Grenzen respektieren, verschieben, überwinden

In der offenen Begegnung kann man Trennendes anerkennen und zugleich überwinden

Von Christoph Stückelberger

Internationale und interkulturelle Zusammenarbeit ist im Bereich Politik, Wirtschaft, Kultur und Religion ständig mit Grenzen konfrontiert. Grenzsteine zu überschreiten und zu versetzen ist mitunter gefährlich, aber es lohnt sich. Denn dafür ist nicht nur ein „Standpunkt" gefragt und der Respekt für das Trennende, sondern die Bereitschaft, gemeinsam einen Weg zu gehen.

Politische Grenzen sind trotz Personenfreizügigkeit und Globalisierung eine harte Realität. Das erfuhren fünf Personen, die an der Konferenz des internationalen Ethiknetzwerks Globethics.net in Nairobi (Kenia) zu Methoden der interreligiösen Verständigung über globale und kontextuelle Werte teilnehmen wollten: Personen aus dem Libanon hätten in Ägypten, jene aus Kamerun in Nigeria das Visum holen müssen. Politische Grenzen sind häufig auch ökonomische: Wer in einem Entwicklungsland kann es sich leisten, zunächst zur Botschaft Kenias in einem tausend Kilometer entfernten Drittland und zurück zu reisen, weil im eigenen Land keine Vertretung oder Botschaft des Ziellandes existiert, nur um ein Visum für die Teilnahme an einer Konferenz zu erhalten?

Auch für andere Arten von Grenzen war die Erfahrung dieser Konferenz aufschlussreich. Sprachgrenzen scheinen sich zu vermindern und gleichzeitig zu verschärfen: Während früher aufwändige Übersetzungsdienste organisiert wurden, wird heute auf vielen Veranstaltungen englisch als gemeinsame Sprache vorausgesetzt. Das erleichtert die Kommunikation, verdeckt aber auch weiter bestehende Sprachdifferenzen.

Erfahrungsgrenzen zu erweitern und zu überschreiten ist besonders lohnend. Sich der hautnahen Begegnung mit Menschen in einem Slum oder auf einem Arbeitslosenamt auszusetzen, wenn auch nur an einem Konferenztag, verändert den Diskurs: An den Lebenswelten anderer Menschen teilzuhaben kann eine gemeinsame Erfahrungsbasis schaffen, die politische oder ideologische Differenzen zumindest relativiert.

Glaubensgrenzen berühren die tiefste Ebene der Identität einer Person und erfordern entsprechend großen Respekt von Andersgläubigen oder Ungläubigen. Anteil zu nehmen am zentrierenden Ton einer buddhistischen Klangschale, an der Koranauslegung eines Imam, an einem christlichen Gebet oder an einer hinduistischen Yogaübung vertieft das Verständnis dafür, was dem anderen Menschen wichtig ist, ohne dass man deswegen seinen Glauben teilen müsste. Respektvoll Gast zu sein im Glaubenshaus des anderen und andere in sein eigenes Inneres einzuladen, baut Grenzen ab und respektiert sie gleichzeitig. Auf der Grundlage dieses Respekts sind harte Anfragen möglich.

Kulturgrenzen zu respektieren oder zu verschieben ist kompliziert, denn Kultur ist das Geflecht von Sprache, Gewohnheiten, Kleidung, Nahrung, Religion, Weltanschauung, Tradition, Werten, Geschichte und gesellschaftlichen Strukturen, die Menschen teilen. Ein „Kulturabend" kann Vorurteile verstärken oder aber Grenzen aufbrechen. Dass an der Konferenz in Kenia das „Dinner im Busch" nicht mit afrikanischen Tänzen und Trommeln, sondern mit einer modernen Musikband stattfand, war für den afrikanischen Organisator eine wichtige Grenzverschiebung und Befreiung von traditionellen Klischees.

Finanzgrenzen sind trotz Ökonomisierung der Lebenswelten oft tabuisiert. Unter wohlhabenden Patrizierfamilien in der Schweiz wie wohl auch anderswo galt der Satz „Über Geld spricht man nicht, man hat es". Damit wird eine unsichtbare Grenze zwischen Wohlhabenden und weniger Begüterten gezogen. Wer spricht schon gern davon, dass er oder sie Schwierigkeiten hat, 50 Dollar für das Visum oder die Flughafentaxe zu bezahlen? Es war für manche Teilnehmende der Konferenz in Kenia zwar ungewohnt, aber eine Befreiung, dass auch über Geld gesprochen werden konnte.

Wertegrenzen betreffen die grundlegenden normativen Orientierungen von Menschen und Gesellschaften. Wertesysteme sind sichtbar in Haltungen und Handlungen, in politischen und ökonomischen Entscheidungen, in Strukturen des Zusammenlebens, in Kultur und Religion. Werte zu teilen - das geschieht in Begegnungen und Auseinandersetzungen, in Konflikten und gemeinsamen Handlungen. Auf der Konferenz waren drei Grundsätze für fruchtbare interkulturelle und interreligiöse Begegnungen besonders wichtig: „Im anderen nicht nur eine Identität, sondern seine verschiedenen Identitäten sehen", „Eine sichere, geschützte Zone für die Begegnung bieten" und „Ein Stück des Weges in den Schuhen des anderen gehen". Mit der Beachtung dieser Grundsätze werden Grenzen respektiert, verschoben und überwunden.

Christoph Stückelberger ist Direktor des internationalen Ethiknetzwerks Globethics.net in Genf (www.globethics.net) und Professor für Ethik an der Universität Basel.

erschienen in Ausgabe 3 / 2009: Südafrika: Neue Freiheit, alte Armut
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