent und rund zwölf Prozent des Stroms stammen aus erneuerbaren Quellen.
 
 
Damit die indische Wirtschaft weiterhin rasch wachsen kann, sollen nach dem Willen der Regierung in den kommenden zehn Jahren neue Kraftwerke mit einer Kapazität von 100.000 Megawatt entstehen, die meisten Verbrennungskraftwerke auf Kohlebasis. In den bergigen Dschungelregionen des östlichen Zentralindien, den Siedlungsgebieten vieler Ureinwohner, werden neue Kohlegruben ausgehoben. An den fruchtbaren Küsten sollen Atomkraftwerke und moderne Kohlekraftwerke gebaut werden, die mit Kohle aus Übersee befeuert werden. Im Himalaya sind Dutzende großer Staudämme im Bau, mehrere Hundert weitere sind geplant.
 
Doch an vielen Orten regt sich Protest gegen derartige Großprojekte, weil Tausende Bauern um ihr Land, das Wasser und reine Luft fürchten, die ihre Lebensgrundlagen garantieren. Auseinandersetzungen mit der Polizei führen häufig zu Verletzten, bisweilen auch zu Toten.
 
Die erneuerbaren Energien sind trotz einzelner Proteste gegen Windkraftanlagen weithin akzeptiert. Das hohe Stromdefizit veranlasste die Regierung bereits 1992, ein Ministerium für Neue und Erneuerbare Energien zu gründen. Dessen Beamte haben zahlreiche Förderprogramme entwickelt, die neuen Energieformen einen Weg in den Markt ebnen: Betreibern von Wind- und Solarkraftwerken wird, ähnlich wie in Deutschland, ein hoher Abnahmepreis für fünfzehn und mehr Jahre garantiert. Für erneuerbare Energieprojekte gelten verminderte Zölle und Abgaben. Abteilungsleiter Ajay Mathur wirft einen Blick in die Zukunft: „Ich schätze, dass sich der Energieverbrauch in Indien in den kommenden zehn Jahren verdoppeln wird. Das stetige Wachstum der erneuerbaren Energien ist ein wichtiger Pfeiler unserer Strategie.“
 

Erneuerbare Energien sollen die Energiesicherheit erhöhen

 
Schon jetzt nimmt Indien eine Spitzenposition bei der Nutzung erneuerbarer Energien ein. Das Land ist der viertgrößte Windstromproduzent der Welt. Mehr als vier Millionen  Biogasanlagen liefern umweltfreundliche Energie in ländlichen Haushalten, mindestens ebenso viele Solarheizer auf Hausdächern bereiten heißes Wasser vor. Die von der Regierung im Rahmen ihrer Klimapolitik verabschiedete „Solar-Mission“ soll die Kapazität für Solarstrom von heute rund einem auf mehr als zwanzig Gigawatt im Jahr 2022 steigern. Dabei stellt der Klimaschutz längst nicht die einzige Motivation für die Förderung der neuen Energien dar.
 
Der Umweltschützer Chandra Bhushan etwa meint, die Erneuerbaren unterstützten Indien auch dabei, seine Unabhängigkeit zu wahren. „Indien baut die Nutzung erneuerbarer Energien aus, weil sie die Energiesicherheit erhöhen, nicht weil sie das Klima schonen“, sagt er. Indien besitze kaum eigene Öl- oder Gasvorkommen. Viele Kohlevorkommen lagerten unter wertvollen Wäldern, die unter Naturschutz stehen.
 
Viele verlassen sich nicht auf die Regierung, sondern nehmen die Verbreitung neuer Energietechnologien selbst in die Hand. Harish Hande, ein jugendlich wirkender Ingenieur, der am amerikanischen Elitecollege MIT studiert hat und sich als sozial verantwortlicher Unternehmer betrachtet, verkauft Solarlichter an die Armen. Seine Angebote schneidet er gezielt auf die Kunden zu: „Ein Tomatenverkäufer braucht beispielsweise weißes Licht, damit seine Ware attraktiv aussieht, ein Verkäufer von Kartoffeln bevorzugt dagegen gelbes Licht“, erläutert er.
 
Bei der Finanzierung greift er den Kunden unter die Arme. Seine Firma SELCO garantiert bei der Bank für den Kredit, sammelt die Raten ein und übernimmt die Wartung der Solaranlagen. „Wir kombinieren eine gute Technologie mit einer attraktiven Finanzierung“, erklärt Hande: „Für einen Straßenverkäufer organisieren wir einen Bankkredit über fünf Jahre, dessen Rückzahlung jeden Tag in kleinen Beträgen erfolgt, denn sein Einkommen fällt auf täglicher Basis an.“ Von einem Bauern dagegen werde die Rückzahlung nach der Ernte eingefordert und deren Zeitpunkt hänge davon ab, was er anbaut und wann seine Frucht reift.
 
Hande rechnet vor, dass die Ratenzahlungen für den Kredit den Kunden kaum teurer kommen als die Ausgaben für Kerosin, mit dem er bisher seine Waren beleuchtet. Wenn die Solarlampen nach fünf Jahren abbezahlt sind, erhalte der Kunde das Licht umsonst. Auf diese Weise hat SELCO bereits 160.000 armen Haushalten in Bangalore und Umgebung zu einer sauberen Beleuchtung verholfen. Das Unternehmen beschäftigt 191 Mitarbeiter und erwirtschaftet einen Jahresumsatz von umgerechnet drei Millionen Euro. Den Gewinn von mehr als 100.000 Euro steckt Harish Hande nach eigenen Angaben in die Entwicklung neuer Produkte.
 
„Die Inhaber kleiner Geschäfte konnten ihr Einkommen mit Solarbeleuchtung um zehn bis fünfzehn Prozent steigern, weil sie länger geöffnet halten können und weil helles Licht Kunden anzieht“, erklärt Hande, der für sein soziales Engagement 2009 mit dem Magsaysay-Award, dem sogenannten asiatischen Nobelpreis, ausgezeichnet worden ist.
 

Längst nicht alle Experimente sind erfolgreich

 
Indien ist ein großes Experimentierfeld für die Anwendung moderner Energietechniken. Wie das kleine Solarkraftwerk in Darewadi zeigt, probieren hier auch deutsche Firmen neue Wege aus. Deutsche Organisationen wie die Andheri-Hilfe oder Green Energy Against Poverty setzen erneuerbare Energien in der Entwicklungszusammenarbeit ein. Eine mittelständische Firma aus Gujarat mit Wurzeln in Berlin installiert solarthermische Dampfgeneratoren für Großverbraucher wie Tempelküchen oder Krankenhäuser – mehr als 50 solcher Anlagen arbeiten bereits.
 
Aber längst nicht alle dieser Experimente sind erfolgreich. So mussten in Nordindien eine Reihe neuer Kleinkraftwerke nach kurzer Betriebszeit wieder schließen, weil ihr Rohstoff, Reisspelzen und andere Ernteabfälle, aufgrund der gestiegenen Nachfrage immer teurer wurde. Ein Bericht des bürgerorientierten Energie-Instituts Prayas, der neue Literatur zu netzunabhängigen Kraftwerken auswertet, weist auf Mängel hin, die häufig zum Ausfall der High-Tech-Anlagen führen: falsches Design, fehlende Wartung, mangelnde Regulierung durch die Aufsichtsbehörden.
 
Anshuman Lathe, dessen Firma Gram Oorja für das Sonnenkraftwerk in Darewadi verantwortlich zeichnet, ist jedoch zuversichtlich, dass die Anlage den Dorfbewohnern langfristig nutzt. Sein Erfolgsrezept lautet Beteiligung: Seine Firma habe die Dorfbewohner ermutigt, an dem Experiment teilzunehmen, und ihnen neues Wissen vermittelt, erzählt er. „Und wir stellten Bedingungen: Ihr müsst einen Verein gründen, der das Kraftwerk beaufsichtigt, darin müssen auf jeden Fall Frauen vertreten sein, und ihr müsst Land für das Kraftwerk zur Verfügung stellen.“ Erst nach der Gründung des Vereins begannen die Bauarbeiten. 

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erschienen in Ausgabe 3 / 2013: Neue Geber: Konkurrenz stört das Geschäft
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